Читать книгу Das Vermächtnis des Kupferdrachens - Ulrike Schweikert - Страница 7
Die Silberberge
ОглавлениеRolana, die junge Priesterin des Mondordens, erhob sich, und ihr Blick wanderte über die zahlreichen Augenpaare, die sie erwartungsvoll ansahen. Hoch aufgerichtet stand sie da. Die langen, schwarzen Locken hatte sie zu einem strengen Knoten geschlungen, die braunen Augen lagen tiefer als sonst in ihrem blassen Gesicht.
Auf ihre Bitte hin hatten sich die Freunde nach dem Abendessen im Kaminzimmer von Burg Theron versammelt und warteten nun darauf, was Rolana ihnen zu sagen hatte. Die Spannung, die in der Luft lag, und die ernste Miene der Priesterin machten deutlich, dass es sich um etwas sehr Wichtiges handeln musste.
»Was bedrückt dich so sehr? Nur Mut, wir sind doch Freunde!« Der Magier Lahryn beugte seine hagere Gestalt im Sessel vor und strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Besorgnis war deutlich in seiner Miene zu lesen.
»Ja, schieß los!« Ibis kickte ihre Stiefel in die Ecke, sprang in einen Sessel und streckte wohlig seufzend die Füße näher zum Feuer. Ihre tiefgrünen Elbenaugen schimmerten, und ihre spitzen Ohren ragten zwischen den Haarsträhnen hervor, die sie im Nacken zusammengebunden hatte. Die zierliche Gestalt, die einen Kopf kleiner war als die Priesterin des Mondordens, verschwand fast im samtbezogenen Ohrensessel.
Rolana sah zu Cay hinüber, der am Kamin lehnte und dessen unsteter Blick dem ihren auswich. Er wirkte an diesem Abend wie ein zu großer, schüchterner Junge, der nicht wusste, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Wo war der Schwertkämpfer geblieben, der selbstbewusst gegen Monster und Piraten gekämpft hatte?
Sie hatte ihn verletzt. Er wusste nicht mehr, was er von ihren wechselnden Launen halten sollte. Wie auch? Sie kam ja selbst nicht mit ihren widerstreitenden Gedanken klar. Wie sollten sie dann ihre Freunde verstehen?
Ihr Blick huschte über Thunin, den Zwerg, den Eiben Seradir und den Magier Vlaros zu Lamina, der jungen Gräfin von Theron, unter deren Dach die Freunde seit Wochen wohnten.
Rolana räusperte sich. Wie sollte sie beginnen? Würden die anderen sie für verrückt halten, wenn sie ihnen so einfach verkündete, der kupferne Drache Peramina habe zu ihr gesprochen und ihr gesagt, sie müsse aufbrechen, um die Welt zu retten? Selbst in ihren eigenen Ohren klang das albern.
»Rolana«, hörte sie plötzlich die Stimme des Drachen in sich. »Du darfst nicht zweifeln! Du brauchst deine Kraft für wichtigere Aufgaben.«
Sie hatte den Eindruck, Peramina sei ganz nah. Ihre Macht gab ihr Ruhe. Rolanas tiefe Stimme erfüllte den Raum. Gebannt hingen die Freunde an ihren Lippen, als sie von den Träumen erzählte und von der Nacht, als der Drache mit ihr Kontakt aufgenommen hatte. Sie sprach von den Visionen, die Peramina ihr gezeigt hatte, und von den Schreckensbildern, die wahr würden, wenn sie nichts unternähme.
Ihre letzten Worte verklangen, und die Freunde hatten das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen, so greifbar schwebten die Visionen durch den friedlichen Raum. Fröstelnd rückte Lamina von Theron näher zum Feuer, dessen leises Knistern die unheimliche Stille durchdrang.
»Und deshalb bin ich fest entschlossen, auf die Suche nach Peramina, dem kupfernen Drachen, zu gehen, um die Aufgabe zu erfüllen, die sie mir zugedacht hat. Da das Labyrinth unter Burg Theron eingestürzt ist, muss ich zur Westseite der Silberberge reisen und den Weg suchen, den Lahryn bei seiner Flucht von der Burg gefunden hat. Deshalb bitte ich dich, Lahryn, dass du mir den Weg genau beschreibst.« Sie sah den alten Magier an und ließ ihre dunkelbraunen Augen dann wieder über die Gefährten schweifen. »Seid mir nicht böse, dass ich euch verlasse, aber ich kann nicht anders.«
»Ich komme mit dir«, sagte Cay schlicht und sah ihr zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen.
»Das brauchst du nicht«, wehrte Rolana ab. »Ich kann von dir nicht verlangen, dich wegen meiner Visionen in Gefahr zu begeben.«
Cay brauste auf. »Du glaubst doch, dass der Drache die Wahrheit sagt und es nicht nur ein böser Traum ist, oder etwa nicht? Denkst du, du kannst diese Aufgabe so einfach allein erledigen? Meinst du nicht, die Welt könnte mehr Hilfe gebrauchen? Was ist, wenn dir unterwegs etwas passiert? Du kannst doch nicht mal mit einem Schwert umgehen! «
»Cay hat Recht«, mischte sich der Zwerg ein und strich sich über den zu Zöpfen geflochtenen Bart, der ihm bis über die Brust hing. »Wenn das alles wahr ist, dann brauchst du jede Unterstützung, die du kriegen kannst. Wir werden es mit mächtigen Gegnern zu tun bekommen! – Ich für meinen Teil gehe auf jeden Fall mit dir.« Thunin erhob sich entschlossen und nahm seine Axt vom Gürtel, von der er sich nicht einmal nachts trennte.
Ibis warf ihr grünliches Haar in den Nacken und reckte sich. »Wir haben schon viel zu lange in weichen Betten geschlafen. Ich habe mich ohnehin schon gefragt, wie lange ich dieses Nichtstun noch ertragen kann. Ein Drache ist doch mal ne nette Abwechslung.«
Entsetzt sah die junge Gräfin von Theron von einem zum anderen. »Ihr könnt mich doch nicht alle verlassen! Ich brauche euch dringend. Ich schaffe das nicht alleine.«
Lahryn nahm ihre Hände. »Lamina, du bist stark und hast jetzt viele Helfer auf der Burg. Du wirst es schaffen!«
»Oh nein«, rief sie und schüttelte den Kopf. »Du musst bei mir bleiben! Du bist mein Hofmagier, und ich denke gar nicht daran, dich gehen zu lassen.«
»Und doch muss ich dich darum bitten. Ich weiß, dass ich dich nicht einfach verlassen darf, in diesem Fall jedoch bleibt mir keine andere Wahl. Rolana wird den Weg sonst nicht finden, und sie wird meine Zauberkraft brauchen.« Steif ließ sich Lahryn vor der Gräfin auf die Knie sinken. »Lamina, ich beschwöre dich, zwinge mich nicht, im Bösen von dir zu gehen. Bitte erlaube mir, unsere Freunde auf dieser wichtigen Mission zu begleiten.«
»Ach Lahryn, warum muss ich euch alle verlieren?« Tränen standen ihr in den Augen, als sie ihm die Hand zum Kuss reichte. »Ich kann dich nicht halten. Geh, wenn du es für so wichtig hältst. Aber was ist mit mir? Brauche ich nicht auch die Hilfe der Magie und den Rat eines Freundes?«
»Ich glaube, ich kenne jemanden, der dir gerne zur Seite steht.« Lahryn stand auf und warf Vlaros, der bisher im Schatten einer düsteren Ecke gestanden hatte, einen aufmunternden Blick zu. Verlegen trat der junge Magier zu Lamina.
»Ich habe dir einen Treueschwur geleistet und habe nicht vor, ihn zu brechen. Du brauchst meine Hilfe nötiger als Rolana, die von Lahryn und den anderen beschützt wird.« Er küsste der Gräfin die Hand. Auf seinen bartlosen Wangen erschienen dunkelrote Flecken, als sich ihre Blicke trafen.
Lamina hatte sich wieder gefasst. »Vlaros, ich freue mich, dass du bei mir bleibst!«
»Auch ich werde bei dir bleiben, wenn du es wünschst«, erhob Seradir plötzlich die Stimme, und die anderen sahen ihn erstaunt an. Der groß gewachsene Elb trat mit federndem Schritt auf die Gräfin zu. »Ich habe Lamina versprochen, mit dem Ältestenrat der Eiben zu reden, um eine Handelsroute zwischen der Grafschaft und der Stadt in den Bäumen in Gang zu bringen ...« Nervös sah ér von einem zum anderen. »Oh bitte, denkt nicht, ich wollte mich verstecken oder euch gar im Stich lassen!«
»Ich glaube, das ist eine gute Aufteilung«, meinte Thunin und legte dem jungen Bogenschützen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Zu groß sollte unsere Gruppe nicht sein, sonst fallen wir zu sehr auf.« Der Zwerg wandte sich an
Cay. »Komm, wir müssen noch einiges vorbereiten, wenn wir morgen bei Sonnenaufgang losreiten wollen.«
* * *
Es war schon fast Mitternacht, und die Gefährten waren eifrig mit den Reisevorbereitungen beschäftigt. Rolana drückte Thunin ihre beiden Satteltaschen in die Hand. »Kannst du die für mich verstauen? Ich komme gleich wieder.«
Sie begab sieh auf die Suche nach Lamina, die sie seit der Zusammenkunft im Kaminzimmer nicht mehr gesehen hatte, und fand sie nach längerer Suche in der Bibliothek. In Gedanken versunken stand die junge Gräfin vor einem Gemälde. Das Tuch, unter dem das Bild so lange verborgen gewesen war, hielt sie zerknüllt in der Hand. Sie betrachtete ihr eigenes, glücklich lächelndes Gesicht, das dort in Öl gebannt war, und den zweijährigen Knaben an ihrer Hand, der unverkennbar ihre Züge trug. Leise näherte sich die Priesterin und legte behutsam die Hände auf Laminas Schultern.
»Ich bin eine Verliererin«, flüsterte die Gräfin leise, und Tränen glänzten unter ihren dichten Wimpern. »Ich habe meinen Vater geliebt bis zu dem Tag, als er mich für seine Geschäfte an einen reichen Seidenhändler verkauft hat. Meine Mutter habe ich bis zu ihrem Tod geliebt, an dem ich mich schuldig fühle. Ich habe meinen Mann geliebt und verloren und meinen Sohn.« Lamina deutete auf das Bild. »Mein Sohn Cervin. Er war zwei Jahre alt, als Gerald zu dieser mysteriösen Reise aufbrach. Ein paar Monate später ist es passiert. Ich war damals zum zweiten Mal schwanger. An einem sonnigen Frühlingstag kam ich mit meinem Sohn und dem Kindermädchen von einem Spaziergang zurück, als mir auf der Zugbrücke plötzlich schwarz vor Augen wurde und ich mich setzen musste. Das Kindermädchen war ganz aufgeregt und bemühte sich um mich. So konnte Cervin unbemerkt zum Rand der Brücke gelangen. Mir blieb fast das Herz stehen, als ich wieder zu mir kam. Ich schrie. Da stand er direkt am Abgrund! Er drehte sich zu mir um und fiel. Das Geräusch, mit dem er in den Graben stürzte, wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Ich sprang ihm nach, doch ich konnte nicht richtig schwimmen, und das schwere Kleid zog mich nach unten. Das Wasser war so trüb – ich konnte Cervin nicht sehen. Das Kindermädchen kreischte um Hilfe – die Wachen rannten herbei. Dann verlor ich das Bewusstsein.«
Lamina schwieg und zog das schwarze Tuch wieder über das Bild. Dann sprach sie leise weiter. »Als ich erwachte, saß Lahryn an meinem Bett. Ich schrie nach Cervin, doch er konnte mich nur noch zu seiner Leiche führen. Zu spät hatten ihn die Wachen aus dem Wasser gezogen. In dieser Nacht verlor ich auch mein zweites Kind. Es hat die Sonne nie gesehen. Lahryn hat lange um mein Leben gekämpft, doch manchmal wünschte ich, er hätte es nicht getan.«
Sie umschlang Rolana und weinte bitterlich. »Und jetzt bekomme ich ein Kind, dessen Vater mich geschändet hat, und den ich mit eigenen Händen erstochen habe. Sag mir, wie soll ich damit weiterleben?«
Rolana zog Lamina auf das Sofa und streichelte sie sanft, bis sie sich beruhigt hatte. »Du hast dir eine Aufgabe gestellt, die nicht leicht ist: Du willst als Frau das Erbe deines Mannes antreten und eine Grafschaft verwalten, doch ich glaube, du hast die Kraft dazu. Es wird schwer werden, aber nicht unmöglich, nun auch noch ein Kind aufzuziehen. Wir wachsen an unseren Herausforderungen. Du musst sie nur offen annehmen. Das Kind wird eine eigene Persönlichkeit, unabhängig vom Vater, den es nie kennen lernen wird. Deine Pflicht ist es, ihm die Liebe und Fürsorge zukommen zu lassen, die ein unschuldiges Kind verdient, und es nicht für die Sünde seines Vaters büßen zu lassen. Glaube mir, wenn es geboren ist, wirst du es lieben.«
Lamina blieb noch eine Weile in Rolanas Umarmung, dann machte sie sich los. »Trotzdem ist es schwer, gerade jetzt auf euch zu verzichten.«
Rolana sah schuldbewusst zu Boden. »Glaube mir, ich habe mit dieser Entscheidung lange gerungen.«
Lamina seufzte und trocknete sich das Gesicht. »Schon gut, ich werde versuchen, nicht egoistisch zu sein, schließlich willst du die schöne, schreckliche Welt retten, in der wir leben – und wir werden immer Freunde bleiben.«
Die beiden Frauen umarmten sich herzlich, dann ging Lamina hinaus. Rolana saß noch eine Weile da und starrte das verhüllte Gemälde an. Erfüllt von Trauer bat sie Soma, den Gott des Mondes, um Trost für Lamina.
* * *
Die Morgendämmerung vertrieb die Schatten der Nacht und ließ die Abschiedsstunde näher rücken. Die Gefährten hatten kaum Schlaf gefunden, zu sehr hatte die bevorstehende Reise ihre Gedanken beschäftigt. Ibis war die Einzige, die trotz der frühen Stunde ihre kaum zu trübende gute Laune versprühte. Erwartungsvoll war sie bereits vor dem Morgengrauen in ihre Kleider geschlüpft und zu den Ställen hinuntergegangen. Inzwischen hatte sie bereits alle Pferde gesattelt und in den Hof geführt.
»Guten Morgen, ihr Schlafmützen, geht es endlich los?« »Sprich mich nicht an, bevor die Sonne nicht mindestens eine Handbreit über dem Horizont steht!«, knurrte Thunin unwirsch und versuchte, sein Pferd dazu zu bringen, so lange stehen zu bleiben, dass er in den Sattel steigen konnte. Rolana rieb sich die müden Augen, unter denen sich dunkle Ringe eingegraben hatten, umarmte Lamina ein letztes Mal und bestieg dann ihre Fuchsstute.
Alle Bewohner der Burg hatten sich im Hof versammelt, um die Gefährten zu verabschieden. Als die ersten roten Strahlen der Sonne die Berggipfel streiften, ritten die Freunde über die Zugbrücke hinaus. Lamina, Seradir und Vlaros standen oben auf den Zinnen und winkten den Freunden nach, bis sie zwischen den Hügeln verschwunden waren.
* * *
Nur mit dem Nötigsten an Gepäck ausgerüstet folgten die Gefährten Lahryn, der die Umgebung am besten kannte. Er führte den kleinen Trupp hinauf in die Berge, die scheinbar uneinnehmbar im Morgenlicht vor ihnen aufragten. Der Grund war felsig und stieg manchmal so steil an, dass sie die Pferde nur im Schritt gehen lassen konnten. Das dunkle Grün des Spätsommers wurde immer spärlicher, und am Nachmittag erreichten die Freunde eine Schlucht.
Lahryn zügelte sein Pferd und deutete auf den beängstigend schmalen Durchbruch zwischen den Felswänden. »Hier müssen wir durch. Die Schlucht führt uns hinauf zum Pass. Wir werden die Höhe nicht ganz meiden können, doch ich hoffe, der Weg ist um diese Jahreszeit noch frei. Wenn wir den Pfad um die Berge herum wählen, dann kostet uns das einige Tage.«
»Da du uns hierher geführt hast, ist die Entscheidung ja schon gefallen. Die Frage ist nur, bekommen wir unsere Pferde über den Pass?« Besorgt sah der Zwerg zu den schneebedeckten Gipfeln empor.
»Ich glaube schon. Wir werden sicher ab und zu absteigen müssen, doch wenn wir die Pferde am Zügel führen, geht es sicher.«
»Ich hoffe, du hast Recht«, nickte der Zwerg und trieb sein Pferd an, um Lahryn in die Schlucht zu folgen.
Steil stiegen die Wände in den grauen Himmel. Die Sonne war hinter dicken Wolken verborgen, und der Wind heulte sein seltsames Klagelied zwischen den zerborstenen Felsbrocken. Der Weg war steinig und schmal, und sie konnten nur noch im Schritt hintereinander reiten. Tiere und seltsame Monster, gebannt in ewigem Stein, vom Sturmwind geformt und vom Regen ausgewaschen, starrten die Freunde aus toten Augen an. Nur wenige Pflanzen trotzten den widrigen Bedingungen und krallten sich in den Spalten und Ritzen fest, um im Windschatten ein kärgliches Dasein zu fristen.
»In meinem ganzen Leben habe ich noch keine so gewaltige Landschaft gesehen. Wie klein wir Menschen doch sind, wie unbedeutend.«
Rolana sah sich staunend um und ließ den Blick zu den weißen Spitzen hochwandern. Selbst im Traum waren ihr die Berge nie so riesig und so schön erschienen. Nicht einmal die glühende Sommersonne konnte in diesen Höhen den Kampf gegen die Schneeriesen gewinnen. Zwar zogen sie sich für einige Monate auf die höchsten Gipfel zurück, spotteten dem Sommer aber von dort aus mit Hagelschauern und Schneestürmen.
»Ja«, stimmte Cay ihr zu. »Und ich hatte immer geglaubt, das endlose Meer sei der schönste Ort auf der Welt.«
Als die Schlucht sich weitete, zügelte Lahryn sein Pferd. Nur wenige Schritte vor ihm stürzten die Wände einer Felsspalte, die die Schlucht querte, in die Tiefe. Ein schmaler, steiniger Pfad führte zu ihrem Grund und an der anderen Seite wieder hinauf, doch er sah nicht aus, als wäre er für Pferde geeignet.
»Viel zu steil und zu schmal!« Ibis schüttelte den Kopf. »Hier kommen wir nicht weiter.«
»Lasst euch überraschen. Kommt!« Der alte Magier stieg ab, führte sein Pferd am Rand der Felsspalte entlang um eine vorstehende Felsnase herum und blieb dann stehen.
»Hier ist der Übergang. Etwas schwankend vielleicht, müsste aber halten.« Er zeigte auf eine Hängebrücke aus geflochtenen und verknoteten Seilen, deren schmale Bretter über den Abgrund führten. Sehr stabil sah sie nicht aus.
Thunin sprang vom Pferd. »Wir sollten die Brücke erst zu Fuß untersuchen. Ich bin mir nicht so sicher, ob sie ein Pferd aushält. Los, Ibis, du bist doch immer so abenteuerlustig. Sieh dir die Seile und Bretter an.«
»Stets zu deinen Diensten!« Ibis sprang vom Pferd, schlenderte zur Brücke, trat vorsichtig auf die Bretter und ging dann ein Stück über den tiefen Abgrund hinaus. Sie betrachtete die Seile genau und hüpfte dann ein paar Mal hoch, so dass die Brücke gefährlich hin- und herschwankte.
Lahryn hielt sich die Hand vor die Augen. »Das kann ich nicht mit ansehen. Wir hätten doch besser den Umweg nehmen sollen.«
»Ach was, Ibis weiß, was sie tut«, beruhigte Cay den Magier.
»Und, was meinst du?«, rief Thunin der Elbe zu.
»Alles klar! Die Seile sind schon ein paar Jahre alt, aber noch völlig in Ordnung. Du kannst ruhig kommen. – Tolle Aussicht hier!«
Zaghaft betrat der Zwerg die Brücke und hangelte sich vorsichtig bis zur Mitte vor. »Also, wenn ich ein Pferd wäre, brächten mich keine zehn Pferde auf dieses schwankende Ding!«
Er wollte schon zurückgehen, als etwas am Boden der Schlucht seine Aufmerksamkeit erregte. In der Wand, ganz unten am Grund, waren einige Höhlen, und in einer bewegte sich etwas. Nur kurz konnte Thunin einen Schatten erhaschen, dann war er wieder verschwunden. Was das wohl sein mochte? Angestrengt blickte er hinunter, konnte jedoch nichts erkennen. Er spürte das vertraute, warnende Kribbeln unter seinem Bart. Nein, das dort unten war sicher kein ihnen freundlich gesinntes Wesen. Noch ein Grund mehr, die Brücke rasch hinter sich zu lassen.
Der Zwerg eilte zu den anderen zurück. »Wir verbinden den Pferden die Augen und führen sie einzeln hinüber. Ibis macht den Anfang, ich gehe zum Schluss.«
Die Elbe kam ohne Schwierigkeiten hinüber und winkte Cay fröhlich, ihr zu folgen. Die Seile ächzten, als der großgewachsene Kämpfer sein Pferd auf die schmalen Bretter führte. Nervös wieherte es, als die Brücke unter seinen Hufen schwankte, doch Cay hielt das Tier mit eisernem Griff am Zügel und erreichte so unbeschadet die andere Seite, ebenso Lahryn.
Thunin setzte sich an die felsige Kante, ließ die Beine baumeln und sah Rolana zu, wie sie Schritt für Schritt die Brücke überquerte, als er plötzlich am Grund der Spalte wieder eine Bewegung wahrnahm. Eine große, entfernt menschenähnliche Gestalt mit nur einem Auge mitten auf der Stirn trat aus der Höhlung in der Wand. Sie war bestimmt acht Fuß groß, sehr muskulös, nur spärlich mit einem Fell bekleidet und hielt einen plumpen, hölzernen Speer in der Hand. Der dicht behaarte Schädel war schmal im Vergleich zu dem breiten Kiefer, der nur noch lückenhaft mit gelben Zähnen besetzt war. Das Wesen trat träge blinzelnd ins Tageslicht, gähnte und schlurfte ein paar Schritte auf eine zweite Öffnung in der Wand zu. Plötzlich entdeckte es Rolana auf der Brücke, deutete mit seinen dicken Fingern nach oben und rief etwas, das die Freunde nicht verstehen konnten. Die Laute ließen eher an ein wildes Tier denken als an einen Menschen.
Thunin sprang auf die Beine und brüllte: »Zyklopen! Rolana lauf!«
Die Gestalt am Fuß der Felsspalte stieß ebenfalls einen Schrei aus, packte den Speer fester, holte zum Wurf aus und schleuderte dann mit seinen übermenschlichen Kräften den Stab mit der gefährlich blitzenden Eisenspitze. Der Speer flog auf die völlig schutzlose Priesterin zu, die alle Mühe hatte, ihr scheuendes Pferd zu beruhigen.
»Rolana, pass auf!«, schrie Cay. Lahryn erwischte den Kämpfer gerade noch am Ärmel, bevor er auf die Hängebrücke hinausrennen konnte. »Nicht! Das Ding hält euch zusammen nicht aus. Du kannst ihr nicht helfen.«
Rolana riss die Augen auf, als sie den Speer auf sich zufliegen sah. Eingeklemmt zwischen Seilen und Pferd, mit schwankenden Brettern unter den Füßen und ohne Deckung schien der Tod direkt auf sie zuzukommen. Gerade noch rechtzeitig duckte sie sich. Der Speer flog knapp an ihrer Schulter vorbei, und die eiserne Spitze bohrte sich in die Vorderflanke des Pferdes. Voller Schmerz wieherte es schrill, schlug nach hinten aus und versuchte hochzusteigen.
»Nein, ruhig, bleib ruhig!« Rolana klammerte sich am Zügel fest und zog mit ihrem ganzen Gewicht an den Lederriemen. Die Brücke schwankte gefährlich, und die Seile knarzten. Lahryn suchte verzweifelt in seinem Gedächtnis nach einem Spruch, der Rolana helfen könnte. Alle starrten bang auf die junge Priesterin, die sich bemühte das Gleichgewicht zu bewahren und ihr Pferd zum Weitergehen zu bewegen.
Ein scharrendes Geräusch hinter dem Felsvorsprung ließ Thunin herumfahren. Reflexartig löste er die Axt vom Gürtel. Was war das? Er rieb sich ungläubig die Augen, als ein riesiger Felsblock langsam zur Seite glitt und eine Höhlung zurückließ. Thunin zog scharf die Luft ein. Ein kräftiger Zyklop erschien in der Öffnung! Das Monster war mindestens doppelt so groß wie der Zwerg und musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den scharfkantigen Felsen zu stoßen. Abschätzend wog der Zwerg seine zweischneidige Axt in den Händen und schob mit dem Fuß den Rucksack, den er neben sich gelegt hatte, aus dem Weg.
Der Zyklop trat zwei Schritte nach vorn und betrachtete den Zwerg mit seinem blutunterlaufenen Auge. Bedächtig hob er seine Keule, die jedem Baumstamm zur Ehre gereicht hätte.
»Du kleiner Zwerg, du bist schon tot.« Er verzog die Lippen zu einem verächtlichen Grinsen und ließ ein paar schwärzlich angefaulte Zahnstümpfe sehen.
»Das werden wir ja sehen, du ungehobelter Klotz. Größe ist nämlich nicht alles!«
Das Monster fauchte wie ein wütender Tiger, sodass Thunins Pferd ängstlich an die Felswand zurückwich.
»Los, Alter, komm – ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Komm und hol dir deine Prügel ab!«
Schneller als Thunin es dem Fleischberg zugetraut hatte, sprang er vor, sodass dem Zwerg nichts anderes übrig blieb als zurückzuweichen.
»Ich mach dich tot!« Die Gegner beäugten sich abschätzend. Blitzschnell schlug der Zyklop mit seiner Keule nach dem Zwerg. Thunin wich aus und hieb dem riesigen Kerl die Axt in den Oberschenkel. Der Zyklop heulte auf.
»Ungeziefer, ich zerquetsche dich!«
Wütend stieß er nach Thunin, der ihm jedoch wieder entwischte. Die wuchtigen Schläge kamen immer schneller hintereinander, und Thunin hatte Mühe, ihnen auszuweichen. Kaum fand er eine Lücke, um seine Axt einzusetzen. Der Zyklop schlug wahllos zu und versuchte gar nicht erst, einen gezielten Treffer zu landen. Er rückte Schritt für Schritt vor und drängte den Zwerg immer näher an die Kante, achtete aber darauf, sein Opfer nicht auf die Brücke entwischen zu lassen. Zufrieden schnalzte er mit der Zunge, während die schwere Keule durch die Luft zischte. Aus den Augenwinkeln beobachtete Thunin besorgt die bodenlose Tiefe, die unerbittlich näher kam.
»Oh nein, den Gefallen tu ich dir nicht!«, zischte er zwischen den Zähnen, duckte sich unter dem nächsten Schlag hinweg, rannte los und schlitterte zwischen den Beinen des verdutzten Zyklopen hindurch. Thunin schaffte es zwar, von der Kante wegzukommen, doch der Riese erholte sich erstaunlich schnell von seiner Überraschung und verpasste dem Zwerg einen heftigen Schlag auf die Schulter. Thunin wankte. Ein Entsetzensschrei der Freunde auf der anderen Seite drang über den Abgrund.
Rolana entfernte behutsam die Speerspitze aus der Flanke der Stute und legte dem verängstigten Tier die Hand auf die Nüstern. Die Priesterin versuchte, nicht auf Thunin und seinen Kampf zu achten. Sie konzentrierte ihre Kräfte, verband ihre Schwingungen mit denen des Pferdes und nahm ihm die Schmerzen und die Angst. Dann führte sie es Schritt für Schritt weiter über die schwankenden Planken, dem rettenden Felsrand entgegen. Der Zyklop, der den Speer auf Rolana geschleudert hatte, tauchte neu bewaffnet wieder aus der Höhle auf. Ihm folgten zwei weitere einäugige Riesen, die ebenfalls schwere Speere trugen.
»Verdammt, da kommen ja noch mehr!« Mühsam riss die Elbe ihren Blick von dem Kampf auf der anderen Seite los, nahm den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil an und spannte die Sehne.
»Lahryn, hilf mir, wir müssen Rolana Deckung geben!«
Ibis schoss einen Pfeil nach dem anderen in die Schlucht hinunter. Wütende Schreie bestätigten ihre Treffer. Lahryn schleuderte einen gleißenden Blitz in die Tiefe und streckte einen Zyklopen nieder, der mit geschwärzter Brust tödlich getroffen zu Boden sank. Die beiden anderen suchten Deckung hinter einem Felsblock. Nur für einen Augenblick verließ der Größere der beiden den Schutz, um seinen Speer zu schleudern, doch er verfehlte die Brücke, und die tödliche Waffe fiel, ohne Schaden anzurichten, zum felsigen Grund zurück.
»Du Mistkerl!«, rief Ibis. Zwei Pfeile surrten durch die Luft und trafen den Zyklopen, bevor er sich wieder hinter seinen Felsblock zurückziehen konnte. Zu Thunin hinüberzuschießen wagte Ibis nicht, aus Angst, den Zwerg zu treffen.
Endlich erreichte Rolana das Ende der Brücke und zog ihr Pferd auf festen Boden. »Soma sei Dank, ich hatte schon geglaubt, jetzt sei alles zu Ende.«
Ibis stürzte los. »Ich muss zu Thunin, gib mir Deckung!« Sie rannte über die Brücke, während Lahryn einen weiteren Blitzstrahl auf den Felsen schleuderte, hinter dem sich die beiden Zyklopen verkrochen hatten.
Der Zwerg hatte inzwischen noch einen Hieb abbekommen, und das Blut lief ihm aus einer Platzwunde über das Gesicht, doch auch der Zyklop war nicht leer ausgegangen. Er humpelte schwer, und seine Beine waren von den Axthieben mit tiefen Wunden übersät.
Ibis huschte an den Kämpfenden vorbei, zog ihr Schwert und wartete einen günstigen Moment ab. Sie hielt sich hinter dem Riesen, der mit seinen verletzten Beinen immer langsamer wurde, aber nicht aufhörte, mit der Keule zuzuschlagen, um den Zwerg zu zerschmettern.
Da stieß Ibis zu, und ihr Schwert fuhr dem Zyklopen bis ans Heft in den Rücken. Einen Moment lang passierte nichts, dann fiel ihm die Keule aus der Hand und krachte zu Boden. Er ächzte, ging in die Knie und krümmte sich. Thunins Axt sauste auf den gebeugten Nacken herab. Einen Moment lang trafen sich die Blicke der beiden Freunde.
»Beeilt euch, schnell, kommt rüber!«
Erst jetzt bemerkten sie Cays verzweifelte Rufe, und als sie in die Schlucht hinuntersahen, erkannten sie die drohende Gefahr. Im Schutz der Felsblöcke begannen die beiden Zyklopen, den Pfad hinaufzusteigen, um ihren Kameraden zu rächen.
»Wir müssen hier weg! Los komm.« Ibis sauste über die Brücke. Sie hatte das andere Ende schon erreicht, als Thunins widerspenstiges Pferd den ersten Huf auf die Planken setzte.
»Verdammt, du dummes Vieh, jetzt lauf schon. Stell dich nicht so an!« Die Seile stöhnten, der Zwerg brüllte auf sein Pferd ein. Er zog und zerrte an den Zügeln. Schritt für Schritt kamen sie voran. Schon erreichten die Zyklopen den Rand der Schlucht und kletterten auf die felsige Plattform, wo ihr toter Kamerad in seinem Blut lag.
Mit einem Seufzer gab eines der Seile nach, und die Brücke neigte sich zur Seite. Das Pferd wieherte, rutschte von den Planken und hing nun hilflos mit den Hinterfüßen zwischen den Tauen. Die Brücke ächzte.
»Thunin, lauf, lass das Pferd! Lauf!«, schrie Ibis und riss ein Seil aus ihrem Rucksack. Die Elbe musste den Zwerg nicht lange bitten. Er ließ die Zügel los und begann, sich an der schiefen Brücke entlangzuhangeln. Er hatte die Mitte bereits überquert, als ein Seil auf der anderen Seite der Schlucht riss und die Brücke seitlich wegkippte. Thunins Pferd wurde in die Tiefe gerissen und blieb zerschmettert auf dem Grund liegen. Entsetzt kreischte Thunin auf und klammerte sich an die senkrecht hängenden Bretter.
Die Zyklopen blieben stehen, um das Spektakel zu beobachten. Plötzlich huschte ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des größeren. Er zog sein Messer, trat an den Rand der Felsspalte und kappte die restlichen Seile.
Den Freunden blieb der Schreckensschrei in der Kehle stecken. Die Brücke schwang mitsamt dem Zwerg, der sich an ihr festklammerte, auf die Felswand zu. Krachend schlugen die Bretter gegen das Gestein, doch Thunin krallte sich noch immer an die Planken. Mindestens zwanzig Fuß hing er unterhalb der Kante und brüllte vor Schreck und vor Schmerz.
Ibis schlang das Seil um einen Felsblock. Noch bevor die Freunde begriffen, was sie vorhatte, war sie schon in der Wand. Atemlos sahen die anderen zu, wie sie zu dem Zwerg hinabkletterte. Thunin hatte zu schreien aufgehört und schien der Ohnmacht nahe.
»Ich kann mich nicht mehr halten! Ibis, wo bleibst du?«
Bevor die Kraft endgültig aus seinen Armen wich, war sie bei ihm und schlang ihm das Seil um die Brust.
»Los, zieht ihn hoch.«
Cay packte das Seil mit beiden Händen und zerrte den fluchenden Zwerg Stück für Stück zu sich herauf. Als Thunin mit letzten Kräften über die Kante robbte und erst einmal erschöpft auf dem Bauch liegen blieb, hatte die Elbe die Steilwand bereits hinter sich gelassen und empfing den Freund mit den gewohnten Sticheleien.
»Kommt, wir ziehen uns lieber ein Stück zurück, bevor wir eine Rast machen.« Cay half Thunin beim Aufstehen. Rolana betrachtete ihn besorgt.
»Hältst du noch ein wenig durch, bis ich mich um deine Wunden kümmern kann?«
Der Zwerg biss die Zähne zusammen, wischte sich das Blut mit dem Handrücken von der Stirn und nickte. »Macht keinen solchen Aufstand wegen so einem bisschen.« Er versuchte sich an einem Lächeln, das zur Grimasse geriet, saß hinter Ibis auf und klammerte sich an die Elbe, die das Pferd den steinigen Pfad hinauftrieb.
Sobald sie einen geeigneten Rastplatz fanden, hielten sie an, und während Cay und Ibis Wache hielten, heilte Rolana Thunins Wunden. Als der Zwerg seine gesunde Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte, saßen sie wieder auf und ritten weiter, dem kaum mehr erkennbaren Pfad folgend, der sie zum Pass hinaufführen sollte.
* * *
Rolana schob einen Holzscheit in das nur noch schwach glimmende Feuer und deutete besorgt auf den rasch schrumpfenden Haufen Reisig. »Ist das unser letztes Holz?«
Cay nickte und rutschte ein wenig näher zu ihr heran, um sie vor dem kalten Wind zu schützen, der klagend um die Felsen pfiff.
»Das wird kaum reichen, um das Feuer die ganze Nacht brennen zu lassen.« Seufzend streckte sie ihre steif gefrorenen Hände der Glut entgegen.
»Wahrscheinlich kann ich diese Nacht sowieso kein Auge zutun. Irgendwas Unheimliches ist hier unterwegs – das spüre ich.«
Cay zuckte mit den Schultern. »Ach was, es ist nur ungemütlich und kalt. Wer außer uns ist so dumm, sich bis in diese Höhe zu wagen?«
»Keine Ahnung, doch ein kleiner Kampf wäre jetzt zum Warmwerden ganz gut.« Ibis, die gerade ihre Wachrunde beendet hatte, trat in den schwachen Lichtschein. Zitternd zog sie ihren Wollumhang enger um die Schultern.
»Ich bin bestimmt nicht empfindlich, doch das ist selbst mir zu frisch. Dabei hat der Herbst noch nicht mal richtig angefangen.«
»Ja, wir müssen zusehen, dass wir den Pass morgen hinter uns lassen. Ich hoffe nur, dass der Schnee nicht zu hoch ist.« Nachdenklich sah der alte Magier zum Himmel empor, dessen sternenbesetztes Nachtblau immer mehr hinter Wolken verschwand. Der Wind heulte die ganze Nacht zwischen den Felstürmen, und durch den Widerschein des Feuers glitten die Schatten seltsamer geflügelter Wesen.
Am nächsten Tag wurde der Pfad steiler, und schon bald mussten sie absteigen und ihre Pferde am Zügel führen. Immer näher rückten die schneebedeckten Gipfel, die sich kaum gegen die Wolkendecke abhoben. Der eisige Wind färbte Nasen und Wangen rot und zwang die Freunde, sich immer tiefer in ihre Umhänge zu vergraben. Da, die ersten Flocken wirbelten durch die Luft und verdichteten sich in nur wenigen Augenblicken zu einer weißen, wirbelnden Wand. Bald stapften sie durch knöcheltiefen Schnee.
»Da, seht nur, wir haben den Pass erreicht.« Mit erregter Stimme riss Ibis die anderen aus ihrer trübsinnigen Starre, und sie riskierten vorsichtig einen Blick.
»Juhu, wer als Letzter oben ist, muss eine Runde Wein ausgeben!« Ibis rannte los. Cay ließ die Zügel seines Pferdes los und lief der flinken Elbe hinterher.
»Na warte, ich krieg dich!«
»Dass ich nicht lache, du schwerfälliger Tolpatsch. Du bist ...« Der Rest ging gurgelnd im Schnee unter. Cay hatte sich mit einem Hechtsprung auf sie geworfen und ihr die Beine weggezogen, sodass sie mit dem Gesicht im eisigen Weiß landete. Die beiden wälzten sich im Schnee, bis auch die anderen die Passhöhe erreicht hatten. Als Letzter humpelte Lahryn heran und lehnte sich schwer atmend an einen Felsblock.
Ein stürmischer Wind jagte die Wolken vor sich her, bis die dichte Decke plötzlich zerriss und die frühe Nachmittagssonne ihre Strahlen zur Erde sandte, um die Schneegipfel in gleißendem Glanz erstrahlen zu lassen. Die Freunde mussten die Augen zusammenkneifen, so grell glitzerte der Schnee im Sonnenlicht.
»Dieser Ausblick über die Berge und das weite Land ist einfach fantastisch!« Rolanas Atem stieg weiß in die klare Luft.
»Ja, und sieh nur, man erkennt schon die große Steppe im Osten«, rief die Elbe. »Kaum zu glauben, dass es da unten jetzt brütend heiß ist. – Das war’s zumindest, als ich dort mit Thunin vor ein paar Jahren wilde Pferde fangen war.«
»Es ist wunderschön, trotzdem sollten wir jetzt weitergehen«, drängte der Magier. »Es wird schon früh dunkel, und hier oben sind wir viel zu ausgesetzt, um einen Lagerplatz für die Nacht zu finden.«
Die Freunde kamen nur langsam voran, denn die dünne Schneedecke verwandelte den steilen Pfad in eine Rutschbahn, auf der die Pferde immer wieder strauchelten. Es dämmerte schon, und noch immer waren sie dem schneidenden Wind schutzlos ausgesetzt. An ein Nachtlager war nicht zu denken, und so folgten sie dicht hintereinander im Schein der Laternen dem kaum erkennbaren Pfad. Endlich, es war schon weit nach Mitternacht, erreichten sie eine kleine Höhle.
»Ich schau mal, ob da drin noch ein Plätzchen für uns frei ist.« Und schon war die Elbe in der Finsternis verschwunden. Die Freunde mussten nicht lange warten. Bereits nach wenigen Augenblicken erschien sie wieder im Eingang und winkte den Gefährten, ihr zu folgen. Der Höhlenbär, dem diese Zuflucht einst als Behausung gedient hatte, war schon lange zu seinen Ahnen gegangen, und nur die blanken Knochen zeugten noch von seinem einstigen Leben. Ohne die Wärme eines Lagerfeuers würde es eine unangenehme Nacht werden, deshalb kuschelten sich die Freunde eng aneinander.
»Da fällt mir ein, ich habe Ibis’ Wettrennen heute Nachmittag verloren und bin euch daher eine Runde Wein schuldig.« Lahryn kramte in seinem Rucksack.
»Der ist sicher eingefroren – danke, mir ist schon kalt genug«, bibberte Rolana und versuchte, ihre Hände noch tiefer unter ihrem Gewand zu vergraben.
»Abwarten, meine Liebe, du wirst deine Meinung schon noch ändern!« Der Magier machte ein geheimnisvolles Gesicht und zog einen versiegelten Krug und ein zusammengeklapptes Dreibein hervor, das mit mystischen Zeichen bedeckt war. Behutsam stellte er das zerbrechlich wirkende Gestell auf den Felsboden, tat den Weinkrug darauf und legte die Hände um das irdene Gefäß. Seine leise gemurmelten Worte gingen im heulenden Wind unter, doch alle konnten sehen, dass das Gestell zu glühen begann.
»So, gleich ist es fertig.« Geschickt öffnete Lahryn den heißen Krug und streute ein paar Kräuter hinein. Ein würziger Duft zog durch die Höhle, als der dampfende Gewürzwein die Runde machte.
»Lahryn, du bekommst einen Orden. Wenn ich jemals etwas gegen Magier gesagt habe, nehme ich jetzt alles zurück!« Wohlig seufzend wischte sich Ibis den Mund an ihrem Ärmel ab.