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KAPITEL 3

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Die Sanitäter hatten die Leiche auf eine fahrbare Trage gelegt. Statt der roten Samtportiere hüllte jetzt ein weißes Leintuch Charlotte Paulus’ nackten Körper ein. Während der Arzt seine Instrumente zusammenpackte, murmelte er: »Mein herzliches Beileid«, unschlüssig, wen unter den Anwesenden er ansprechen sollte.

Lina Kröschke und ihr Kollege hatten Weinfurths Darstellerinnen und Darsteller inzwischen abgeschminkt und umgezogen. Einer nach dem anderen kam hinter dem Paravent oder aus dem Nebenraum zurück ins Atelier, doch keiner wagte es zu gehen, solange die Tote noch im Raum war. Ndeschio Temba kauerte, das Gesicht hinter den gekreuzten Armen verborgen, reglos am Boden, während die beiden Runtschen-Schwestern sich in den hintersten Winkel des Ateliers zurückgezogen hatten und mit vor Angst weit aufgerissenen Augen die Suche der Bühnenarbeiter nach der verschwundenen Schlange verfolgten. »Ich hab sie erwischt!«, verkündete einer von ihnen wenig später. Das Tier hing mit zerschmettertem Schädel schlaff über dem Feuerhaken in seiner Hand. Angewidert schleuderte er es Weinfurth vor die Füße. Der nahm den Verlust seiner Schlange ohne erkennbare Gemütsregung hin. »Selbst wenn sie zugebissen hätte«, murmelte er, »selbst wenn …«

Nachdem Auguste und Henrietta alle Anwesenden mit heißem Tee und einem kräftigen Schluck Weinbrand versorgt hatten, wurde es still im Atelier. Nur der übliche, gedämpft von der Friedrichstraße hinaufdringende Lärm war zu hören.

Schließlich räusperte sich der ältere der beiden Sanitäter vernehmlich und brach damit das Schweigen. »Na, denn … Adjee, die Herrschaften.« Er machte einen Diener, setzte seine Mütze wieder auf und wies seinen Kollegen an, die Bahre mit ihm zusammen zum Aufzug zu fahren.

»Langsam, langsam, meine Herren!« Dr. Goldstein hielt die beiden zurück. »Die Tote kommt bitte in die Hannoversche 6.«

Die Sanitäter warfen sich einen verunsicherten Blick zu. »In ’t Leichenkommissariat? Wieso ’n det?«

»Ich bin ja man nur ’n einfacher Medikaster«, Dr. Goldstein hob mit einem selbstironischen kleinen Lächeln die Hände, »und ’n Schlangenbiss kann’s ja wohl nicht gewesen sein, Herr …?«

»Weinfurth, Josef. Schausteller und Impresario«, antwortete Weinfurth mechanisch. Von seiner wichtigtuerischen Attitüde war so gut wie nichts mehr übrig geblieben. »Nee, wie jesagt, Herr Doktor: Selbst wenn se zujebissen hätte: Tut zwar weh, aber sonst wär’ da nichts passiert. Pythons sind keine Giftschlangen. Deshalb nimmt man se ja für Vorführungen und so weiter. Und außerdem würd isch doch niemals meine eijene Zugnummer …«

»Danke«, unterbrach ihn Goldstein. »Wenn es also kein Schlangenbiss war, was war es dann? Eine junge, offenbar gesunde Frau und ein tödlicher Herzanfall? Schwerlich vorstellbar. Außerdem: Bei einem Herzanfall gibt es meines Wissens keine Halluzinationen. Und die junge Frau hatte doch …«, angesichts der ratlosen Gesichter ringsumher stöhnte er leise auf und korrigierte sich hastig, »Sie hat doch irgendwas oder -wen gesehen, oder? Und wie die Fräuleins Runtschen mir erzählt haben, hatte sie offenbar Angst vor jemandem oder etwas. Obwohl da nichts war.« Dr. Goldsteins forschender Blick wanderte von einem zum anderen. Auguste und Henrietta nickten stumm, während die beiden Bühnenarbeiter mit den Achseln zuckten. »Kann sein.« – »Wat weeß denn unsereiner?«

Hanna Runtschen hatte den Arm beschützend um die Schultern ihrer kleinen Schwester gelegt. »Also, dass Charlotte irgendwie nich ganz da war …«, sie wischte demonstrativ mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, »… das war eindeutig. Als hätt’ se ’n Gespenst gesehen oder so was. Hat sogar mit dem gesprochen.«

»Halluzinationen.« Goldstein nickte. »Vermute ich zumindest. Und das könnte auf ’ne Vergiftung hindeuten. Und wenn’s die Schlange nicht war …«, er ließ den Rest des Satzes bewusst in der Luft hängen und musterte erneut jeden einzelnen der Anwesenden. »Hat die junge Frau hier irgendetwas zu sich genommen, womit man ihr eine tödliche Substanz verabreicht haben könnte?«

»Um Himmels willen, nein!« Auguste schnappte empört nach Luft: Das Szenario, das der Arzt da heraufbeschwor, war einfach ungeheuerlich! »Frau Preissing hat das Essen und sämtliche Getränke unten in der Pensionsküche von Dorchen – ich meine: von ihrer Kaltmamsell – zubereiten lassen und gleich anschließend im Fahrstuhl hier nach oben gebracht!« Luis nickte bestätigend. »Und wir haben alle zusammen das Gleiche gegessen und getrunken. Außerdem: Wer von uns hier sollte denn etwas gegen Fräulein Paulus …«

»Na, die hat auf alle Fälle Angst gehabt! Und sie hat was in Negersprache gesagt!« Lina Kröschke deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Ndeschio Temba. »Zu dem da!«

Der junge Afrikaner kauerte immer noch bewegungslos am Boden und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Interessant …« Dr. Goldsteins musterte Lina Kröschke mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und woher wollen Sie das wissen?«

»Was? Wieso? Hab’s doch selber gesehen und gehört!«

»Ich meine das mit der Negersprache.«

»Na jaaa«, Lina Kröschke schien unter Dr. Goldsteins forschendem Blick regelrecht zu schrumpfen. »Ich mein’ ja nur: Hörte sich irgendwie … komisch an. Jedenfalls hat der da …«, sie deutete erneut auf Ndeschio Temba, »… in genauso ’nem Kauderwelsch auf sie eingeredet.«

Temba reagierte nicht, so als habe er Lina Kröschkes Worte nicht gehört.

»Sehen Sie, ich kann mir auf das Ganze genauso wenig wie Sie irgendeinen Reim machen«, erklärte Dr. Goldstein, »und deshalb soll sich der Kollege Straßmann die Tote mal genauer ansehen.«

»Also dann: Hannoversche 6«, murmelte der ältere Sanitäter in die erneut einsetzende Stille hinein und gab dem Liftboy einen Wink.

»Könn’ wir jetzt geh’n?« Die beiden Runtschen-Schwestern traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Doch während die Bahre mit der Toten in den Aufzug geschoben wurde, schritt Dr. Goldstein in die Mitte des Raumes und breitete beide Arme aus; eine Geste, die alle Anwesenden einschloss. »Meine Damen und Herren, es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten zu bleiben. Bei zweifelhaften Todesumständen bin ich genötigt, die Polizei zu verständigen, und die möchte von Ihnen bestimmt Näheres über den Vorfall hier wissen. Wo gibt’s denn hier im Haus einen Telefonapparat?«

»Von Barnstedt.« Der Kriminalkommissar stellte sich mit geradezu militärischem Aplomb vor. Der Schmiss auf seiner linken Wange wies ihn als ehemaligen Burschenschaftler aus, und sein gesamtes Gebaren ließ darauf schließen, dass er die fünfundzwanzig Jahre Frieden, die das Deutsche Reich in diesem Jahr zu feiern hatte, bedeutend lieber hoch zu Ross auf irgendeinem Schlachtfeld zugebracht hätte. Aber vielleicht tat er auch nur so.

»Wilhelmi, Jakob.« Sein Assistent war gut einen Kopf größer als sein Vorgesetzter. Auguste schätzte ihn auf Ende zwanzig; wahrscheinlich war er gleich nach Beendigung des Militärdienstes zur Polizei gegangen. Jedenfalls musste er sich in seinen jungen Jahren bereits allerhand Verdienste erworben haben, denn so ohne Weiteres ließ man für den gehobenen Dienstweg keine Bürgerlichen zu: Der Adel blieb auch hier gern unter sich. Allerdings wurde gemunkelt, dass es nicht gerade die hellsten Köpfe der Aristokratie waren, die eine höhere Polizeilaufbahn antraten und dass dies auch nicht immer so ganz freiwillig geschah. Als wollte er das entsprechende Gerücht höchstpersönlich bestätigen, verwickelte von Barnstedt Henrietta – »Lady Droydon-Jones, geborene von Coesenitz« – umgehend in ein angeregtes Gespräch und überließ es seinem Assistenten, die Personalien der profaneren Zeuginnen und Zeugen aufzunehmen. Wilhelmi ging mit einer kleinen, in einer schweinsledernen Hülle steckenden Kladde von einem zum anderen und trug mit Kopierstift die Namen und Adressen ein.

Der Darsteller, der für den verstorbenen »Schauneger« eingesprungen war, hieß Aleeke Mambila, und Auguste konnte sich trotz des Ernstes der Situation ein Lächeln nicht verkneifen: Wieder in Zivil, gab er seine stoische Haremswächter-Attitüde auf und sprach, wie sie zu ihrer Überraschung feststellen konnte, sehr gut Deutsch. »Woher hätte ich denn wissen können, dass Herr Weinfurth bereits den Pagen vom Central-Hotel als Ersatz rekrutiert hatte?«

»Und Sie sind trotzdem geblieben?«

»Natürlich. Herr Weinfurth hatte schließlich nichts dagegen einzuwenden. Im Gegenteil.«

In einem von den beiden Polizeibeamten unbeachteten Moment sah Auguste, wie Ndeschio Temba und Hulda Preissing miteinander flüsterten. Obwohl das ausgesprochen unwahrscheinlich war, sah es aus, als ob die beiden sich von irgendwoher kannten. Schließlich ging Temba – wie zuvor seltsam abwesend wirkend – zurück zu seinem Platz. Hulda fing Augustes fragenden Blick auf und legte beschwörend den Finger auf den Mund, und obwohl Auguste dem strengen Regiment ihrer ehemaligen Kinderfrau längst entwachsen war, war Huldas Wunsch ihr nach wie vor Befehl.

Als Julius Fuchs mit der Befragung an die Reihe kam, verwies er den jungen Kriminalassistenten mit einer auffordernden Geste an seine Tochter. »Ich war seit heute früh unten im Laden und kann Ihnen von daher leider nicht weiterhelfen.«

Wilhelmi kam zu Auguste hinüber. »Ach! Sie haben also die fotografischen Aufnahmen gemacht, nicht Ihr Vater?«

»Ja, hab ich!«, versetzte Auguste schnippischer als beabsichtigt. Es war nicht das erste Mal, dass ein Vertreter des anderen Geschlechts davon ausging, dass Frauen für den Umgang mit technischen Geräten ungeeignet waren – es sei denn, es handelte sich um Godefroys dampfbetriebene Haartrockenhaube.

»Oh, Pardon!« Wilhelmi deutete ein entschuldigendes Kopfnicken an und lächelte. »Ich hab keine Sekunde an Ihren Fähigkeiten gezweifelt.«

Sieh mal einer an, dachte Auguste, der Kerl scheint Gedanken lesen zu können; für einen angehenden Kommissar ganz sicher ein willkommenes Talent.

»Es geht zunächst mal lediglich darum festzustellen, wer sich im entscheidenden Moment wo hier im Raum befand«, fuhr Wilhemi fort. »Ihr Herr Vater war, wie ich soeben erfahren habe, gar nicht hier, sondern unten im Parterre. Das heißt, Sie standen dann wohl hinter einem von den … Apparaten da.« Er deutete vage auf eine der wuchtigen, auf schwere, hölzerne Stative montierten Kameras, die Auguste, um Platz zu schaffen, an die Seitenwand des Ateliers geschoben hatte.

»Der ›Apparat da‹ ist eine Stereokamera!« Das klang kein bisschen freundlicher als zuvor, und Auguste rief sich erschrocken zur Ordnung. Der Herr Kriminalassistent war schließlich ausgesprochen höflich, und sie hatte keinerlei Anlass, derart patzig zu reagieren. »Sehen Sie, Herr Weinfurth arrangiert zunächst ganz nach seinen Wünschen ein Tableau, also: ein lebendes Bild«, begann sie, etwas milder gestimmt, zu erklären. »Dann mach ich davon mit unserer Görlitzer hier«, sie deutete auf eine blitzblanke, offenbar nagelneue Atelier-Kamera, »eine Aufnahme, die dann später in der Druckerei mittels Photochromverfahren farbig gedruckt und als Ansichtskarte verkauft wird. Danach geht es weiter mit der Stereokamera – die erkennen Sie an den zwei Objektiven –, und zum Schluss mach ich mit der Anschütz eine Reihe chronologischer Momentaufnahmen.«

»Ach?«

»Ja, für Herrn Weinfurths Mutoskope. Dank des Anschütz-Patents lässt sich nämlich der Schlitzverschluss für Belichtungszeiten bis zu einer tausendstel Sekunde verstellen. Großartig, oder?«

»Zweifellos.«

»Das heißt, damit kann man tatsächlich Bild für Bild ganze Bewegungsabläufe aufnehmen! Und die Einzelbilder werden dann später auf einen Zylinder montiert, der, wie gesagt, in ein Mutoskop eingesetzt wird. Und nach entsprechendem Geldeinwurf wird dann der Zylinder mit einer Handkurbel zum Rotieren gebracht.« Aus Wilhelmis Gesichtsausdruck war nicht zu schließen, ob er ihren Ausführungen folgen konnte, und Auguste schwang sich – einmal in Fahrt gebracht – zu näheren Erläuterungen auf. »Sehen Sie, das ist so: Durch eine lichtabschirmende Öffnung betrachtet – einfacher gesagt: durch ein Guckloch gesehen –, erzeugt das Mutoskop mittels der in schneller Abfolge aufgeblätterten Bilder die Illusion von Bewegung. Im Prinzip so ähnlich wie die laufenden Bilder, die die Brüder Skladanowsky mit ihrem Bioskop erzeugen. Nur benutzen die eine andere Technik.«

»Ich verstehe.« Um Jakob Wilhelmis Lippen spielte ein unergründliches Lächeln. »Und wo haben Sie sich also beim Eintritt des – ja offenbar länger andauernden – Todeskampfs aufgehalten?«

»Ähm …« Auguste wurde rot. Ihr belehrender kleiner Vortrag erwies sich nicht nur als vollkommen überflüssig; er wirkte wahrscheinlich sogar reichlich borniert. Reiß dich zusammen, wies sie sich innerlich zurecht, der Herr Kriminalassistent macht hier schließlich nichts weiter als seine Arbeit! »Also, ich hab hier gestanden«, sie deutete auf die Görlitzer, »und weil es sich um eine der Aufnahmen gehandelt hat, die später als Postkarte Verwendung finden sollen, hab ich das Blitzlicht hier benutzt. Kunstlicht eignet sich dafür deutlich besser als … ähm … Na ja, das tut ja nichts zur Sache.« Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, Wilhelmi mit einem weiteren Fachvortrag zu bombardieren. »Fräulein Paulus hat genau in dem Moment aufgeschrien, als ich das Blitzpulver gezündet habe, insofern hat wohl einen Sekundenbruchteil lang niemand etwas gesehen.«

»Bis auf die Görlitzer.«

»Wie bitte?«

»Na, Ihre Kamera. Oder haben Sie nur den Blitz ausgelöst, ohne eine Aufnahme zu machen?«

»Was?! Ich bin doch nicht meschugge!« Auguste schlug sich angesichts ihrer erneuten Patzigkeit erschrocken auf den Mund. Doch bevor sie sich für ihr undamenhaftes Verhalten entschuldigen konnte, zückte Jakob Wilhelmi seinen Kopierstift. »Wann könnte ich mir denn das entsprechende Bild mal ansehen? Das würde mich schon sehr interessieren.« Gar nicht so dumm, der Kerl, schoss es Auguste durch den Kopf. Gleichzeitig ärgerte es sie maßlos, nicht selber auf den Gedanken gekommen zu sein, dass sie auf diesem letzten Bild womöglich irgendetwas festgehalten hatte, das für den Mordfall – wenn es denn ein Mordfall war – von Belang sein könnte.

»Gustchen?« Tante Hattie kam, den offensichtlich schwer von ihr beeindruckten von Barnstedt im Schlepptau, zu ihnen hinüber und unterbrach Augustes Überlegungen. »Der Herr Kommissar möchte wissen, ob jemand Fräulein Paulus gegen Ende der Pause vielleicht Tee oder Limonade nachgeschenkt hat. Hast du da irgendetwas oder irgendwen …?«

»Nö«, Auguste blies die Backen auf und zuckte mit den Achseln, »und außerdem: Das könnte wirklich jede und jeder gewesen sein bei dem Gewusel hier.«

»Ach ja? Und was ist mit den Negern?«, wandte von Barnstedt ein. »Die dürften ja bei allem … Gewusel … deutlich von den anderen zu unterscheiden gewesen sein!«

»Ja, und? Was soll mit denen sein?«

»Es heißt, die hätten sich Fräulein Paulus gegenüber … auffällig verhalten.«

»Was meinen Sie denn mit ›auffällig‹?«

»Fräulein Kröschke hat gesehen, dass die Verstorbene einen von denen laut schreiend geschlagen hat, als er sie angefasst hat, und sie soll …«

»Wie bitte?«, unterbrach ihn Henrietta empört, »Herr Temba hat versucht, Fräulein Paulus zu helfen! Und sie hat auch nicht nach ihm geschlagen, sondern eindeutig halluziniert und versucht, irgendetwas – oder irgendjemand Unsichtbaren – abzuwehren.«

»Mit Unsichtbarem befassen wir uns hier aber leider nicht, gnädige Frau«, von Barnstedt unterstrich seinen offenbar als Wiedergutmachung gemeinten Einwand mit einem angedeuteten Handkuss. »Wir müssen uns schon an die Tatsachen halten.«

»Schön. Dann tun Sie das«, versetzte Henrietta ungnädig und wandte sich zum Gehen. »Und eine der Tatsachen ist, dass diese Lina Kröschke sich da was zusammenreimt, das so nicht stattgefunden hat!«, setzte sie, für jeden im Raum deutlich hörbar, hinzu.

Von Barnstedt war sichtlich düpiert. »Noch ist ja überhaupt nicht geklärt, ob es sich tatsächlich um einen Tötungsversuch gehandelt hat«, brummte er in seinen Bart und wies seinen Assistenten mit einer Kopfbewegung an zu gehen. »Wenn Sie alles so weit aufgenommen haben …?«

Jakob Wilhelmi nickte und steckte Kladde und Kopierstift ein, oder besser: Er tat so, als wolle er beides in seiner Jackentasche verstauen. Dabei stellte er sich bewusst so ungeschickt an, dass die Kladde zu Boden fiel.

Reflexartig bückte sich Auguste, um das Büchlein aufzuheben, und landete Stirn an Stirn mit dem jungen Herrn Assistenten.

»Schaffen Sie es, bis heut’ Abend das Bild zu entwickeln?«, wisperte er verschwörerisch.

In der Charité schob der Medizinstudent Reginald Wündrich die Bahre mit der Toten, die die Sanitäter vor gut einer Stunde ins Institut für Gerichtsmedizin gebracht hatten, in den Sektionsraum. Gemeinsam mit dem Obduktionsgehilfen bettete er den Leichnam auf den Seziertisch und wartete auf seinen Herrn und Meister. Dass der Herr Direktor persönlich die Autopsie vornehmen würde, war, wie es hieß, auf die ungewöhnlichen Todesumstände zurückzuführen. Darüber hinaus hatte die Tatsache, dass es sich bei dem zuständigen Staatsanwalt um einen ehemaligen Burschenschaftskollegen der »Normannia Leipzig« handelte, die Angelegenheit erheblich beschleunigt.

Reginald Wündrich seufzte. Ihm blieben die Türen solch illustrer Studentenverbindungen unweigerlich verschlossen. Sein Honorar in der Gerichtsmedizin war seine einzige Einkommensquelle, denn niemand in seiner Familie verfügte über Adelstitel, Landbesitz oder militärische Orden und Ehrenzeichen. Aber er war ein findiger Kerl und hatte sich die Roller’sche Kurzschrift angeeignet, die es dem obduzierenden Arzt erlaubte, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen im Plauderton – sozusagen »ins Unreine« – von sich zu geben, während er mit Knochensäge, Skalpell und Rippenschere hantierte. Und so griff Reginald Wündrich eilfertig zu Papier und Bleistift, als Professor Straßmann den Raum betrat.

»Äußere Leichenschau an Charlotte Paulus, Georgenkirchplatz 8, Berlin C 2, geboren am 12. November 1871 in Paderborn«, vermeldete der Obduktionsgehilfe im Kasernenhofton, und Straßmann beugte sich über die Tote. »Gesunde, gut genährte junge Frau«, er hob Arme und Beine an und begutachtete Rücken und Hinterkopf, »keine Narben, keine auffälligen körperlichen Merkmale. Leichte bis mittelschwere Abrasionen und Lazerationen an allen vier Extremitäten.« Als sein Assistent die Tote wieder in Rückenlage gebracht hatte, hielt Straßmann einen Moment inne. »Schade um das schöne Mädchen«, murmelte er. Dann setzte er das Skalpell an.

Während der Direktor des Gerichtsmedizinischen Instituts die innere Leichenschau vornahm, entwickelte Auguste die letzte Platte und hatte kurz darauf die bewusste Fotografie vor sich liegen. Die restlichen Aufnahmen konnten warten: Juppi Weinfurth verfügte zu Augustes Verwunderung tatsächlich über genügend Feingefühl, die Bilder zunächst nicht in Umlauf zu bringen. Aber womöglich spekulierte er auch nur auf einen gewissen Gruseleffekt für den Fall, dass die Mordtheorie sich als zutreffend erweisen würde.

Auguste griff nach der Lupe und schob die Kontorlampe ein wenig dichter heran, um auch nicht das kleinste Detail zu übersehen. Doch bevor sie das Bild näher in Augenschein nehmen konnte, klopfte es vorne an der Ladentür. »Wir haben zu!«, rief sie durch die offen stehende Werkstatttür, »können Sie nicht lesen?« Selbstverständlich hatte Julius Fuchs den Laden für den Rest des Tages geschlossen, und das entsprechende Schild war eigentlich nicht zu übersehen.

»Doch. Lesen kann ich. Nur reinkommen kann ich nicht, wenn Sie mir nicht aufmachen.«

Ärgerlich sprang Auguste auf und lief hinüber in den Verkaufsraum. »So dringend kann’s ja nu nicht sein, dass es nicht bis morgen warten … Hoppla!«

Vor der Tür stand der junge Herr Kriminalassistent – deutlich früher, als sie erwartet hatte. »Verzeihen Sie, Fräulein Fuchs, aber man hat mich von Amts wegen für heute Abend zu einer etwas zeitaufwendigeren Angelegenheit abkommandiert, und deshalb dacht’ ich, ich guck schon vorher mal vorbei und frage nach, ob Sie vielleicht schon mit dem Entwickeln der Aufnahme fertig sind.«

»Ja, bin ich. In dieser Sekunde! Kommen Sie rein!« Aus unerfindlichen Gründen war es Auguste ganz recht, dass Jakob Wilhelmi sie – von allen ungesehen – hier unten im Laden aufsuchte. Es gab zwar keinen Grund, sein Kommen vor ihrem Vater und Tante Hattie oder vor Hulda Preissing und dem Liftboy Luis zu verheimlichen, aber so ein bisschen Geheimniskrämerei hatte durchaus etwas Prickelndes; insbesondere angesichts der Tatsache, dass es sich zweifelsohne nicht gehörte, sich als unverheiratete junge Frau mit einem offenbar ebenfalls unverheirateten jungen Mann in einer von jedwedem Tageslicht – und jedweden Blicken Dritter – abgeschirmten Werkstatt zu treffen. Dass Wilhelmi keinen Trauring trug, hatte sie bereits am Nachmittag festgestellt. Aber spielte das bei einem rein beruflichen Stelldichein wie diesem etwa irgendeine Rolle? Nicht mal im entferntesten Sinne! Und so schob Auguste ihrem Besucher wie selbstverständlich den Arbeitsschemel ihres Vaters zurecht und nahm neben ihm Platz, so dicht, dass sich ihre Arme beinahe berührten. Jakob Wilhelmis Haar roch angenehm nach Makassar-Öl und sein Jackett nach nasser Wolle. So nah war Auguste bisher nur ihrem Vetter Gustav aus Breslau gekommen. Der umarmte sie für ihren Geschmack ein wenig allzu oft und innig, und er roch im Unterschied zu Wilhelmi nach abgestandenem Zigarrenrauch.

»Eine, wie mir scheint, kerngesunde Person …«

Ups! Redet der etwa von mir? Auguste war so in Gedanken versunken, dass sie regelrecht zusammenschrak, als Wilhelmi zu sprechen begann. Der junge Herr Kriminalassistent betrachtete eingehend die in der Bewegung festgehaltene, halb nackte Gestalt in der Mitte des Bildes. »Dass Fräulein Paulus einem Herzanfall zum Opfer gefallen ist, scheint mir doch mehr als unwahrscheinlich.«

»Das hat Doktor Goldstein auch gesagt. Außerdem hatte sie diese schrecklichen Wahnvorstellungen. Als habe es einen oder mehrere unsichtbare Angreifer gegeben.«

»Ich hatte insgeheim gehofft, dass Sie die unsichtbaren Angreifer eingefangen haben.«

»Ähm … was?«

»Mit Ihrer Kamera!«

»Wie bitte?!« Allein der Gedanke brachte Auguste in Rage. »So ein Mumpitz! Diese sogenannten Geisterfotografen benutzen doch, wie jeder weiß, ganz einfach präparierte Platten. Da werden vorher Tante Käthe oder Onkel Kurt mit vorgehängter Tüllgardine aufbelichtet! Und was man dann so halb durchsichtig auf den fertigen Bildern sieht, sind keine Geister, sondern Schmu und reine Augenwischerei!«

Wilhelmi grinste, und Auguste hätte sich am liebsten geohrfeigt. »Sie nehmen mich auf den Arm.«

»Ist das so offensichtlich?«

»Jetzt nehmen Sie mich schon wieder auf den Arm!«

»Gut, ich hör sofort auf damit!« Schlagartig wurde Wilhelmi ernst und griff zu Julius Fuchs’ Lupe.

Auguste war sich nicht sicher, ob ihr der todernste Kriminalassistent besser gefiel, aber schließlich handelte es sich bei ihrem geheimen Treffen nicht um ein romantisches Tête-à-Tête. Sie rief sich innerlich energisch zur Ordnung und rückte noch ein wenig näher an Wilhelmi heran, um das Bild mit ihm gemeinsam durch die Lupe zu betrachten: Im Vordergrund kniete Ndeschio Temba, mit dem Rücken zur Kamera, vor dem geöffneten Schlangenkorb, aus dem sich die Python bereits etwa eine Ellenlänge weit erhoben hatte. Im Hintergrund saßen die beiden als Haremssklavinnen kostümierten Runtschen-Schwestern auf ihren Seidenkissen, und in der Bildmitte stand Charlotte Paulus. Ihre Gestalt war unscharf zu erkennen – wie verwischt –, da Charlotte sich während der Belichtungszeit heftig bewegt hatte. Ihr Blick – von Weinfurth eigentlich so inszeniert, als sei er ängstlich auf die Schlange gerichtet – war eindeutig nach hinten gewandt, auf etwas, das sich offenbar an oder knapp neben der rechten Bildkante befand.

»Wer auch immer da stand: Die oder der ist auf der Aufnahme leider nicht zu sehen.« Enttäuscht ließ Wilhelmi die Lupe sinken.

»Da stand niemand, das weiß ich genau.« Auguste schaute sich die entsprechende Stelle noch einmal Millimeter für Millimeter durch das Vergrößerungsglas an.

»Tja.« Wilhelmi stand auf. »Dann hatten wohl bei Fräulein Paulus schon zu diesem Zeitpunkt Wahnvorstellungen eingesetzt, und sie hat da was gesehen, das für die Augen aller anderen – und für Ihre Kamera – unsichtbar war.«

»Nein! Augenblick noch!« Auguste zog ihren Mitverschwörer unsanft zurück auf seinen Platz. »Gucken Sie mal! Da!« Sie drückte Wilhelmi die Lupe in die Hand, »Da, zwischen den Drapieren!«

»Wo?«

»Den, den, den …«, Auguste fuchtelte enerviert in der Luft herum und suchte nach einem Ersatz für den offenbar für Männerohren unbekannten Begriff, »… den Stoffbahnen, die von oben runterhängen!«

»Ich weiß, was Drapieren sind, nur seh ich da niemanden.«

»Das hab ich ja auch nicht behauptet! Ich meine das da!« Sie deutete auf einen Gegenstand, der zwischen den Samtvorhängen hervorlugte. »Ein Stab oder Stock.«

»Kann das nicht einfach irgendein Dekorationsteil sein, das dahinter stand und umgefallen ist? Vielleicht hat das ja Fräulein Paulus erschreckt.«

Auguste zögerte und rief sich die ganze Situation noch einmal minutiös ins Gedächtnis zurück. »Nö. Hinter den Vorhängen war nichts. Nur der normale Hintergrundprospekt. Wozu auch? Man sieht ja immer nur den jeweiligen Bildausschnitt. Da muss man außerhalb der Szenerie nichts verstecken.«

»Hm. Sieht aus wie ein Stab oder Stock, da haben Sie recht. Könnte theoretisch auch ein Gewehrlauf sein, aber Fräulein Paulus ist nun mal weder erschlagen noch erschossen worden.«

»Stimmt.« Auguste seufzte und ließ die Schultern hängen. »Das Foto hilft also niemandem weiter.«

»Das hab ich nicht damit gemeint, Fräulein Fuchs. Im Gegenteil. Sie haben doch gesagt, dass Charlotte Paulus in dem Augenblick, in dem Sie das Blitzpulver entzündet haben, aufgeschrien hat.«

»Richtig.«

»Und das hier«, Wilhelmi tippte nachdrücklich auf das Foto, »das hier beweist, dass irgendetwas ihr einen Schrecken eingejagt haben muss. Sonst hätte sie für die fotografische Aufnahme doch still gehalten. Oder nicht?«

Auguste nickte. »Sie war geradezu mustergültig diszipliniert.«

»Jetzt überlegen Sie mal: Wenn ihr jemand in der Limonade oder dem Tee, den Frau Preissing hochgebracht hatte, Gift eingeflößt hätte: Hätte sie dann nicht eher allmählich darauf reagiert? Mit Übelkeit oder Benommenheit oder was weiß ich?«

»Ich weiß das noch weniger als Sie, Herr Kriminalassistent, und ich kann mir genauso wenig wie Sie einen Reim auf das Ganze machen.« Das klang schon wieder schnippisch, und Auguste fragte sich, warum um alles in der Welt dieser Kerl sie mit den harmlosesten Bemerkungen derart zu Widerspruch reizen konnte.

»Fest steht, dass weder Hanna Runtschen noch ihre Schwester auf das, was da am Bildrand vor sich ging, in irgendeiner Weise reagiert haben. Und auch Herr Temba sitzt ja offensichtlich ruhig da.«

»Und das bedeutet …?«

»Das heißt, dass scheinbar nur Charlotte Paulus sich erschreckt hat, und das ist seltsam, oder?«

»Ja, wenn Sie meinen …« Auguste wusste nicht so recht, inwieweit dieser Umstand von Belang war, doch noch bevor sie nachfragen konnte, stand Wilhelmi auf. »Dürfte ich das Bild wohl mitnehmen?«

Auguste nickte. Als Wilhelmi in die Jackentasche griff und sein Portemonnaie hervorzog, winkte sie entschieden ab. »Behalten Sie’s. Herr Weinfurth wird die Aufnahme sowieso nicht verwenden können.«

Auf dem Weg zurück zur Ladentür wurde Wilhelmi schlagartig wieder förmlich. »Dann bedanke ich mich hiermit bei Ihnen und Ihrem Herrn Vater für Ihre Hilfe.« Er war bereits im Begriff, seinen Hut wieder aufzusetzen, als Auguste ihn zurückhielt. »Sie könnten mir doch im Tausch gegen das Foto erzählen, was das für eine Mission ist, auf die Sie Ihr Vorgesetzter heute Abend noch geschickt hat.« Erschrocken stellte sie fest, dass sie bei ihrer Frage den Kopf kokett zur Seite geneigt hatte. Das war in keiner Weise besser als ihre Patzigkeiten; das war einfach unmöglich! Nur: Daran war im Nachhinein nichts mehr zu ändern

Wilhelmi holte tief Luft, als wollte er etwas Bedeutungsvolles sagen, doch dann überlegte er es sich zu Augustes Bedauern wieder. »Glauben Sie mir, Fräulein Fuchs, das möchten Sie nun wirklich nicht genauer wissen.« Dann setzte er seinen Hut auf, sagte »Adieu« und verschwand im abendlichen Getümmel der Friedrichstraße.

Im Gerichtsmedizinischen Institut trug Reginald Wündrich die Ergebnisse der inneren Leichenschau in das dafür vorgesehene Formblatt ein.

Todesursache:

Herzstillstand bei systolischer Kontraktion.

Befund spricht für die Anwesenheit von Digitalis- oder Strophanthinkörpern. Schürf- und Risswunden an den Extremitäten belegen zudem den von Kollege Dr. Goldstein geschilderten, für die Einwirkung von hochdosiertem Strophanthin charakteristischen Todeskampf mit Erregung, Angstzuständen, Halluzinationen und starker Konvulsion.

Wieder was dazugelernt, stellte Reginald Wündrich zufrieden fest. Wenn keinerlei Schäden am Herzmuskelgewebe festgestellt werden können und das Herz nicht etwa wie normalerweise in der Diastole stehen geblieben ist, kann also, wie Professor Straßmann es ausgedrückt hat: »… von einer äußeren Einwirkung auf das Organ durch Zufügen eines hochdosierten, lokal wirksamen Giftes ausgegangen werden.« In die nächste Zeile gehörte demzufolge:

Tod durch Fremdverschulden.

Reginald Wündrich nahm sich vor, bei der nächsten Vorlesung ein bisschen mit seinem neu erworbenen Wissen herumzuprotzen. Die bornierten Von-und-Zus unter den Kommilitonen hatten es jedenfalls nicht besser verdient. Er gähnte, streckte die Beine unter dem Tisch aus und ließ die Knöchel in seiner Schreibhand knacken. Beinahe hätte er den letzten Eintrag vergessen:

Besonderheiten:

Schwangerschaft, etwa Beginn des zweiten Trimesters

Der Tod der Schlangenfrau

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