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Prolog Rabby

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Sie saß auf den kantigen Steinen, die das Bett der Elbe begrenzten, und weinte. Es war bereits dunkel, aber dieser Herbstabend schien einer der wenigen milden Abende im Hamburger Land zu werden. Der Wind wisperte in den Weidenbüschen, die den Blick vom Strandweg her abschirmten. Eine Gruppe von Spaziergängern schritt durch das Strandgras, eine Fähre tuckerte auf dem Fluss vorbei, Scheinwerferlicht huschte über das braune Wasser, doch das Mädchen bemerkte nichts von alldem. Sie saß nur da, die Knie eng an die Brust gepresst, das Gesicht in den Händen vergraben, und schluchzte. Tränen rannen ihr über die Wangen. Die Welt um sie herum war still und leer. Ihre Seele wanderte weit weg durch eine Finsternis, die nur sie selbst sehen konnte.

Irgendetwas drang durch die Dunkelheit und kroch über die tiefen Abgründe hinweg. Das Schluchzen verstummte. Der bebende Körper erstarrte, das Gesicht noch immer in den Händen verborgen. Da war etwas. Eine Gefahr! Ein Teil ihres Geistes hatte wachsam in die Nacht gelauscht und warnte sie nun. Sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Es schien ihr, als sei es plötzlich kalt geworden. Die feuchte Kälte, die sie schaudern ließ, musste vom Fluss her kommen. Es war spät geworden. Sie war hungrig und müde, und deshalb fror sie. Es war Zeit, zu den Menschen zurückzukehren. Das war alles.

Nein, ist es nicht! Willst du wieder nicht auf deine Instinkte hören?

Nun konnte sie deutlich fühlen, dass die Kälte sich von hinten her über die Sand- und Grasflächen näherte. Das Mädchen sprang auf, die Hände abwehrend von sich gestreckt. Ihr Blick huschte zwischen den Zweigen der Weiden hindurch auf der Suche nach der heranschleichenden Gefahr.

Zuerst konnte sie nichts erkennen, dann erhob sich plötzlich die Silhouette eines großen, schlanken Mannes vor ihr, als habe er sich gerade erst aus den Schatten zu einem festen Körper zusammengefügt. Bedächtig trat er näher. Das Mädchen öffnete den Mund, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Sie konnte nur reglos dastehen und den Mann anstarren. Dabei registrierte ihr Gehirn jede Einzelheit, die das Mondlicht ihr enthüllte: sein fast hageres Gesicht mit der vorspringenden Nase und der bleichen Haut, die dunklen Augenbrauen und das schwarze, schulterlange Haar. Seine Augen schienen rot zu sein. Nein, das war nicht möglich. Es musste die Spiegelung eines Lichts vom Wasser her sein. Geräuschlos trat er näher, bis er keine drei Schritte entfernt vor ihr stand.

„Guten Abend“, sagte er mit leiser, dunkler Stimme.

„Sie haben mich erschreckt“, stieß das Mädchen hervor. Nun müsste die Panik in ihr aufsteigen, das Gefühl eines wilden Tieres, das man in einen Käfig gesperrt hat, aus dem es kein Entrinnen gibt, stattdessen fühlte sie Müdigkeit an ihren Beinen emporkriechen. Ihre Lider wogen schwer, ihr Atem ging tief und ruhig. Warum konnte sie ihren Blick nicht von diesen seltsamen Augen abwenden?

Sie fühlte, wie sein Blick über sie hinwegglitt, und es war ihr, als könne sie erkennen, was er vor sich sah: ein Mädchen, fast noch ein Kind, mit schmächtigem Körper und knochigen Armen und Beinen. Farblose Haarsträhnen hingen wirr in das nichtssagende Gesicht mit der zu kleinen Nase und den zu dünnen Lippen. Das blasse Grau der Augen machte den Eindruck eines ehemals farbigen Stoffes, der durch zu häufiges Waschen seine Leuchtkraft verloren hatte. Sie sah, wie das Interesse in seinen Augen erlosch. Gleich würde er sich abwenden und davongehen. Wie konnte es anders sein. Sie hatte diesen Blick schon zu oft gesehen, um etwas anderes zu erwarten.

Er ging nicht. Stattdessen fragte er höflich: „Darf ich mich zu dir setzen?“

Nein! Sie wollte, dass er sie nicht mehr ansah und sie in Ruhe ließ. Erstaunt bemerkte sie, wie sie nickte. Ihre Knie fühlten sich weich an. Sie sank zurück auf die Steine und starrte auf die Elbe hinaus. Der Fremde ließ sich an ihrer Seite nieder und verschränkte die Arme um seine Knie.

„Peter von Borgo“, stellte er sich vor.

Sie reagierte nicht. So etwas wie Enttäuschung war in seiner Miene, dennoch blieb er sitzen.

„Ich habe dich weinen hören“, unterbrach er nach einer Weile die Stille. Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Was mag der Grund sein, sich solcher Verzweiflung hinzugeben? Sollten Mädchen in deinem Alter nicht glücklich sein und an einem herrlichen Spätsommerabend das Leben genießen und sich freuen?“

Sie wunderte sich über seine seltsame Art zu sprechen. Er klang, als wäre er einem alten Film entstiegen. Auch fragte etwas in ihr, wie er ihr Weinen gehört haben konnte. Die Gedanken versanken jedoch in dem Nebel, der durch ihr Gehirn zog.

„Glück, Freude“, wiederholte sie stattdessen laut und lauschte diesen Worten nach, als habe sie sie noch nie vernommen. „Über was soll ich mich freuen? Kann ich jemals Glück empfinden? Ich werde mich hier auf der Stelle ins Wasser stürzen. Vielleicht ist es dann wenigstens friedlich.“ Tränen füllten ihre Augen und rannen über ihre Wangen herab.

Peter von Borgo hob fragend die Brauen. Offensichtlich war der Damm gebrochen, und es war keine weitere Aufforderung nötig.

„Sie wollen mich einsperren“, schluchzte das Mädchen. „Er hat getobt und mich geschlagen, und nun will er mich wegbringen, bis alles vorbei ist. Sie hat nur genickt und geweint und mich vorwurfsvoll angesehen. Ich sei die größte Enttäuschung ihres Lebens. Zum Pfarrer ist sie gelaufen und hat mit ihm darüber geredet, und er hat ihr die Adresse gegeben.“ Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Marienstift Schwagstorf. Zu den Franziskanerinnen wollen sie mich abschieben.“ Das Schluchzen nahm einen hysterischen Klang an. Ihr Begleiter zog angewidert die Oberlippe hoch und rückte ein Stück von ihr ab.

„Ich halte das nicht aus. Ich sterbe, wenn ich allein bin. Rose darf nicht mitkommen. Ich zittere schon, wenn ich eine Stunde ohne sie bin. Es ist alles so dunkel um mich. Ich kann das nicht aushalten. Nachts sehe ich immer diese Gesichter um mich. Böse Fratzen, die näher und näher kommen. Ich will schreien und davonlaufen, doch ich kann mich nicht rühren, und kein Ton kommt aus meinem Mund. Es drückt mir die Luft ab. Ich ersticke, wenn Rose nachts nicht meine Hand hält.“ Sie wischte sich die Tränen an ihrem Ärmel ab und sah auf die Elbe hinaus. Ihre Stimme war noch immer leise, aber der jämmerliche Klang war nun verschwunden.

„Ich habe Angst davor, die Augen zuzumachen, doch irgendwann ist die Erschöpfung stärker, und dann beginnt es von Neuem. Immer wieder, immer wieder.“ Sie riss in Panik die Augen auf und starrte den Mann an ihrer Seite an, doch sie sah etwas anderes.

„Nein, lieber springe ich in den Fluss. Das Wasser macht mir auch Angst, aber ich weiß, es dauert nicht lange, und dann ist alles für immer zu Ende.“ Ihr Blick kehrte aus der Ferne zurück und richtete sich nun voller Erstaunen auf Peter von Borgo.

„Was ist nur in mich gefahren?“, murmelte sie und schüttelte den Kopf.

Der Mann betrachtete das braun schäumende Wasser und sah dann wieder zu dem Mädchen an seiner Seite, das ihn noch immer verwirrt anstarrte.

„Nun, ich will mich nicht einmischen“, sagte er. „Das Ertrinken soll eine qualvolle Sache sein, aber Schmerz und Krämpfe währen nicht ewig. Da hast du sicher recht.“ Er streckte den Arm aus und deutete auf den Fluss hinaus. „Wenn du fest entschlossen bist, diesen Schritt zu tun – gut, ich werde dich nicht aufhalten. Die Flut wird deine Leiche mit sich nehmen.“ Das Mädchen schwieg. „Andererseits habe ich nur zu oft die Erfahrung gemacht, dass Menschen auch das größte Leid schnell überwinden. Sie sind vergesslich. Die Zeit schleift die Kanten ab, wie das Wasser am Grund dieses Stroms die Kiesel rundet. Gib den Mühlen der Zeit zehn Jahre. Was hast du zu verlieren? Ist der Schmerz nach dieser Zeit immer noch da, ja, dann spring! Die Elbe wird dich auch dann noch aufnehmen.“

Das Mädchen öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.

Vom Geesthang her näherten sich eilige Schritte. „Rabby?“, erklang eine atemlose Stimme. „Rabby? Bist du hier draußen? Verdammt, antworte mir!“

Ein Mädchen rannte zwischen den hohen Gräsern auf das Ufer zu. Peter von Borgo konnte zwischen den Weidenzweigen ihre Silhouette im Mondlicht sehen. Sie war nicht nur größer als die Gestalt an seiner Seite, ihr Körper zeigte auch äußerlich, dass sie das Kindsein hinter sich gelassen hatte. Ein üppiger Busen wippte unter ihrem knappen T-Shirt, das die schmale Taille freiließ. Hüften und Schenkel waren durchaus fraulich zu nennen. Ihr langes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, flatterte hinter ihr her, als sie über den Sand auf die beiden Schatten am Ufer zulief. Die Hände in die Taille gestützt, blieb sie schwer atmend stehen.

„Rabby, warum antwortest du nicht? Ich habe mir Sorgen gemacht! Ich dachte, du bist nach oben gegangen, und dann warst du plötzlich weg.“

„Ich wollte allein sein und nachdenken. Cherry, nicht böse sein.“

Das Mädchen musterte Peter von Borgo misstrauisch. „Allein? So? Und wer ist das hier?“

Rabby zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Er war plötzlich da und wollte nicht mehr gehen.“

Cherry griff nach dem Arm der Freundin und zog sie hoch. Schützend schob sie sich vor die schmächtige Gestalt. Plötzlich huschte Erkennen über ihr Gesicht. „Sie sind das!“, stieß sie aus. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell, ihr Blick huschte über den Mann, der nun auch aufgestanden war. „Hören Sie, ich bin Ihnen sehr dankbar, aber nun verschwinden Sie und lassen Sie meine Freundin in Ruhe.“ Ihre Miene war feindselig.

„Was habe ich getan, um dein Misstrauen zu verdienen?“, fragte Peter von Borgo lächelnd. Ein kurzer Blick aus seinen roten Augen, und der Aufruhr musste in sich zusammenfallen. Ein schnurrendes Kätzchen würde der Tiger in seinen Händen sein, wie all die anderen auch.

„Und wenn Sie noch so süßlich lächeln, mir machen Sie nichts vor. Ich kann das Böse spüren!“, fauchte das Mädchen, packte Rabby bei den Handgelenken und zerrte sie hinter sich her. Der Vampir starrte den beiden nach. Noch lange stand er dort am Ufer der Elbe, ohne sich zu rühren oder auch nur den Blick abzuwenden.

So etwas war ihm in fast vierhundert Jahren noch nicht passiert.

Feuer der Rache

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