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Mauerfall

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Ich erinnere mich an die Zeit des Mauerfalls, als wäre es gestern gewesen. Dieses Ereignis war mit so vielen Emotionen besetzt, und jede Generation hat andere Erinnerungen daran. Ich war damals sechsundzwanzig Jahre alt, war in der DDR groß geworden und hatte an der Humboldt-Universität ein Sprachmittlerstudium für Englisch und Spanisch abgeschlossen. Ich hatte mit der Illusion gelebt, irgendwann nicht nur nach Prag reisen zu können, sondern auch nach Paris oder nach Spanien, oder in das Land meines Ex-Mannes, nach Peru. Felipe und ich heirateten wohl auch deshalb, denn ohne die Eheurkunde hätte ich keinen Pass bekommen.

Bei seiner Ansprache auf der Hochzeitsfeier redete der Brautvater auch ein wenig über den Sozialismus, was ihm aber peinlich war.

Wir hatten im Mai 1989 geheiratet und waren ab September auf unserer zweimonatigen Hochzeitsreise durch Westeuropa. Wir reisten mit einem riesigen Wanderrucksack, einer selbstgenähten Reisetasche und 2.000 DM. Außerdem beförderten wir Salami, Käse, Kaffee, Zigaretten und eine Menge Kondome, ich wollte nicht schwanger werden. In Berlin hatten wir noch extra Französisch gelernt und konnten uns in Paris gut verständigen, in der Stadt der Liebe, die vielleicht noch ein wenig schöner ist, als Berlin.

Nachdem der DDR-Zollkontrolleur sehr laut geworden war, und wir die „Zonengrenze“ passiert hatten, waren alle Leute im Abteil happy. Gleich auf dem ersten Bahnhof in Westdeutschland sahen wir einen Türken, der auf dem Bahnsteig Getränke verkaufte und ich fragte mich, ob vielleicht doch stimmte, was die DDR-Propaganda über die Ausbeutung der ausländischen Arbeitskräfte im Westen verbreitet hatte. Von den ersten Wohnhäusern die wir erblickten, sie waren hellgrün getüncht und sahen sehr ordentlich aus, waren wir beeindruckt. Es war alles schöner und moderner als in der DDR, mir gingen die Augen über. In meinen Träumen vor der Reise bewegte ich mich immer auf Bahnhöfen und vor Geschäften mit gläsernen Wänden, hinter denen Kleider und Souvenirs angeboten wurden. In meinen Träumen war ich aber auch Teil der anderen Welt. Es gab die erste Welt, die zweite Welt und die dritte Welt. Nachdem wir in Duisburg, Köln, Löwen, Paris, Barcelona und Zaragoza vieles gesehen und erlebt hatten, wussten wir eindeutig, dass die erste Welt der zweiten Welt überlegen ist. Als wir in Madrid ankamen, übernachteten wir bei einer Tante meines Mannes. Dort bekamen wir einen Brief von meinen Eltern. Sie waren der Auffassung, dass die Grenzen der DDR geschlossen werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits viele junge Menschen aus der DDR über die CSSR und Ungarn nach Österreich und in die Bundesrepublik geflohen. Obwohl wir die Enge der DDR kannten, uns oppositionell und beobachtet fühlten, kamen wir ohne einen Pfennig nach Berlin zurück. Ich war, trotz der vielen Kondome, doch schwanger geworden.

Genau am Tag des Mauerfalls stiegen wir in Berlin aus dem Zug. Irgendetwas hing in der Luft, ich hatte ein seltsames Gefühl. Wir gingen zur Bushaltestelle des Hundertsiebenundfünfziger, warteten und warteten, kein Bus kam. Ich hatte den Eindruck, vielleicht auch ein Trugbild der Erinnerung, dass es sehr hell war, viel heller, als ich Ostberlin kannte. Irgendwann kam dann doch ein Bus und während der Fahrt erzählte uns ein junger Funktionär, wir identifizierten ihn als solchen aufgrund seines Anoraks, dass die Mauer offen sei. So könne man das doch nicht machen, meinte er. Der Bus fuhr eine andere Strecke als gewohnt, über die Heinrich-Heine-Straße, wo es einen Grenzübergang gab und viele Menschen im nächtlichen Taumel nach Westberlin wandelten. In meinen Augen war es eine Befreiung für die gesamte Stadt. Als wir in unserer Hinterhauswohnung im Prenzlauer Berg ankamen, fand ich es schön, zurück in unserer kleinen Oase zu sein. Ich wünschte damals, dass die beiden deutschen Staaten auf dem Verhandlungsweg ein geeintes Deutschland gründen würden, mit einer neuen Verfassung, und möglicherweise ein neutrales Land sein könnten.

Patchwork – Leben mit einer psychischen Krankheit

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