Читать книгу Das Vermächtnis des Kupferdrachens - Ulrike Schweikert - Страница 9

Peramina

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Lahryn zügelte sein Pferd. »Wir sind gleich da.« Er deutete auf die Ansammlung geduckter Hütten am Fuß der Felswand, die von einem Palisadenzaun umgeben und von einem Turm bewacht vor ihnen lag. »Ich glaube, wir werden einen freundlichen Empfang bekommen, also los.«

Als sich die Freunde dem geschlossenen Tor näherten, liefen die Zwerge hinter der Abzäunung schon durcheinander, denn der Posten hatte Reiter gemeldet, und nun beobachteten sie argwöhnisch die näher kommende Gruppe. Erst vor kurzem hatten wieder Orcs versucht, das Dorf zu überfallen, waren jedoch abgezogen, ohne größeren Schaden anzurichten. Ernste, bärtige Gesichter sahen auf die Gefährten herab, die geduldig vor dem Tor warteten.

»Es ist Lahryn!«, erscholl ein Ruf hinterm Zaun, und freudige Stimmen mischten sich in das Gemurmel. Das Tor schwang auf, und die Freunde ritten auf den Dorfplatz. Haarige Hände griffen nach den Zügeln, halfen beim Absteigen und führten die Pferde in den Gemeinschaftsstall.

»Lahryn, wie schön ist es, dich wieder bei uns zu haben!« Burk schloss den Magier in die Arme.

»Und, wie geht es mit dem Ausbau der Stollen voran?«

»Bestens, und höhere Preise haben wir mit der letzten Silberladung auch erzielt, dank deiner Hilfe.«

Die anderen sahen sich neugierig um, und auch die Zwerge musterten die Fremden unverhohlen. Da teilte sich die Menge respektvoll und ließ einen Zwerg in silberner Rüstung, der mit einem mächtigen Silberhammer bewaffnet war, in die Mitte treten. Um seine Wichtigkeit zu unterstreichen, folgte ihm eine Eskorte aus acht grimmig dreinschauenden, bis an die Zähne bewaffneten Zwergen. Artig verbeugte sich Lahryn vor dem Dorfältesten und stellte ihm die Gefährten vor.

Der Zwerg nickte ihnen freundlich zu, und man konnte unter dem dichten Bart ein Lächeln erahnen. »Seid willkommen, Freunde. Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt. Lasst mich wissen, wenn ihr etwas braucht und ich euch irgendwie helfen kann.« Er drückte Lahryn noch einmal die Hand, winkte den Dorfbewohnern zu und wandte sich dann mit seinem Gefolge wieder zum Gehen.

»Lahryn, Lahryn!« Eine kleine Gestalt mit wehenden Zöpfen rannte die steile Straße zum Dorfplatz herunter, breitete die Arme aus und klammerte sich dann fest an den Magier. Lahryn ließ sich auf die Knie herab und nahm Nina in die Arme. »Siehst du, ich habe es dir ja gesagt, dass wir uns wiedersehen.«

Die Zwergenfrau wischte sich die Tränen vom Gesicht, packte ihn an der Hand und zog ihn hinter sich her. »Ihr wohnt natürlich alle bei uns.«

»Aber Nina, so viel Platz ist in eurem Haus doch gar nicht!«

»Ach was«, rief sie und grinste verschmitzt, »die Brüder können auch mal draußen schlafen oder zu ihren Freunden gehen. Sie werden nichts dagegen haben.«

»Bist du sicher?«, fragte der Magier zweifelnd. »Wir sollten sie vorher fragen!«

»Ja! Ganz sicher.«

Vermutlich würden Ninas vier Brüder nicht wagen, ihren Zorn zu entfachen und sich daher in ihr Schicksal fügen – egal, ob es ihnen recht war oder nicht. »Also gut, abgemacht«, stimmte Lahryn zögernd zu.

Die Gefährten folgten der Zwergenfrau die steile Gasse zu dem kleinen Steinhaus hoch, halfen ihr, zwei Tische und zahlreiche Schemel in den Hof zu schleppen, und genossen es dann, die Beine ausstrecken zu können. Nina scheuchte ihre Brüder, Fleisch und Gemüse zu besorgen, und rannte aufgeregt zwischen Küche und Hof hin und her. Der kleine Grindir jauchzte vergnügt. So viel Wirbel gefiel ihm. Es kamen immer mehr Dorfbewohner, die Lahryn wieder sehen wollten. Bald mussten die Gefährten einen weiteren Tisch von den Nachbarn herüberholen. Wein und selbstgebrautes Bier gab es genug. Die Stimmen wurden immer lauter, bis das Gelächter von den Felswänden widerhallte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Nina die ersten dampfenden Schüsseln heraustrug, die mit freudigem Beifall begrüßt wurden. Die halbe Nacht saß die große, fröhliche Runde beisammen, und es wurde noch so manche Freundschaft geschlossen. Nina wich nur dann von Lahryns Seite, wenn ihre Hausfrauenpflichten sie dazu zwangen. Ihre Hand wanderte in die des Magiers, und sie strahlte ihn an.

* * *

»Als Erstes müssen wir zu der Stelle im Stollen, wo ihr mich damals gefunden habt.«

Nina nickte eifrig. »Geradin war dabei. Er kann euch hinbringen, wann immer ihr wollt, nicht wahr?« Sie stieß ihrem Bruder heftig in die Seite, und der beeilte sich zu versichern, er würde die Gefährten mit Freude führen. Er wusste zwar nicht, was sie dort zu suchen hatten, doch wenn sie es nicht von sich aus erzählen wollten, war es nicht an ihm, danach zu fragen. Es geschah ohnehin äußerst selten, dass der Zwerg den Mund auftat, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.

»Wir sollten noch heute aufbrechen, die Zeit läuft uns davon.«

Thunin nahm das kühlende Tuch von seinem Brummschädel. »Rolana hat Recht, wenn es heute auch schwer fällt.«

»Wir sollten ein paar Wasservorräte an der Abzweigung lagern, wer weiß, wie durstig wir auf dem Rückweg dort ankommen«, schlug Lahryn vor, der sich noch gut an seine Odyssee durch das Felsenlabyrinth erinnern konnte.

»Gute Idee. Wer weiß, wie viele Tage uns Rolana im Kreis herumführt«, stimmte Ibis zu und feixte zu der Priesterin hinüber.

Diese knuffte die Elbe in den Arm. »Spotte du nur. Du wirst sehen, wir werden uns kein einziges Mal verirren. Da bin ich mir sicher.« Sie zog das kupferne Drachenamulett, das sie im Sarg des toten Grafen entdeckt hatte, unter ihrem Gewand hervor.

»Jedenfalls bin ich schon sehr gespannt Peramina noch einmal zu begegnen. Das letzte Mal mussten wir uns etwas überstürzt zurückziehen.« Ibis grinste.

»Ich weiß gar nicht, wie man so versessen darauf sein kann, in die Nähe eines Drachen zu kommen.« Thunin schüttelte den Kopf und verzog dann die Miene zu einer Grimasse.

»Ja, ja, der Wein«, nickte Ibis wissend.

»Es wird Zeit«, mahnte Rolana und erhob sich. Auch Nina sprang auf. »Während ihr eure Wassersäcke füllt, packe ich euch Proviant ein«, bot sie eifrig an.

Nur eine Stunde später waren die Rucksäcke mit Wasser und Verpflegung gefüllt und die Freunde zum Abmarsch bereit.

Nina und Grindir winkten ihnen nach, bis sie im Dunkel der Stollen verschwunden waren. Burk und Geradin, ebenfalls mit Wassersäcken beladen, führten die Freunde durch das Gewirr von Gängen und Stollen bis dorthin, wo sie vor vielen Wochen den bewusstlosen Lahryn gefunden hatten.

»Wir werden jeden Tag vorbeisehen.« Feierlich schüttelte Burk allen Gefährten die Hand, und Geradin nickte feierlich.

»Macht euch keine Sorgen um uns, ein paar Tage wird es schon dauern.« Lahryn hob die Lampe und nickte Rolana zu. »Nach dir. Von nun an stehen wir unter deiner Führung.«

Die junge Priesterin winkte den Zwergen noch einmal zu und schlüpfte dann in die Spalte, die den Stollen bei einem Erdbeben vor vielen Jahren zerrissen und Lahryn bei seiner Flucht aus den Verliesen von Theron zu den Zwergen geführt hatte. Rolana forschte mit ihren Gedanken nach denen des Drachen.

Peramina, wo bist du? Führe uns, und wir werden zu dir kommen.

Die Stimme der Echse klang klar in ihrem Kopf. Rolana, Kind des Mondes, ich höre dich. Ich habe über euch gewacht. Überlass dich deinem Gefühl, es wird dich zu mir geleiten.

Das Amulett glühte, und Rolana fühlte, dass es sie weiterzog. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, welcher Weg der richtige war. An keiner Kreuzung überlegte sie, und die Gefährten folgten ihr vertrauensvoll. Nur Thunin murrte ab und zu vor sich hin. »Schon wieder Gänge und Spalten. Ich hasse es, eingesperrt zu sein! Freiwillig in die Höhle eines Drachen zu gehen ist das Verrückteste, was ich je getan habe.« Doch in seinem Innersten fühlte auch er, dass sie auf dem richtigen Weg waren.

* * *

»Wir sind schon ganz in der Nähe«, stellte Lahryn am zweiten Tag erstaunt fest. »Auf meiner Flucht muss ich ja ganz schön im Kreis herumgegangen sein.«

»Stimmt das?« Ibis wurde ganz zappelig. »Sind wir bald da? Ich kann’s kaum mehr erwarten.«

»Ja, ich spüre sie ganz deutlich«, nickte Rolana und lehnte sich erschöpft an die Wand.

Cay legte den Arm um sie. »Sollen wir nicht lieber erst ein paar Stunden rasten? Vielleicht ist es gefährlich, wenn wir in diesem Zustand in die Drachenhöhle gehen.«

Sie hatten sich in den beiden Tagen kaum eine Pause gegönnt, und selbst Cay spürte inzwischen Müdigkeit in den Knochen. Kein Wunder, denn er und Thunin mussten den größten Teil der Wasservorräte für eine ganze Woche tragen.

Rolana lächelte leicht. »Nein, es geht schon. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Rasten können wir auch später noch. Wir müssen uns in der Nähe des Drachen nicht fürchten. Vertraut mir und kommt weiter!«

»Seht ihr das?« Ibis strich mit den Händen über die Wand. »Macht mal die Lampen aus.« Schweigend standen sie da und beobachteten dunkelrote Lichtflecken, die über die Felsen zuckten. Ganz deutlich konnten sie nun die Aura des Drachen spüren, und ihre Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf. Die Müdigkeit war verflogen, und alle Nerven waren bis zum Äußersten gespannt, als sie sich, Schritt für Schritt, dem Eingang zur großen Drachenhöhle näherten. Das Herz schlug ihnen bis zum Halse, und sie hatten Mühe, ihre Ängste niederzuringen. Nur Rolana fühlte keine Furcht und folgte wie in Hypnose dem Ruf der Echse.

Komm zu mir, hörte sie die sanfte Stimme des Drachen.

Die Höhle glich einem Trümmerfeld. Zwischen Felsblöcken und eingestürzten Säulen lag das mächtige Wesen, von seinen Schätzen umgeben, die Hinterläufe unter Geröll begraben. Regungslos ragte die Schwanzspitze unter einem Block hervor, an Rücken und Hals klafften riesige Wunden, die glänzenden Schuppen waren aufgerissen und von einer schwarzen Masse wieder verklebt.

Rolana sank auf die Knie. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Welch großes Leid hast du erfahren müssen, Peramina.

Wir alle haben die uns zugedachte Aufgabe zu erfüllen.

Wenn ich die meine erfüllt habe, werde ich diesem geschundenen Körper entfliehen – Leid und Schmerz sind vergänglich. Langsam hob der Drache den Kopf und sah die Gefährten an, die unentschlossen am Höhleneingang stehen geblieben waren. »Kommt her und setzt euch. Ich werde euch von der Zukunft und von der Vergangenheit erzählen.«

Noch etwas zögerlich folgten die Freunde der Aufforderung und ließen sich in einiger Entfernung auf den Steinboden sinken.

Peramina hob eine Vorderklaue und schob das Drachenei ein Stück vor. »Dies ist das Wichtigste, was von meinem Leben bleiben wird. Es birgt nicht nur ein Drachenkind, es birgt das Drachenkind, das die Welt retten wird – mit eurer Hilfe.« Peramina sah von einem zum anderen. Sie hatte jetzt so gesprochen, dass alle sie verstehen konnten.

* * *

»Vor mehr als viertausend Jahren, als die Reiche noch blühten und durch Tore verbunden waren, lebten die Drachen in Frieden. Es gab rote, blaue, schwarze, Gold-, Silber- und Kupferdrachen. Die glänzenden Drachen halfen den Völkern, wenn sie kamen und um Rat fragten. Die farbigen Drachen wollten mit den Völkern nichts zu tun haben, ließen die menschlichen Wesen aber in Frieden, wenn sie selbst nicht gestört wurden. Doch ein Mensch, ein großer Magier, setzte es sich zum Ziel, dieses Gleichgewicht zu zerstören. Er schwang sich zur Macht auf und schmiedete eine Krone aus sechs Drachenfiguren, für jede Rasse eine Farbe.

Er wollte die Drachen missbrauchen, um sich die Erde Untertan zu machen. Die Menschen, Zwerge und Eiben lebten sorglos und übersahen die Zeichen der Gefahr am Horizont, und auch die Drachen waren zu stolz und eingebildet, um die Bedrohung ernst zu nehmen. Sie selbst waren mächtig und hatten große Zauberkräfte, was sollte ihnen schon passieren? Welch tragischer Fehler!

Das Unglück geschah, der Magier vollendete die Krone, und die Macht des Artefakts war unendlich. Er konnte die Drachen in allen Welten mit seinen Gedanken erreichen, ihnen Befehle erteilen und sie zum Gehorsam zwingen. Der Magier sandte sie aus, ließ Städte dem Erdboden gleichmachen und erstickte so jeden Widerstand im Keim. Im Feuersturm der Wut und Gewalt zerbrachen die Tore zwischen den Welten und trennten von da an die Völker voneinander. Die Eiben- und Zwergenstämme, die in unsere Welt gekommen waren, sollten ihre Heimat nie wiedersehen. Die Völker hatten nichts, was sie dieser Macht entgegensetzen konnten. Viele starben. Der Magier versklavte nicht nur die Lebenden, sogar die Toten ließ er als Heer williger Zombies wieder auferstehen. Nur wenige Überlebende konnten sich rechtzeitig in die dichten Wälder oder unwegsamen Berge flüchten, um ihrem schrecklichen Schicksal zu entgehen.

Doch die Götter hatten Mitleid mit den Geknechteten und gaben den Welten eine Chance das Joch abzustreifen. Durch eine Laune der Natur schlüpfte ein weißer Drache aus dem Ei, und als er die Schale abgestreift hatte, verlor die Krone ihre Macht, denn nun waren nicht mehr alle Farben in ihr vereint.

Ein erbitterter Krieg entbrannte. Die Drachen waren frei und wollten sich an ihrem Unterdrücker rächen, doch zu viel Böses war noch in der Welt. Es gab keine Einheit, und bald kämpften Menschen gegen Zwerge und Eiben, Drachen gegen den Magier, aber auch farbige gegen glänzende Drachen. Das weiße Drachenkind aber wurde gerettet, und die Krone wurde in Teile gespalten und über die Welten verstreut.«

Peramina machte eine Pause, dann fuhr sie fort. »Die Zivilisation war vernichtet, der Magier verschwunden, die Drachen zogen sich an entlegene Orte zurück und leckten ihre Wunden. Die wenigen Menschen, Eiben und Zwerge, die überlebt hatten, versteckten sich über Jahrhunderte in den Wäldern und fristeten ein armseliges Dasein. Erst viel später entwickelten sie eine neue Kultur, begannen Städte zu bauen und läuteten ein neues Zeitalter ein.

Der weiße Drache wurde sehr alt, doch alle seine Nachkommen waren kupfern, wie seine Eltern. Ich bin der letzte Nachfahre, der den weißen Drachen zum Vater hat.

Lange waren die Drachenfiguren nicht wichtig, denn der weiße Drache hatte ihnen die Macht genommen, doch als er starb, lebte die Gefahr wieder auf. Astorin ist ein großer Zauberer, und wie der Magier vor ihm ist er von Herrschsucht besessen. Er hat sich aufgemacht, die Teile zu suchen und zu vereinen. Er will erfolgreicher sein, als der Magier vor vielen tausend Jahren. In einem Punkt jedoch irrt er. Die weißen Drachen sind nicht endgültig aus den Welten verschwunden, denn ich trage das Erbe im Verborgenen in mir, und in der nächsten Generation wird es wieder erblühen.«

Der Blick ihrer gelben Augen wanderte zu dem pergamentartigen, ovalen Gebilde zwischen ihren Krallen.

»In dieser Eihülle ruht der Nachfahre des weißen Drachen«, fuhr Peramina fort, »und auch er wird schimmernd weiß wie das Sonnenlicht am Mittag sein. Bald wird er das Licht der Welt erblicken, die Schalen abstreifen und der Krone ihre Macht nehmen.

Es wird nicht lange dauern, bis Astorin davon erfährt. Er wird sich aufmachen und alles daransetzen, das Drachenkind zu töten, das seiner Macht im Wege steht. Es gibt nur einen Ort, wo es in Sicherheit aufwachsen kann: im Land der Drachen, den nördlichen Vulkanbergen. Bringt es dorthin und übergebt es dem großen Goldenen, dann ist eure Aufgabe erfüllt.«

* * *

Verwirrt versuchten die Gefährten zu verstehen, was sie da gehört hatten. Sacht fügten sich einzelne Teile – Fetzen von Sagen, Gerüchte, Geschichten – zu einem Bild zusammen.

»Aber wie sollen wir den goldenen Drachen finden?«, fragte Rolana. »Keiner von uns kennt den Weg zu den Vulkanbergen des Nordens.«

»Verlass dich auf das Amulett, es wird dir den Weg zeigen. Meidet Karawanenstraßen, Dörfer und belebte Plätze. Je später Astorin von eurer Reise erfährt, desto eher könnt ihr euer Ziel sicher erreichen. Eilt jetzt, meine Zeit ist abgelaufen.« Ein Zittern lief durch den Körper des Drachen.

Rolana lief zu ihm. Ich kann dir vielleicht helfen, ich kann versuchen, die Schmerzen zu lindern.

Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ihr eure Aufgabe erfüllt. Verlasst mich jetzt, die Welt wartet auf eure Hilfe. Peramina legte den Kopf auf die Klauen und schloss die Augen, ihr Atem kam stoßweise. Rolana konnte sich nicht von ihr trennen. Sie legte ihre Hände auf die Nüstern des Drachen und ließ den Schmerz in ihre Seele fluten. Es verlangte sie danach, dem edlen Wesen zu helfen, doch die Macht der Gefühle raubte ihr fast die Sinne.

Thunin hatte sich inzwischen von seiner Erstarrung erholt und knuffte Cay in die Seite. »Los, wir müssen eine Trage bauen, um das Riesenei von hier wegzukriegen.«

Mühsam riss Cay seinen Blick von Rolana und dem Drachen los. »Ja, mit zwei Decken und einem Seil müsste es gehen.«

Kurz darauf legten sie die kostbare Fracht behutsam auf die Decken. Mit Seilschlingen über den Schultern konnten sie das Ei zu zweit bequem tragen.

Ibis kniete an einem Haufen glitzernder Edelsteine nieder.

»Lass das!«, zischte der Zwerg. »Wie kannst du in so einem Augenblick nur an diesen Kram denken?«

Die Elbe schob beleidigt die Unterlippe vor. »Sie kann den Schatz sowieso nicht mehr brauchen!«

Die Augen des Drachen flatterten noch einmal. »Nehmt mit, was ihr für die Reise benötigt – an weltlichen Schätzen soll eure Mission nicht scheitern.«

Ibis warf Thunin einen triumphierenden Blick zu und ließ eine Hand voll Edelsteine in ihrem Rucksack verschwinden. Es folgte noch ein Häufchen Goldstücke. Nur schweren Herzens verzichtete sie auf weitere Schätze, denn sie musste Thunins Rucksack auf dem Rückweg tragen und fühlte jetzt schon, wie das Gewicht sie niederdrückte.

Lahryn nahm Rolana bei der Hand und führte sie von dem sterbenden Drachen weg. »Wir müssen gehen. Komm, so hilfst du Peramina am besten.«

Die junge Priesterin warf noch einen letzten Blick zurück. Sie würde Peraminas Bild auf ewig in ihrem Herzen tragen. »Wir werden dich nicht enttäuschen«, flüsterte sie, schluckte die Tränen herunter und folgte den anderen in den hohen, schmalen Gang hinein.

* * *

»Verdammt, renn doch nicht so! Wie soll ich bei deinen riesigen Schritten denn mitkommen?!«, beschwerte sich Thunin.

»Wenn ich langsam gehe, werde ich viel schneller müde«, verteidigte sich der große Kämpfer.

»So hat das keinen Sinn.« Lahryn wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ den schweren Rucksack zu Boden sinken, Rolana und Ibis folgten seinem Beispiel. »Unser Gepäck ist einfach zu schwer.«

Cay streckte den Arm aus. »Ich nehme meinen Rucksack wieder.«

Der Magier schüttelte den Kopf. »Ihr beide habt an dem Ei genug zu schleppen. Nein, es ist besser, wenn wir einen Teil des Wassers und ein paar andere schwere Dinge zurücklassen, die jetzt nicht so wichtig sind. Außerdem bin ich dafür, wenigstens ein paar Stunden zu rasten.«

»Ist ja prima, dass da endlich mal jemand drauf kommt!«

Ibis nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserschlauch und ließ sich dann neben ihren Rucksack fallen. »Eigentlich hatte ich nicht vor, mir das Schlafen völlig abzugewöhnen. Wird auf die Dauer ein bisschen anstrengend.« Sie gähnte herzhaft, die Augen fielen ihr zu, und kurz darauf war sie eingeschlafen.

Rolana saß ein Stück entfernt, das gläserne Amulett fest in der Hand. In Meditation versunken lauschte sie den Herzschlägen des Drachen und versuchte, ihm in seinen letzten Stunden ein wenig Nähe zu geben. Peraminas Gedanken erreichten sie nur noch verschwommen, dann riss die Verbindung ab. Ihr Geist verließ das Gefängnis des Körpers und schwang sich ins gleißende Licht auf, das ihn warm umfing.

* * *

Es klopfte. Vertos hob den Kopf und drehte den Brief um, an dem er geschrieben hatte.

Saranga streckte den Kopf herein. »Stör ich?«

»Ach du bist ‘s. Ich dachte, es sei – nun gut, nein, du störst nicht, komm nur rein. Ich schreibe gerade eine Nachricht an Astorin und möchte den Falken heute Nacht noch losschicken.«

Beim Namen des Magiers verzog Saranga voller Abscheu das Gesicht. »Ich hoffe nur, dass ich seine Gesellschaft nicht so schnell wieder genießen muss.«

»Sei nicht kindisch! Man braucht seinen Auftraggeber nicht zu mögen – Hauptsache, er bezahlt reichlich.«

»Tolle Einstellung! Was ich dich schon lange mal fragen wollte: Warum haben wir Astorin eigentlich angelogen und ihm gesagt, die Bücher, die wir den Priestern abgenommen haben, seien alle verbrannt? Schließlich haben wir wochenlang zwei Packpferde hinter uns hergezerrt, um die alten Dinger hierher nach Ehniport zu bringen. Astorin hätte sicher gut gezahlt, schließlich ist er ganz wild auf die Bücher.«

»Eben! Es ist unklug, sich alle Trümpfe aus der Hand nehmen zu lassen. Die blaue Drachenfigur hat uns viel Geld und gute Karten bei ihm eingebracht. Jetzt braucht er eines der Tore, das in die Eiben- oder in die Zwergenwelt führt.«

»Wozu?«

Vertos schüttelte langsam den Kopf. »Das weiß ich leider noch nicht. Das gehört auch zu den Dingen, die ich unbedingt herausfinden muss. Ich werde noch viel arbeiten müssen, bis ich die Bücher entziffert habe, doch ich glaube, sie sind der Schlüssel. Wenn wir sie Astorin jetzt überlassen, dann werden wir vielleicht überflüssig. Wir wissen schon sehr viel. Vielleicht zu viel. Und wir sind teuer. Das könnte sich als gefährliche Mischung herausstellen.«

»Wir sind aber auch sehr gut. Er wird es nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen. – Nicht solange ihm noch Drachenfiguren fehlen.«

»Was weißt du, was in seinem kranken Hirn vor sich geht?«

Saranga hob erstaunt die Augenbrauen. »Dass du so respektlos von dem großen Magier sprichst?«, sagte sie geziert.

»Ich habe Respekt vor seiner Macht, seiner Zauberkunst und seinem Gold. Ich habe aber nie behauptet, dass ich ihm traue. Du sagst doch immer: Wer misstrauisch ist, lebt länger. Schließlich will ich mein Gold auch noch genießen können.«

Saranga flegelte sich in einen Sessel und streckte die Beine von sich. »Das glaub ich dir nicht. Du hast schon Reichtümer für mehrere Leben angehäuft – genau wie ich. Doch du liebst dieses Leben, die Aufregung und das Kribbeln in der Luft, deshalb arbeitest du für ihn.«

»Vielleicht hast du Recht. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ist dir bewusst, wie viel seit Jahrhunderten vergessene Magie in diesen Büchern steckt?« Vertos’ Augen begannen zu funkeln. »Kein Gold der Welt kann aufwiegen, was in ihnen verborgen ist. Ich kann es kaum erwarten, die Seiten aufzuschlagen, um die Sprüche zu erforschen.«

Saranga nickte langsam. Das Gold und die Macht der Magie, sie konnten aus Freunden leicht Feinde machen. Die Kämpferin nahm sich vor, wachsam zu bleiben. Um das Thema zu beenden, schlenderte sie zum Schreibtisch und zog den Brief mit spitzen Fingern ins Licht. »Darf ich?« Der Magier nickte.

Astorin, nach langer Reise sind wir vor zwei Tagen sicher in Ehniport angekommen. Wie immer haben wir uns im Stadthaus des Herzogs Rudolf von Ingerstein einquartiert. Wir haben Glück, der Herzog wohnt zurzeit auf seiner Burg. So kann er uns nicht in die Quere kommen.

Gleich nach unserer Ankunft habe ich versucht, mit Ferule Kontakt aufzunehmen, doch dabei sind wir auf ein kleines Problem gestoßen. Ferule hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen und die Führung der Unterwelt seinem Sohn Querno überlassen. Bisher habe ich nichts Gutes über

Querno gehört. Er ist habgierig, rücksichtslos und grausam. Ich habe ihm bereits signalisiert, dass wir mit ihm verhandeln wollen, doch bisher hat er sich nicht blicken lassen.

Sobald wir unsere Geldgeschäfte in Ehniport erledigt haben, segeln wir nach Osten, um einem Hinweis zu folgen, den wir vor der Zerstörung der Aufzeichnungen entziffern konnten. Es könnte also sein, dass Ihr eine Weile nichts von uns hört ...

Leise Schritte vor der Tür erregten Sarangas Aufmerksamkeit. Es klang nicht nach den trippelnden Schritten des Zimmermädchens und auch nicht nach den schweren Stiefeln des Portiers. Ohne die Tür aus den Augen zu lassen, legte sie den Brief auf den Schreibtisch zurück und zog ihr Schwert.

»Was ist?« Der Magier hatte nichts gehört und sah Saranga erstaunt an.

»Schsch, da ist jemand!« Doch bevor Saranga sich hinter der Tür verstecken konnte, flog sie schon auf und krachte gegen die Wand. Fünf Männer kamen – mit Säbeln und Schwertern bewaffnet – ins Zimmer gestürmt. Sie hatten das Gesicht mit einem Tuch verhüllt, sodass nur ihre Augen zu erkennen waren. Ein großer Kerl mit flammend rotem Haar ging auf Vertos zu und packte ihn unsanft am Arm.

»Los, mitkommen! Ihr wart doch so versessen darauf, mit Querno zu reden. Jetzt bekommt ihr die Gelegenheit dazu.«

»Nimm deine dreckigen Finger weg«, fuhr Saranga ihn an und hob drohend das Schwert.

»Frauen sollten die Klappe halten und nicht mit Waffen herumfuchteln!«

Sarangas Augen wurden schmal. »Wie gut ich im Waffenfuchteln bin, können wir gerne ausprobieren, wenn du dich traust und nicht nur das Maul aufreißen kannst.«

»Setz dich hin und sei ruhig. Wenn du schön brav bist, werde ich dich nachher nur etwas zähmen und dir nicht die Kehle durchschneiden. Querno hat gesagt, dass wir ihm den Magier lebend bringen sollen. Was ich mit dir mache, ist also egal.«

Ohne ein Wort zu sagen, drang Saranga mit ihrem Schwert auf ihn ein. Ihren flinken, präzise gezielten Schlägen war der Rothaarige nicht gewachsen. Schritt für Schritt wich er bis zur Wand zurück.

Unschlüssig, ob sie sich in den Kampf einmischen sollten, blieben die anderen vier an der Tür stehen. »Es ist Saranga«, raunte ein Kerl mit Augenklappe dem Langen neben sich zu. Der riss entsetzt die Augen auf und pfiff durch die schiefen Zähne. »Ich glaub, Jen hat nen Fehler gemacht.«

»Hört sofort auf, ihr beiden«, zischte Vertos wütend. »Ihr weckt ja das ganze Haus.«

Saranga hatte den unverschämten Angreifer an die Wand gedrängt. Ihn zu töten wäre ein Leichtes für sie, doch sie wollte das Verhältnis zur mächtigen Gilde der Unterwelt nicht noch mehr belasten. Ungestraft durfte er allerdings nicht davonkommen! Mit einer raschen Drehung des Handgelenks schlitzte sie sein metallbeschlagenes Lederwams auf und zog ihm die Klinge über den Oberarm. Dann trat sie einen Schritt zurück und senkte das Schwert. Ungläubig strich Jen über seinen Arm und starrte auf das Blut in seiner Hand.

»Können wir jetzt endlich zu Querno gehen?« Ungeduld schwang in der Stimme des Magiers.

»Wir sollen euch entwaffnen«, brummte Jen unwillig und streckte die Hand nach Sarangas Schwert aus.

»Ach, du hast noch nicht genug? Dann versuch’s! Ich werde dir mit Freude die Hand abschlagen.«

Jen zuckte zurück. »Ist gut, ihr könnt eure Waffen behalten.«

Sie nahmen Vertos und Saranga in die Mitte und stiegen die Treppe in die große Halle hinab. Keine Menschenseele war zu sehen, Vertos hoffte, dass sie keinem der Bediensteten begegnen würden. Es war am besten, wenn der nächtliche Besuch unbemerkt blieb. Als Jen die Kellertür öffnete, fiel Vertos’ Blick auf eine zusammengesunkene Gestalt an der Wand, blutüberströmt, mit durchgeschnittener Kehle. Der Magier sog scharf die Luft ein und bückte sich zu dem Toten herab. Es war der Portier.

»Verdammt, musste das denn sein?«, zischte er den Rothaarigen böse an. »Hängt es doch gleich am Marktplatz aus, dass ihr heute Nacht hier wart. Was ist, wenn einer der anderen Bediensteten die Leiche findet?«

Jen grinste. »Können sie nicht!«

Vertos griff entsetzt nach Jens Ärmel. »Ihr habt doch nicht etwa alle ermordet?«

»Nee, nee, reg dich nur wieder ab. Wir haben sie zu sauberen Paketen verschnürt, damit sie heute Nacht keinen Ärger machen.«

»Und wenn die Wache morgen kommt, ist es mit unserem bequemen Quartier vorbei.«

»Ach was«, meinte Jen und zuckte mit den Schultern.

»Wir haben ein bisschen Silber eingepackt. Die Wache wird einen Tag lang Geschrei machen, und dann ist alles vergessen. Die traut sich nicht in Quernos Reich. Solche Überfälle sind hier so häufig, dass in ein paar Tagen keiner mehr darüber redet. Ihr müsst nur entsetzt über die hiesigen Zustände die Hände ringen, und keiner wird euch mit den Vorgängen von heute Nacht in Verbindung bringen.«

Lautlos huschten die Schatten durch die nächtlichen Straßen von Ehniport. Sie mieden die breiten Alleen und von Nachtschwärmern benutzten Wege und schlichen stattdessen durch enge Gassen, über Höfe und durch Gärten. Bald hatten Vertos und Saranga jegliche Orientierung verloren. Jen führte sie zwischen zwei Lagerschuppen hindurch. Sie mussten irgendwo in der Nähe des Hafens sein. Der durchdringende Gestank nach faulenden Fischresten war unverkennbar. Unvermittelt hielt Jen an. »Ab jetzt müssen wir euch die Augen verbinden.«

Saranga schüttelte den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage. Für wie blöd haltet ihr uns eigentlich?«

»Wenn ihr mit Querno reden wollt, ist das die einzige Möglichkeit. Nur Mitglieder der Gilde dürfen den Weg kennen.«

»Aber ...« Vertos drückte Saranga vielsagend die Hand, und sie verstummte.

»Wir respektieren eure Vorschriften. Solange wir unsere Waffen behalten können, gibt es kein Problem.«

Verdammt, was redete er nur? Wie leicht konnten sie in eine Falle gelockt werden, wenn sie nichts sehen konnten! Sarangas Gedanken rasten. Wurde er langsam senil? Warum traute er diesen Typen? Widerstrebend ließ sie sich die Augen verbinden, ihre Hand umklammerte den Schwertgriff. Sie spürte die Finger eines Mannes am Arm, der sie über das holprige Pflaster führte. Eine Tür quietschte leise, dann lief sie über Holzplanken, irgendwo plätscherte Wasser. Ihr Führer blieb stehen. Die Kämpferin spürte Vertos dicht hinter sich und roch die vertraute Mischung aus Kräutern, süßlichem Parfüm und Tabak. Er sang kaum hörbar vor sich hin. Sie fühlte seine Hand, die sie drängte, den Kopf zu wenden, seine Finger huschten über ihre verbundenen Augen, dann verstummte sein Gesang.

Zwei Fackeln flammten auf. Geblendet vom grellen Licht schloss Saranga die Augen, dann blinzelte sie ungläubig. Jetzt verstand sie. Vertos war doch ein schlauer Fuchs! Mit Hilfe seiner Magie konnten sie die Männer unbemerkt im Auge behalten und ihren Weg erkennen.

Über eine Stunde führten die finsteren Gesellen den Magier und die Kämpferin durch das unterirdische Labyrinth. Erst waren die Gänge feucht und modrig, dann ließ der Gestank nach Tang und Fisch nach. Sie stiegen eine Treppe hinauf, passierten unzählige Kreuzungen und folgten dann einem gemauerten Gewölbegang. Saranga versuchte, sich den Weg zu merken, doch bei den vielen Abzweigungen musste sie bald einsehen, dass sie ihn alleine nicht zurückfinden würde. In die Wände waren immer wieder geheimnisvolle Runen geritzt, aber ihr Führer schob sie so schnell weiter, dass Saranga keine Zeit blieb, sich die Zeichen einzuprägen.

Plötzlich blieb Jen vor einer großen Steinplatte stehen. Direkt daneben war in der Wand eine Nische ausgespart, auf deren glatt poliertem Sims eine Schüssel mit kleinen Metallkugeln stand. Jen griff in die Schüssel und holte eine goldene, eine kupferne und eine stumpf graue Kugel heraus. Jetzt erst bemerkte Saranga die drei Vertiefungen in der polierten Platte, die Jen sorgfältig mit je einer Kugel füllte. Saranga reckte den Kopf, um besser sehen zu können. Mit einem leisen Knirschen wich die Steinplatte zur Seite, und der Kerl an ihrer Seite schob die Kämpferin weiter. Sie sah noch, wie Jen die Kugeln in die Schüssel zurückwarf, ehe sich die Steinplatte wieder schloss.

Kupfer, Gold, Grau, Kupfer, Gold, Grau, wiederholte Saranga ein paar Mal in Gedanken.

Als Jen eine schwere Holztür öffnete, brandete ihnen Stimmengewirr und Bierdunst entgegen. Die Männer führten Vertos und Saranga in die Mitte des Raums und nahmen ihnen die Augenbinden ab. Scheinbar verwirrt blinzelten sie in die Helligkeit der zahlreichen Fackeln, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren. Der Raum war groß und hatte eine hohe Gewölbedecke, die durch all den Dunst, Mief und Rauch hindurch kaum zu erkennen war. Die Wände der Halle waren mit obszönen Darstellungen beschmiert und zeugten eher von der blühenden Fantasie des Malers als von seinen künstlerischen Fähigkeiten. An jeder Längsseite stand eine lange Tafel, an der jeweils ein Dutzend Männer saß. Sie tranken Bier aus tönernen Krügen und unterhielten sich laut. Drei spärlich bekleidete junge Mädchen eilten durch einen Torbogen im Hintergrund herein und bedienten die schmutzigen Kerle. Als Erstes boten sie einem schlanken jungen Mann zu essen an, der mit zwei anderen an einem erhöht stehenden Tisch an der Rückwand des Raums saß.

Als Jen und seine Männer Saranga und Vertos in die Mitte der Halle führten, verebbte der Lärm, und alle Augenpaare richteten sich auf die Neuankömmlinge.

»Warum hast du sie nicht entwaffnet?«, drang die Stimme des jungen Mannes durch die trüben Rauchschwaden.

Jen zuckte zusammen und wurde bleich. »Sie wollten nicht und da – ich dachte, es ist nicht so wichtig.«

»So, du dachtest? Seit wann sollst du denken und meine Befehle ignorieren? Aber ich bin heute ausnahmsweise gnädig gestimmt.« Lässig erhob er sich und trat einige Schritte vor.

Er war wie ein Edelmann gekleidet. Seine helle Wildlederhose war schön gearbeitet, und die hohen Stiefel passten wie angegossen. Auch die prunkvoll bestickte lange Jacke, die von einer breiten Goldspange zusammengehalten wurde, war eine hervorragende Arbeit. An Hals und Ärmeln quoll reichlich Spitze hervor, die jedoch grau und voller Fettflecken war. Sein Haar fiel in dunklen Locken auf den Rücken und war nach der herrschenden Mode mit einer Schleife im Nacken zusammengebunden.

»Komm zu mir!« Plötzlich hatte er eine Lederpeitsche in der Hand. Der große Rubin an seinem Finger blitzte im Fackelschein.

Sarangas Blick wanderte zwischen dem Schönling und Jen hin und her, der mit erhobenem Haupt auf den jungen Mann zuschritt. Die Peitsche zischte durch die Luft, und auf Jens Wange zeichnete sich ein blutiger Streifen ab.

»Damit ist die Sache vergessen. Lern für die Zukunft daraus.« Der junge Mann lehnte sich lässig an die Tischkante und ließ die Peitsche wieder unter seinem langen Rock verschwinden. Jen drehte sich um und schritt mit starrer Miene auf einen der Tische zu. Die Männer machten ihm auf der Bank Platz, und das Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen brachte ihm eilends einen Krug Bier.

Das war ein Fehler, dachte Saranga. Er macht sich Feinde, wenn er seine Männer vor allen anderen demütigt. Irgendwann versagen Angst und Schrecken. Dann werden sie sich von ihm abwenden, und es wird ihn das Leben kosten.

Vertos trat vor. »Ich nehme an, du bist Querno ...«

Der junge Mann betrachtete gelangweilt seinen Rubin und näselte: »Meroc, sag unserem Besuch, dass er mich angemessen ansprechen soll. Er ist hier in meinem Reich, und da kann ich ein bisschen mehr Respekt verlangen. Er soll auf die Knie gehen, wenn er mit mir spricht.«

Der bullige Kerl, der links von Querno gesessen hatte, erhob sich und nahm eine breite Axt vom Gürtel. Mit blassblauen Augen durchbohrte er Vertos, doch der hielt ihm stand.

»Ich beuge nicht einmal vor Astorin die Knie. Sagt Eurem Gorilla, dass er nicht näher kommen soll, sonst verkohle ich nicht nur seine Füße.«

Als der Angesprochene nicht reagierte und nur interessiert seine Fingernägel betrachtete, hob Vertos die Hände. Zwei bläuliche Blitze zischten aus seinen Fingerspitzen und zerbarsten vor den Füßen der beiden Männer. Die Holzbeine des Tisches färbten sich schwarz. Die anderen Männer sprangen von ihren Sitzen auf und griffen nach ihren Waffen.

»Können wir uns jetzt vernünftig unterhalten?«

Querno hob den Blick und nickte. »Aber sicher. Setzt Euch zu mir. Bei einem Krug Bier können wir über Geschäfte sprechen.« Einladend hob er die Hand.

Saranga grinste Vertos an. Man muss den Leuten nur freundlich begegnen!

Das blonde Mädchen brachte zwei Stühle an Quernos Tisch und eilte dann hinaus, um Bier zu holen. Vertos stellte den Krug zurück auf den Tisch und fixierte Querno, dessen Blick unstet durch den Raum wanderte.

»Wie Ihr sicher wisst, haben wir seit Jahren einen Vertrag mit Eurem Vater, der uns unsere Sicherheit in Ehniport garantiert, und nicht nur das. Wir haben stets freies Geleit durch die Katakomben und können den alten Tempel unter dem Nordfriedhof nutzen. Dafür zahlen wir ihm jedes Jahr einhundert Goldstücke. Wir haben einige Wochen hier zu tun und möchten im Tempel ungestört sein. Es wäre sehr freundlich, wenn Ihr Euren Männern entsprechende Anweisungen erteiltet, dass sie uns vom Zugang unter der großen Eibe aus passieren lassen.«

Querno streckte seine leeren Hände vor. »Ich habe kein Gold von Euch erhalten.«

Vertos runzelte die Stirn. »Ich sagte bereits, dass wir die Abmachung mit Eurem Vater geschlossen haben. Selbstverständlich hat er das Gold bekommen.«

»Das ist aber schade für Euch. Seht Ihr, ich bin mit meinem Vater nicht immer einig gewesen, und da habe ich beschlossen, sein Reich zu übernehmen und so zu gestalten, wie ich es für richtig halte. – Daher gibt es keinen Vertrag zwischen uns!«

»Wo ist Ferule?«

»Er ist – wie sagt man so hübsch? – indisponiert.«

»Habt Ihr ihn getötet?«

»Aber nein, er ist nur nicht ganz auf der Höhe. Außerdem kann er Euch nicht helfen.«

»Was verlangt Ihr?«

»Wir machen einen neuen Vertrag, der Euch die Genehmigung gibt, den Nordsektor zu passieren und den Tempel zu benutzen. Fünfhundert Goldstücke im Jahr sollte Euch das schon wert sein.«

»Fünfhundert Goldstücke?« Vertos sprang auf. »Ihr seid ja verrückt. Nein danke, mehr als hundert bezahle ich auf keinen Fall.«

»Gut, dann erkläre ich Euch für vogelfrei. Ist Euch das lieber?«

Vertos sah zu Saranga hinüber, die kaum merklich mit den Schultern zuckte. Sie waren in einer verzwickten Lage. Einerseits wollte Vertos sich nicht von Querno erpressen lassen, andererseits hatten sie keine Chance, die Katakomben lebend zu verlassen, wenn er seine Drohung wahr machen würde. Selbst Priester, Adlige und Stadträte schlossen Verträge mit der mächtigen Gilde der Unterwelt ab, um ihr Leben und den größten Teil ihres Vermögens zu sichern. Nun mussten sie hier erst einmal lebend herauskommen, dann konnten sie ihren Unterschlupf in eine sicherere Gegend verlegen.

Vertos zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr seid doch Geschäftsmann, da werden wir uns sicher auf einen vernünftigen Betrag einigen. Hundertfünfzig?«

»Dreihundert! Das ist mein letztes Angebot, sonst ist das Gespräch beendet.«

Saranga nickte kaum merklich. Vertos wusste, dass in ihrem Kopf bereits Rachegedanken blühten. Er würde sich diese Überlegungen für später aufheben. Wenn er nur mit Ferule reden könnte!

»Einverstanden. Wenn Ihr das Pergament fertig habt, kann einer Eurer Männer uns zum Tempel begleiten, dann können wir ihm den Tribut aushändigen.«

»Ich glaube, Ihr habt mich nicht richtig verstanden. Dies ist ein neuer Vertrag. Ihr habt keine alten Rechte mehr in Ehniport. Der alte Tempel gehört zu meinem Territorium, daher habe ich auch die Gegenstände darin in meinen Besitz genommen.« Querno grinste hämisch. »Das Gold und die wunderschönen Juwelen zieren meine Schatzkammer vorzüglich, und auch der Verkauf der alten Bücher und Schriftrollen hat mein Vermögen beträchtlich vermehrt.«

In Vertos’ Kopf rauschte es. Konnte das stimmen? Er hatte das Versteck zweifach magisch gesichert, ganz zu schweigen von der unzerstörbaren Eisentür. Querno bluffte nur! – Aber woher wusste er dann von den Büchern und Schriftrollen? Vielleicht war das nur eine Vermutung? Immerhin hatte Vertos die wertvollsten Gegenstände in Geheimfächern versteckt. Wenn es Querno gelungen war, in den Tempel vorzudringen, dann nur mit Hilfe eines Magiers. Der konnte dann aber auch die Geheimfächer aufgespürt haben.

Sie mussten hier raus und sehen, was an der Sache dran war. Vielleicht war noch was zu retten.

Vertos warf Saranga einen warnenden Blick zu und erhob sich. »Das geht in Ordnung. Wir werden das Geld bis morgen Abend besorgen.«

Querno streckte die Beine aus und lehnte sich lässig im

Stuhl zurück. »Gut, ich werde Euch bewachen lassen, damit Euch bis dahin kein Leid geschieht.« Die Drohung war nicht zu überhören. »Sobald meine Männer das Geld in Händen haben, könnt Ihr in den Tempel.«

Saranga ballte die Fäuste, als Jen ihr die Augen verband, konnte ihren Zorn aber zügeln, bis sie wieder auf den nächtlichen Straßen von Ehniport standen und Quernos Männer in der Dunkelheit verschwunden waren. Dann brach die ganze Wut aus ihr heraus, und es dauerte Stunden, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Das Vermächtnis des Kupferdrachens

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