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1. Der Virologe
ОглавлениеBisher ging er ganz normal ins Institut, forschte, dokumentierte seine Forschungen, ging wieder nach Hause. Kein Mensch interessierte sich für seine Arbeit. Sogar seine Ehefrau tat nur so, als ob… Machte ihm dieses allgemeine und private Desinteresse etwas aus? Bodo Spitzer (Name geändert. Datenschutz!) zuckte mit den Achseln. Eigentlich nicht. Seine Forschungsarbeit war wichtig, das wusste er, und dieses sein Wissen reichte ihm durchaus. Alles wäre so weitergegangen wie bisher, wenn nicht…
Wenn nicht ein Virus entweder von einem chinesischen Tiermarkt, aus einem chinesischen Labor oder sonstwoher entwichen wäre. Seitdem war es vorbei mit Bodos unbeachteten und doch so wichtigen Forschungsarbeiten im Untergrund.
Der Gesundheitsminister rief bei ihm an. Ob er, der berühmte Virologe Bodo Spitzer, vielleicht etwas zu dem bisher unbekannten Virus sagen könnte. Sagen, wem?, überlegte Bodo. Dem Gesundheitsminister? Natürlich, wem sonst. Und was sollte er dem sagen? Vielleicht, dass es gefährlich war, das Virus.
Der Gesundheitsminister war enttäuscht. Das wusste er schon. Bodo straffte sich. Und dann sagte er dem Gesundheitsminister ganz viel über das Virus an sich, über die Folgen, wenn das Virus sich ungehindert ausbreiten würde, und so weiter. Der Gesundheitsminister hatte zwar nicht alles verstanden, war aber dennoch begeistert. Ein Fachmann hatte gesprochen. Und was ein Fachmann zu sagen hatte, war plötzlich – ganz anders wie vor dem Auftauchen des Virus- die unabänderliche Wahrheit. Die nun so schnell wie möglich unter das Volk zu bringen war. Damit das Volk alle Maßnahmen der Regierung, die sich gegen die Ausbreitung des Virus richteten, frag- und klaglos hinnehmen würde. Weil diese Maßnahmen nicht gerade sehr populär waren. Immerhin wurden die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger erheblich beschnitten. Also war man heilfroh, dass der Virologe Bodo Spitzer das Volk aufklärte. Er trat im Fernsehen auf, sprach mit besorgter Miene und noch besorgterer Stimme über das Virus, zählte die Toten auf, die es bald zu beklagen gäbe, wenn sich nicht jede und jeder… wir wissen schon. Das Volk war beeindruckt. Es hing an den Lippen von Bodo Spitzer, lauschte ehrfürchtig, wenn er in allen Fernsehnachrichten, in sämtlichen Talk-Shows, sein Wissen preisgab. Doch was war das? Glaubte man ihm, den vorher unbekannten, jetzt hochberühmten Virologen etwa nicht mehr? Irgendwann machte ihm ein anderer Virologe den Platz im Fernsehen streitig. War in den Fernsehnachrichten neben dem Gesundheitsminister und sogar einmal neben der Kanzlerin zu sehen, wurde in die Talk-Shows eingeladen, in denen man vor einer Woche Bodos Weisheiten aufgesaugt hatte. Vorbei die Zeit des einzigen Virologen? Jawohl. Vorbei. Jetzt hing man an den Lippen des zweiten Virologen. Und bald war es ein dritter Virologe, ein vierter, ein fünfter. Nein, der fünfte war eine Frau, eine Virologin. Der sechste war wieder ein Mann. Ebenso der siebente, achte und … Wo kamen sie alle her, diese Männer und diese eine Frau? Die – oh Wunder- wie Pilze aus dem Boden schossen.
Da diese Frage ungeklärt blieb, fragte ein Mensch in einer Talk-Show, ob es etwa schon mehr Virologen als vom Virus Infizierte geben würde. Wie bitte? Unerhört! Machte dieser Mensch etwa Scherze mitten in dieser fürchterlichen Krise, die den Erdball umspannte? Er wurde in keine Talk-Show mehr eingeladen, dieser Mensch. Wie konnte er es wagen, sich über die derzeit wichtigsten Männer und eine Frau lustig zu machen? Denn nichts anderes, argwöhnte man in höchsten Kreisen, hatte dieser Mensch doch im Sinn gehabt.
Nein, wer die Wissenschaftler nicht ernst nahm, nahm auch die Regierung nicht ernst, so folgerte die Regierung. Dass sie, die Regierung, vor Corona-Zeiten zum Beispiel Klima- Wissenschaftler auch nicht so richtig ernst genommen hatte, (sonst hätten die verschiedenen Klimagipfel andere Ergebnisse erbracht) sollte möglichst schnell vergessen werden. Das war jetzt nicht mehr wichtig. Jetzt war einzig und allein wichtig, den Virologen und der einen Virologin alle Entscheidungen zu überlassen, die Regierungen in Krisenzeiten so treffen müssen. Nichts- so die Begründung für dieses doch etwas seltsam anmutende Verhalten der Regierung- nichts konnte falsch sein, was gelehrte Männer und eine Frau behaupteten, die Jahre, nein Jahrzehnte, unbeachtet vor sich hin geforscht hatten. Endlich wurde ihre Arbeit einmal belohnt. Nicht unbedingt mit Geld. Aber, was wertvoller war als Geld, mit dem Vertrauen der Regierung. Wobei das Vertrauen so weit ging, dass die Regierung einen Schritt zurücktrat, um den Virologen ihren Platz zu überlassen.
Die Virologen, so erfuhr das Volk, waren verantwortlich. Vor allem für die Maßnahmen, die manchen aus dem Volk nicht passten. Muckte jemand auf, zeigte mit dem Stinkefinger auf die Regierung, blieb man als Regierung gelassen. Oh nein, die Regierung war nicht Schuld, an gar nichts. Das waren die Virologen. Und die hatten Recht. Oder wollte etwa jemand schlauer sein als die? Nein? Na also! Dann Maul halten und mitmachen! Dass einige der Virologen Morddrohungen bekamen, weil ein paar Ignoranten die verordneten Maßnahmen nicht passten, musste in Kauf genommen werden. Und was passiert, fragte jener Mensch, den niemand mehr in Talk-Shows einladen wollte, was passiert denn nun eigentlich mit den Virologen und der einen Virologin nach der Corona-Krise? Oh man! Was da alles so gefragt wird. Was soll schon mit denen passieren? Die einen werden sich umbringen, weil sie keine Lust mehr auf ihre unbeachtete Forschungsarbeit im Untergrund haben. Und weil sie einfach zu gern weiter regiert hätten. Die anderen werden sich in fremden Ländern verkriechen, wo niemand sie kennt und ihnen Morddrohungen schickt. Und weil sie im Ausland viel mehr Geld verdienen als in ihrer Heimat. Ja, und die meisten, Gott sei es gedankt, werden in ihre Labore zurückkehren und weiter forschen. Woran? Nun, vielleicht an einem neuen Virus, das irgendwann irgendwo entwischt und die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Und wenn dieses Virus dann endlich auf der Erde gesichtet wird, werden sie wieder aus ihren Laboren in die Fernseher und Talk-Shows strömen, Bodo Spitzer und die anderen Virologen. Natürlich nur, sofern der Gesundheitsminister und der Rest der Regierung sie wieder rufen. Was zu erwarten ist. „Wenn man es nur versucht, so geht’s, das heißt mitunter, doch nicht stets“, sagte neulich der Mensch, der nicht mehr in Talk-Shows eingeladen wird. Da dieser Satz von Wilhelm Busch stammt, also aus einer längst vergangenen Zeit, hatte weder ein Virologe noch ein Regierungsmitglied etwas dagegen einzuwenden.