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Private Ermittlungen

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Die Tage schlichen dahin. Nachdem ihr Exmann Julia und Leila am Ostermontag wieder abgeholt hatte, fühlte sich Sabine noch einsamer und nutzloser. Immer wieder ertappte sie sich dabei, auf dem Weg nach Blankenese zu sein, mit der Fähre, dem Wagen oder der S-Bahn – auch wenn sie ursprünglich ein ganz anderes Ziel gehabt hatte.

Wenn wenigstens Ingrid da wäre! Sie vermisste ihre Freundin, die sich mit ihrem neuen Lover für einige Wochen nach Bali abgesetzt hatte. Sie könnte ihr im „Ragazza“ helfen. Nicht dass sich Sabine danach sehnte, Sozialarbeiterin für drogenabhängige Prostituierte zu werden. Dennoch wäre das wenigstens eine sinnvolle Beschäftigung, und sie würde von den sich im Kreis drehenden Gedanken abgelenkt werden.

Wieder einmal stand sie am Baurs Park vor dem geschlossenen Eisentor und sah die Auffahrt entlang zu der achtseitigen, weißen Villa, die im hellen Sonnenlicht vor ihr lag. Jedes Detail war ihr inzwischen vertraut: die runden Säulen, die verspielten Gitter der Balkonbrüstung, die umlaufende Balustrade, hinter der sich das flache Dach verbarg. Der Wind wisperte in den Blättern der Bäume. Das Tor war nicht verschlossen. Die Hand auf der Klinke, stand Sabine da.

Dort drinnen lag er irgendwo in einem dunklen Raum, sein Atem war verstummt, der Körper erstarrt. Er konnte sie nicht beobachten, würde nicht plötzlich hinter ihr stehen und sie überraschen. Dennoch war ihr, als flüstere seine Stimme in ihrem Kopf: Ja, komm zu mir, genieße die Kühle des Gartens, berausche dich an dem weiten Blick über die Elbe, und dann tritt ein und lass dich nieder. Schlafe, bis die Sonne versinkt, dann werde ich dich wecken.

Sabine schüttelte energisch den Kopf und ließ die Klinke los, als habe sie sich die Finger verbrannt.

Er war ein Teufel, ein Dämon, wie sie in mittelalterlichen Geschichten beschrieben wurden. Und nun saß er in ihrem Kopf und zerstörte ihren Verstand. Sie hatte ein ganz normales Leben geführt, bis ihr der Vampir bei ihrem letzten Fall in die Quere gekommen war. Er hatte sich in ihr Leben eingemischt und ihren Geist in vergangene Zeiten entführt. Immer wieder fand sie sich plötzlich an anderen Orten wieder und konnte sich nicht erinnern, wie sie dorthin gekommen war. Ganze Abende waren wie ausgelöscht. Nur nebelhafte, verwirrende Erinnerungen, die nicht ihre eigenen sein konnten, blieben zurück. Eine Weile hatte sie der unheimliche Verdacht bedrängt, sie würde langsam verrückt. Inzwischen glaubte sie das Unglaubliche. Aber wie konnte sie es zulassen, dass ein Psychiater in ihren Erinnerungen herumstocherte? Was würde er mit ihr machen, wenn er diese Gedanken fand?

Vielleicht war es richtig, dass Tieze sie von den Kollegen fernhielt. War sie denn noch eine Kriminalbeamtin, auf deren Urteilsvermögen man sich verlassen konnte? Würde sie in kritischen Situationen einen kühlen Kopf bewahren und richtig entscheiden, oder war sie zu einer Gefahr für die ganze Gruppe geworden?

Panik stieg in ihr auf. Sie sah sich in einem Bett mit Gittern, die Arme an die Stäbe gefesselt. Auch vor dem Fenster unterbrachen dicke Streben das Tageslicht. Sabine fuhr herum und rannte los. Sie überlegte nicht, wohin, sie wusste nur, dass sie weit weg von diesen unheilvollen Gedanken wollte. Ohne innezuhalten, lief sie den Weg den Geesthang hinunter, bis der düstere Wald am Strandweg hinter ihr zurückblieb.

Es war ein ganz normaler Frühlingstag. Wolken jagten über den Himmel, die Sonne blitzte immer wieder zwischen ihnen hindurch, ein paar Segel glitten über die Elbe, Spaziergänger mit Hunden schlenderten den Strandweg entlang.

Sabine schämte sich ein wenig. Was sollte sie nun tun? Und so landete sie zum dritten Mal in dieser Woche an Rosa Maschecks Küchentisch. Heute hatte die alte Dame Sandkuchen gebacken, von dem sie ein Stück mit eingekochten Kirschen und einem Berg Schlagsahne auf Sabines Teller legte.

„Sie machen mir Sorgen“, sagte Frau Mascheck und runzelte die ansonsten noch glatte Stirn. „Es fühlt sich an, als gäbe es eine finstere Kammer tief in Ihnen, die Ihnen großen Kummer bereitet. Statt sich dem Schmerz zu stellen und ihn zu überwinden, vergraben Sie ihn immer tiefer. Doch wir können nicht vor uns selbst davonlaufen. Wenn wir die dunklen Kammern nicht finden und sie erhellen, zerstören sie uns von innen heraus.“

Sabine schwieg und stocherte in ihrem Kuchen herum.

Rosa Mascheck presste die Lippen zusammen. Ihr Blick huschte zwischen ihrem Teller und Sabine hin und her. Offensichtlich rang sie mit einer Entscheidung, aber erst als Tassen und Teller geleert waren, sprach sie wieder.

„Es ist nun schon so viele Jahre her, dass mein Sohn von seiner Ausfahrt nicht zurückkam, aber ich vermisse ihn noch immer. Oft macht es mir nichts aus, allein zu sein, doch dann wird es mir wieder schmerzlich bewusst, dass von der Familie kaum jemand geblieben ist. – Außer Peter, aber der ist ein Einzelgänger, der sich nichts aus seiner alten Tante macht. Das soll jetzt kein Vorwurf sein“, fuhr sie schnell fort. Sabine betrachtete sie aufmerksam. „Nur manches Mal wünsche ich mir jemanden, den ich um Rat fragen kann, der mir zur Seite steht und mir hilft. Ich meine jetzt nicht jemanden, der mir im Haushalt zur Hand geht. Seit Tagen trage ich eine Sorge mit mir herum, die mich quält. Ich würde so gern helfen, weiß aber nicht, was tun.“ Sie warf Sabine einen schnellen Blick zu.

„Wollen Sie mir nicht von Ihrer Sorge erzählen?“, reagierte die Kommissarin wie erwartet und fühlte sich dabei, als wäre sie blindlings in einen trüben Tümpel gesprungen, ohne vorher zu erkunden, wie tief das Wasser war. Sie wunderte sich über dieses seltsame Gefühl. Ging es nicht nur darum, einer einsamen, alten Dame, für die sie freundschaftliche Gefühle entwickelte, zuzuhören, Mitgefühl zu zeigen und ein paar Erinnerungen mit ihr zu teilen?

„Meine Nachbarin von schräg gegenüber ist außer sich, und ich teile ihre Sorgen“, begann Rosa Mascheck. „Irene lebt schon eine Ewigkeit hier, und vor ein paar Jahren sind ihre Enkelinnen Maike und Iris zu ihr gezogen. Sie bewohnen die beiden Kammern unter dem Dach, für die Irene sowieso keine Verwendung mehr hat. Seit sie sich vor fünf Jahren die Hüfte gebrochen hat, kommt sie die steile Treppe unters Dach nicht mehr hinauf. Die Mädchen erledigen nun ihre Einkäufe und halten das Haus sauber – soweit sie es selbst nicht mehr schafft.“

Sabine nickte. Die Wachsamkeit in ihrem Blick verebbte. Sollte sie Wasserkisten die Treppen der Panzerstraße hochtragen oder die Nachbarin zum Arzt fahren, weil die Mädchen genug davon hatten, ihre gebrechliche Großmutter zu umsorgen?

„Vor fünf Tagen, am Ostersonntag, ist Iris, die Zweitgeborene der Zwillinge, verschwunden, und Irene hat seitdem nichts mehr von ihr gehört.“

„Wie alt ist das Mädchen?“, fragte die Kommissarin und versuchte, das mulmige Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren. Es war der Fluch ihrer Arbeit, immer gleich die schlimmsten Bilder vor sich zu sehen.

„Vierundzwanzig.“

„Sie ist eine erwachsene Frau! Könnte es sein, dass sie weggefahren ist? Mit einem Freund? Dass sie vergessen hat, es ihrer Großmutter zu sagen? Oder dass Ihre Nachbarin sich nicht mehr daran erinnert?“

Rosa Mascheck seufzte. „Solche Fragen hat der Polizist ihr auch gestellt. Ich verstehe ja, dass das zu der üblichen Vorgehensweise gehört, aber wenn Sie Iris kennen würden, dann kämen auch Ihnen diese Fragen lächerlich vor.“

„Der Polizist? Dann hat Ihre Nachbarin sie also als vermisst gemeldet?“

Die alte Dame nickte nachdrücklich. „Aber natürlich! Noch am Sonntag, nachdem sie bis zehn Uhr nicht nach Hause gekommen war. An diesem Tag wollte die Polizei die Meldung noch nicht entgegennehmen, und auch am nächsten Tag nicht. Erst vorgestern haben sie einen Beamten vorbeigeschickt, der die Aussage aufgeschrieben hat. Ja, und seitdem wartet Irene auf ein Lebenszeichen ihrer Enkelin.“

Sabine griff nach der knochigen Hand. „Ich kann es ihr nachfühlen. Nichts ist schrecklicher als die Angst um ein Kind. Aber wie könnte ich ihr helfen? Sie wissen doch, dass ich nicht im Dienst bin. Ich rufe natürlich gern die Kollegen bei der Vermisstenstelle an und frage, ob es schon irgendwelche Hinweise gibt, aber mehr kann ich nicht tun.“

Enttäuschung zeichnete sich auf dem Gesicht der alten Dame ab. „Könnten Sie sich nicht ein wenig umhören? Leute befragen, die Iris zuletzt gesehen haben, und was man in solch einem Fall alles macht?“

„Ich bin kein privater Ermittler!“

„Nein, aber Sie würden bestimmt eine gute Detektivin abgeben“, sagte die Alte sofort.

„Sie lesen zu viele Romane. Im richtigen Leben ist das Aufgabe der Polizei.“

Doch so schnell gab die alte Dame nicht auf. „Sie könnten sich mit Peter besprechen. Haben nicht Sie mir erzählt, er würde als Privatdetektiv arbeiten?“

„Nein“, rief Sabine so schnell, dass Rosa Mascheck erstaunt die Augenbrauen hob.

„Würden Sie mir wenigstens den Gefallen tun und einmal mit Irene sprechen?“, bat sie und sah mit einem solch flehenden Blick über den Tisch, dass Sabine nicht ablehnen konnte.

„Kommen Sie herein. Sie sind Kommissarin Berner, nicht?“

Sabine kam der Verdacht, dass sie sich gegen ihren Willen zu etwas überreden ließ, das andere über ihren Kopf hinweg bereits beschlossen hatten. Dennoch lächelte sie Irene Jacobson an und nickte.

Die Frau in der Tür war einen Kopf kleiner als Sabine und korpulent. Allerdings sprachen die schlaffen Hautfalten und die Schatten unter den Augen davon, dass sie in den vergangenen Tagen abgenommen und nicht viel Schlaf genossen hatte. Auf zwei Krücken gestützt, humpelte sie durch den engen Flur voraus und führte Sabine in ein vollgestopftes Wohnzimmer. „Setzen Sie sich doch“, forderte Frau Jacobson die Kommissarin auf und deutete auf ein durchgesessenes Sofa. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Sabine lehnte ab. „Keine Umstände. Rosa hat mich bereits den ganzen Nachmittag gemästet. Ich werde bald eine neue Garderobe brauchen, wenn ich sie noch öfter besuche.“

Ein kurzes Lächeln huschte über das faltige Gesicht, dann schienen ihre Ängste sie wieder einzuholen. Schwerfällig ließ sich die Frau in einen uralten Ohrensessel sinken.

„Erzählen Sie mir von Iris. Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?“

„Ostersonntag, zum Mittagessen. Ich dachte, sie wäre nach oben gegangen, um sich hinzulegen, aber als ich Maike gegen sieben hinaufschickte, um Iris zum Abendessen zu holen, war sie nicht da. Ich hatte gleich ein seltsames Gefühl, und als es immer später wurde und sie nicht zurückkam, da wusste ich, dass ihr etwas zugestoßen ist.“

„An was denken Sie?“

Die Alte hob die Hände. „Erst dachte ich, sie wäre vielleicht in einen Unfall verwickelt worden, doch dann hätte ich längst schon Nachricht aus einem Krankenhaus bekommen oder so. Nein, ich fürchte, sie ist in die Hände böser Menschen geraten. Ich will es mir gar nicht ausmalen, was meiner Kleinen zugestoßen ist.“ Tränen rannen über ihre Wangen. Hektisch wühlte sie in den Taschen ihrer Kittelschürze und nahm dann das Papiertaschentuch, das Sabine ihr reichte.

Die Kleine? Hatte Rosa nicht gesagt, Iris sei vierundzwanzig? Nun ja, ältere Menschen machten sich zuweilen ein verzerrtes Bild von ihrer Umwelt.

„Könnte es nicht doch sein, dass sie mit einem Freund oder einer Freundin weggegangen ist? Oder allein? So etwas kommt vor. Ihre Enkelin ist kein kleines Kind mehr.“

„Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie sie kennen würden“, schluchzte Irene Jacobson.

Wieder dieser Satz. Warum nicht?

„Einen Freund hat sie nicht – hat sie noch nie gehabt. Sie war schon in der Schule stets mit ihrer Schwester Maike und ihren Freundinnen Carmen und Aletta zusammen – ich meine, als sie noch gemeinsam zur Schule gingen. Sie können die drei fragen. Sie haben Iris seit vergangenem Sonntag auch nicht mehr gesehen und machen sich mindestens so große Sorgen wie ich.“

„Und Iris’ Eltern?“

„Was soll mit ihnen sein?“

„Wo leben die Eltern? Haben Sie mit ihnen gesprochen? Wissen Sie auch nichts?“

„Ach so. Sie wohnen hier in Blankenese in der Schenefelder Landstraße 14 A. Das heißt, Barbara wohnt dort vor allem, Nils ist meist unterwegs. Er ist Kapitän auf einem Containerschiff der Hapag.“

Sabine kaute auf ihrer Lippe. „Und warum wohnen die Zwillinge dann seit Jahren schon bei Ihnen?“

Irene Jacobsons Blick wanderte durch den Raum. „Warum denn nicht? Wir verstehen uns gut. Ich bin nicht mehr so allein. Barbara ist mit ihrer Gemeindearbeit ausgefüllt, und die Mädchen genießen es, ein wenig mehr Freiheit zu haben.“ Ihre Miene verdüsterte sich. „Vielleicht war es ein Fehler.“ Wieder traten ihr Tränen in die Augen. „Ich weiß, dass sie mir die Schuld dafür geben wird. Ich habe die Mädchen ermutigt, ihr Elternhaus zu verlassen, und nun muss ich es verantworten, dass meine süße Kleine in die Hände von Verbrechern gefallen ist, die sie quälen. Oh, bitte, finden Sie sie und retten Sie mein Kind!“

Sie brach in Tränen aus. In Sabines Kopf schwirrten die Gedanken herum.

„Warum sind Sie sich sicher, dass Iris in der Gewalt eines Verbrechers ist? Könnte es vielleicht sein, dass sie sich selbst etwas angetan hat? Gab es irgendwelche Anzeichen?“

Irene Jacobsons nasses Gesicht tauchte hinter dem zerknüllten Taschentuch auf. „Nein! Völlig ausgeschlossen. Sie wurde katholisch erzogen und hatte doch auch gar keinen Grund für so etwas! Sie ist von den vier Mädchen immer die Ruhigste und Folgsamste gewesen. Nie hat sie – wie Maike manches Mal – rumgeschrien und getobt oder auch nur eine Bitte abgeschlagen. Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als dass ein furchtbares Verbrechen geschehen ist.“

Bevor sie wieder hinter ihrem Taschentuch abtauchte, bat Sabine sie um ein Foto von Iris. „Es sollte nicht zu alt sein“, fügte sie hinzu, als der Blick der alten Frau zu dem massiven Büfett wanderte, auf dem, hinter staubigem Glas, kleine Mädchen in Rüschenkleidern in die Kamera lächelten.

„Aber ja.“ Schwerfällig stemmte sie sich hoch und humpelte mit ihren Krücken auf einen blauen Bauernschrank zu, der mit weißen Blumen bemalt war. Sie zog eine Schublade nach der anderen heraus und kam dann schließlich mit dem Gewünschten zurück.

„Das letzte Foto, auf dem sie allein drauf ist, habe ich leider schon dem Polizisten mitgegeben“, keuchte sie, schob das Bild über den Tisch und ließ sich wieder in ihren Sessel fallen.

„Iris ist das Mädchen ganz links. Neben ihr sehen Sie ihre Zwillingsschwester Maike, dann kommt Aletta, und rechts steht Carmen.“

Schweigend betrachtete Sabine das Foto. Vier junge Frauen, wie sie kaum unterschiedlicher hätten sein können: Iris war die Kleinste, schmächtig gebaut, ihr Gesicht war blass und halb hinter den Haarsträhnen verborgen. Sie sah nicht in die Kamera, sondern hatte den Blick auf ihre Schwester gerichtet.

Eineiige Zwillinge konnten die beiden jedenfalls nicht sein! Nicht nur, dass Maike einen halben Kopf größer war, sie war auch mindestens doppelt so breit. Ihr Gesicht war aufgeschwemmt, und statt des dunkelblonden, dünnen Haars, das ihrer Schwester vom Kopf hing, standen bei ihr leuchtend blaue Stacheln in alle Richtungen. Sie hatte den Arm um Iris gelegt, sah sie jedoch nicht an.

Die Frau am rechten Bildrand war groß und schlank. Das blonde Haar hatte sie zu einem nachlässigen Zopf zusammengebunden. Sie hätte hübsch gewirkt, doch der dicke, schwarze Rahmen ihrer Brille verlieh ihrem Gesicht eine krankhafte Blässe, und die Augen wurden durch die Gläser verzerrt.

Obwohl sie nicht die Größte war, wurde das Foto von Alettas Persönlichkeit beherrscht. Sie hatte die Arme um die Schultern der Freundinnen zu beiden Seiten gelegt und war die Einzige, die direkt in die Kamera sah – herausfordernd und ein wenig spöttisch. Ihre dunklen Augen hatte sie dick mit Kajal umrandet und die Lippen ebenfalls geschwärzt. Schwarz schien auch nicht die natürliche Farbe ihres langen Haars zu sein. Selbst ihre Kleidung war vollkommen schwarz. Um den Hals hing an einem Lederband ein metallenes Symbol, das Sabine nicht kannte.

„Darf ich das Foto mitnehmen?“

Frau Jacobson nickte. „Werden Sie mir helfen, Iris wiederzufinden?“

Die Kommissarin erhob sich. „Ich werde tun, was in meiner Macht liegt, aber ich will Ihnen nicht zu viele Hoffnungen machen. Mir stehen nicht die Mittel zur Verfügung, die die Polizei hat. Vertrauen Sie ihr!“

Frau Jacobson schnaubte durch die Nase und murmelte etwas Unverständliches. Sabine erkundigte sich lieber nicht, was sie gesagt hatte.

„Wo finde ich Iris’ Mutter?“, fragte sie stattdessen.

„In der Kirche oder im Gemeindehaus von Maria Grün. Zu Hause ist sie nur noch selten.“

Sabine tippte auf das Foto. „Und Maike und die beiden Freundinnen?“

„Maike arbeitet bei ,Burger King’ in der Davidstraße. Und wenn sie nicht arbeitet, ist sie natürlich hier. Aletta hat irgendwo in St. Pauli ein Zimmer. Ich weiß die Adresse nicht, aber sie ist noch immer oft bei ihren Eltern. Sie kennen sicher das alte Haus am Strandweg, das mit dem Reetdach, dort unten beim Zugang zum Baurs Park.“

Sabine nickte.

„Alettas Vater ist Lotse, ihre Mutter arbeitet in der Apotheke in der Blankeneser Bahnhofstraße. Und Carmen wohnt in Hoheluft Ost in der Neumünsterschen Straße. Im alten Pfarrhaus St. Markus. Die Gemeinde hat dort eine Wohngruppe für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen eingerichtet. Carmen arbeitet und wohnt dort. Freitagabends allerdings sind die Mädchen immer hier. Sie spielen Karten, meist bis spät in die Nacht, und schlafen dann oben. Sie können ja morgen zum Frühstück kommen, wenn Sie mit ihnen reden möchten. Aber nicht vor zehn. Die Mädchen sind keine Frühaufsteher, und ich fürchte, sie trinken bei ihrem Kartenspiel oft mehr Alkohol, als ich es gut finden kann.“

Sabine reichte der alten Frau die Hand. „Nein, bleiben Sie sitzen, ich finde allein raus. Dann komme ich morgen gegen halb elf. Falls ich vorher etwas erfahre, melde ich mich sofort.“

Freitagnacht. Eine Woche war es her, dass die Kommissarin Peter von Borgo aus ihrer Wohnung gewiesen hatte, und er war seitdem nicht mehr dort gewesen. Ab und zu führte ihn sein Weg wie von selbst nach St. Georg, doch spätestens wenn er die Lange Reihe betrat, machte er kehrt.

Die ersten beiden Nächte brodelte der Zorn in ihm hoch, und er nahm sich ungewohnt brutal die abendlichen Spaziergänger, Nachtschwärmer und die ersten Frühaufsteher. Dann wieder verlangte es ihn nach frischer, unverdorbener Luft und Weite. Er schwang sich auf sein schweres Motorrad und raste nach Norden, bis er das flache Land, begrenzt durch den endlosen Deich, erreichte. Dann ließ er sich auf die Knie fallen, sein Körper zuckte, sein Gesicht zog sich in die Länge, Fell brach durch die Haut. Kilometerweit rannte er als Wolf über saftige Wiesen, riss ein paar Schafe und kehrte erst im Morgengrauen zu seiner Villa am Baurs Park zurück. Dort saß er bis zum Sonnenaufgang an seinem Flügel und spielte wie besessen, während sich die Schatten aufhellten. Nur Augenblicke, bevor die Sonne sich auf der anderen Seite über den Horizont erhob, zog er sich in sein Kellergemach zurück und klappte den Sargdeckel über sich zu.

An diesem Abend war er schon wieder auf dem Weg zur Garage, um mit der Hayabusa in die Stadt zu brausen, als er unvermittelt stehen blieb.

„Nein“, stieß er hervor. „Ich werde nicht wie ein liebeskranker Wolf in den Gassen heulen. Du hast mich weggeschickt, also werde ich mich anderswo umsehen.“

Er beschloss, durch den Baurs Park zu wandern, dann am Witthus vorbei den Hirschpark entlang und durch die Gärten der Elbchaussee-Villen bis zum Jenischpark. Oder ein Abstecher in den Botanischen Garten von Flottbek? Doch zuallererst musste er seinen großen Hunger stillen.

Der Vampir hatte Glück. Bereits am Fuß des Leuchtfeuers auf dem Kanonenberg traf er auf ein verliebtes Pärchen, das sich vorzüglich als Opfer eignete. Beschwingt querte er den Mühlenberg und schritt zwischen Rosen und gepflegten Rasenflächen am reetgedeckten Teehaus des Hirschparks vorbei. Noch hatten die Kletterrosen keine Knospen angesetzt, in zwei Monaten jedoch würden sie in voller Blüte stehen.

Peter von Borgo strich durch nächtliche Parks und Gärten und raubte sich hier und da noch einen Schluck Blut. Der Jenischpark rief Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach. Fast fühlte er etwas wie Wehmut, als er sich dem Platz von Caspar Voghts Landhaus näherte.

Die Villa war ihm gleich ins Auge gefallen, als er sie nach seiner Ankunft in Hamburg zum ersten Mal sah: eine kühne Mischung aus heimatlicher Bauweise und klassizistischem Stil, mit einem schönen, zweigeschossigen Säulenumgang um das abgewalmte Giebeldach. Während seiner ersten Jahre in Hamburg hatte Peter von Borgo viel Zeit auf dem riesigen Parkgelände zugebracht, von dem der heutige Jenischpark nur noch ein kläglicher Rest war. Häuser und Straßen und eine lärmende S-Bahn hatten verschlungen, was vor zweihundert Jahren noch Wiesen und anmutige Gehölze waren, wo früher Quellen brodelnd aufkochten und das Wasser im weißen Sand ins Tal rann. In den Hainen und an den Ufern stiller Weiher fand man Tafeln mit allerlei Dichtersprüchen von Horaz und Vergil.

Voght war ein Mann gewesen, der selbst bei Peter von Borgo ein ungewöhnliches Interesse hervorrief. Es waren nicht das kaufmännische oder landwirtschaftliche Geschick des klugen, weit gereisten Mannes oder sein Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit – selbst König Friedrich Wilhelm und Königin Luise von Preußen ließen sich von ihm in dieser Sache beraten. Nein, es war die Seele des Wissenschaftlers und des Liebhabers der schönen Künste, die den Vampir anzogen. Sein Haus war stets voller Gäste, und in den riesigen Parkanlagen traf man auf alle geistigen Größen Europas. An langen Winterabenden fand man sich im großen Festsaal des Hauses ein, neben dem Voght eine Instrumentenstube einrichten ließ, oder man führte wissenschaftliche Gespräche in seinem chemischen Laboratorium, bewunderte physikalische Instrumente oder die Sammlung von Mineralien und exotischen Pflanzen.

Ja, der Vampir hatte es fast als Verlust empfunden, als der große Mann in einem – für Menschen – hohen Alter starb. Senator Jenisch erhielt das Gelände, unter seinen Erben jedoch begann man das Anwesen zu zerstückeln. Um die Jahrhundertwende wurde ein Poloplatz gebaut, und man fing an, dort Golf zu spielen. Rings umher wuchsen Häuser empor. Die Parzellen wurden kleiner, die Gebäude hässlicher. Zum Glück konnte der Schöngeist Voght das scheußliche Schulungetüm nicht mehr sehen, das sich „Christianeum“ nannte und sich als eines der besten Gymnasien Hamburgs rühmte.

Noch immer in seine Erinnerungen versunken, passierte der Vampir gerade eine Schönheitsklinik in der Jürgensallee, als er unvermittelt stehen blieb.

Es war der Geruch des Todes, der ihm in die Nase stieg. Für ein Krankenhaus nicht ungewöhnlich, doch für eine Privatklinik mit gerade mal dreißig Betten, die ihre Aufgabe darin sah, reichen Hamburger Damen den Busen zu vergrößern, Fett abzusaugen oder ihnen zu einer geraden Nase zu verhelfen, sicher nicht alltäglich. Außerdem roch der Vampir Blut. Viel frisches Blut.

Was konnte das bedeuten? Es war bereits nach Mitternacht. Wurde so spät noch operiert? War dort drinnen bei einer Patientin etwas schiefgegangen?

Peter von Borgos Neugierde erwachte. Er stieg über das Tor und umrundete die alte Villa mit den beiden neuen, flachen Anbauten. Im rechten Flügel lagen die Labore und der OP. Die Patienten wurden im Haupthaus untergebracht, in dem sie nicht nur geräumige Einzelzimmer vorfanden, sondern auch ein Kaminzimmer, den Salon mit dem großen Plasmabildschirm-Fernseher und eine großzügige Bibliothek. Der linke Flügel beherbergte den Empfang, die Sprechzimmer und privaten Büros der beiden Ärzte und einige Büroräume, in denen eine Sekretärin die üppigen Rechnungen an die verschönerten Damen ausstellte und den Eingang der Gelder überwachte.

Peter von Borgo wandte sich nach rechts zu den Untersuchungsräumen und dem OP, aber der Geruch wurde schwächer. Lautlos glitt er an der zartrosa gestrichenen Hauswand der dreistöckigen Villa entlang, all seine Sinne auf die Quelle dieses Geruchs gerichtet.

Hatte seine Nase recht? Ein Mann? Vielleicht um die dreißig?

Der Vampir folgte der Witterung hinüber zu dem Büroanbau, den ein kurzer, gläserner Korridor mit einer Seitentür der Villa verband. Peter von Borgo konnte keinen lebenden Menschen riechen, immer deutlicher jedoch den frischen Tod. Das wurde immer seltsamer. Was hatte ein Toter ausgerechnet in diesem Teil der Klinik zu suchen?

Der Vampir umrundete das Gebäude, bis er sich sicher war, hinter welchem Fenster die Quelle des Geruchs lag. Er spähte durch das verspiegelte Glas, konnte aber nur vage Umrisse von Bücherregalen an den Wänden, einer dunklen Ledersitzgruppe und eines Schreibtisches nahe dem Fenster erkennen. Peter von Borgo strich mit dem Finger über den Rahmen. Er schien neu und wies keine Risse oder Spalten auf. Dann eben durch die Tür. Er schlenderte zum Kiesweg zurück und näherte sich der Eingangstür, neben der ein goldgeprägtes Schild mit dem Wort „Empfang“ und eine Klingel mit Gegensprechanlage angebracht waren. Der Vampir überprüfte die Tür. Auch sie war neu und schloss dicht ab. Er würde sich wohl über das Haupthaus Zutritt verschaffen müssen. Peter von Borgo wollte sich gerade abwenden, als er Schritte auf dem Kies vernahm. Er schob sich in den Schatten einer alten Eibe und beobachtete den Mann, der sich der Eingangstür näherte. Er war von bulliger Gestalt, trug graue Hosen, eine schwarze Jacke und eine Schirmmütze auf dem Kopf. In der linken Hand hielt er eine Stablampe, mit der rechten zog er einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Etwas beulte seine Jacke aus. Ein Schlagstock? Eine Pistole?

Der Wächter schloss die Tür auf, und Peter von Borgo schlüpfte hinter ihm ins Haus. Wenn er nicht gesehen werden wollte, dann wurde er auch nicht entdeckt. Die Menschen gingen so nachlässig mit ihren Sinnesorganen um! Und was es ihrer Meinung nach nicht geben konnte, darauf achtete man auch nicht.

Der Wachmann wandte sich nach rechts, dem Glaskorridor zu. Peter von Borgo dagegen schritt an der verwaisten Empfangstheke aus Chrom und Glas vorbei den Gang hinunter, bis zu der Bürotür, hinter der das Objekt seines Interesses lag.

Die Tür war abgeschlossen, der Schlüssel fehlte, doch der Schlitz zwischen Teppich und Holz war so breit, dass er mit Leichtigkeit als Nebel darunter hindurchfließen konnte. Auf der anderen Seite materialisierte er sich wieder. Ohne sich zu rühren, blieb er hinter der Tür stehen. Nur sein Brustkorb bewegte sich, und seine Nasenflügel zitterten. Er verließ sich gern auf den ersten Eindruck durch die Wahrnehmung der Gerüche, um die Lage genauer einschätzen zu können, ehe er die Situation in Augenschein nahm.

Seine Nase hatte ihn nicht getäuscht. Der Tote war ein Mann um die dreißig Jahre – und es war Blut geflossen. Peter von Borgo trat zu der schwarzen Ledercouch, auf der der Mann gesessen hatte. Er war mit dem Oberkörper auf die Seite gekippt, die Füße noch auf dem Perserteppich. Der Vampir konnte das Einschussloch oberhalb der Schläfe sehen. Auf der anderen Seite hatte das Geschoss wohl ein Stück des Schädels aufgerissen. Ehe der Mann zur Seite gesunken war, waren Blut und Hirnmasse über das Polster gespritzt. Es war nicht viel davon zu sehen, dafür aber deutlich zu riechen.

Peter von Borgo fuhr leicht mit den Fingerspitzen über den Hals des Mannes und über die Ränder des Einschussloches. Er konnte nicht länger als eine Stunde tot sein! Seine Haut fühlte sich zwar kühl an, aber sein Blut hatte sich kaum um ein Grad abgekühlt. Er hob den Kopf an und beschnüffelte die Wunde, die das austretende Projektil geschlagen hatte.

Nein, lange hatte er nicht mehr zu leben gehabt, nachdem das Metall durch sein Gehirn gedrungen war. Konnte er sich selbst getötet haben, oder war er ermordet worden? Peter von Borgo sah sich nach der Waffe um, konnte sie jedoch nicht entdecken. Zur Sicherheit roch er an den Fingerkuppen des Toten. Diese Hände hatten in den letzten Stunden keine Waffe abgeschossen. Also Mord!

Das Interesse des Vampirs war geweckt. Die Abgründe der menschlichen Seele stellten ein interessantes Studienobjekt dar. Sie lenkten ihn von seiner Langeweile ab und würden nun helfen, seine Gedanken wenigstens für kurze Zeit von Sabine zu lösen.

Peter von Borgo trat an den Glastisch vor der Couch und betrachtete die bauchige Flasche mit ihrem bräunlichen Inhalt und das benutzte Glas daneben. Einige Papiere lagen auf dem Tisch, zwei Blätter waren zu Boden geflattert. Er überflog die Texte. Als er die ersten Seiten gerade wieder zurücklegte, streifte ein Hauch seine Sinne, der ihn ablenkte. Er richtete sich auf und schloss die Augen.

Ja, er konnte es riechen. Trotz der starken Präsenz der Leiche gelang es ihm, die Witterung von anderen Personen aufzunehmen, die vor nicht sehr langer Zeit in diesem Büro gewesen waren. Ob es ihm gelang, den Mörder aus dieser Komposition herauszufiltern?

Er roch an der Schreibtischplatte, an den Sitzkissen der Sessel und den Armlehnen.

Ein Geräusch auf dem Flur ließ ihn innehalten. Schritte näherten sich. Er hörte das Klirren eines Schlüsselbundes. Ohne Hast trat der Vampir an die Wand, sodass die sich öffnende Tür ihn verbergen würde, und wartete, während ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde.

Um ein Uhr vierundzwanzig ging in der Polizeileitzentrale der Anruf eines aufgeregten Wachmanns der Privatklinik von Everheest ein. Bereits fünfunddreißig Minuten später fuhr der Wagen von Hauptkommissar Thomas Ohlendorf von der 4. Mordbereitschaft vor. Zehn Minuten später erschien der Jüngste des Teams, Robert Gerret, und kurz darauf Uwe Mestern und Sönke Lodering und der Polizeifotograf. Er parkte hinter dem mintgrünen Golf der Ärztin, die heute in der Rechtsmedizin Bereitschaft hatte. Auch die Herren von der Spurensicherung waren bereits zur Stelle. Sie warteten, bis der Fotograf seine Nummerntafeln verteilt und ein paar Dutzend Fotos geschossen hatte. In ihre weißen Overalls gekleidet, suchten die beiden Männer das Büro systematisch nach sichtbaren Spuren ab, stäubten schwarzes Pulver auf Flasche und Glas, auf den Türgriff und die bis dahin glänzende Schreibtischoberfläche. Mit Klebestreifen nahmen sie Faserproben, während die Ärztin den Toten untersuchte und die Ergebnisse in ihr Diktiergerät sprach.

Unsichtbar in einer Ecke schwebend, beobachtete Peter von Borgo den Trubel. Vor allem die junge Ärztin gefiel ihm. Sie war nur mittelgroß und von zierlichem Körperbau, mit schmaler Taille und kleinen, festen Brüsten. Ihre Augen waren dunkel. Das rötlich braune Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten geschlungen. „Dr. Renate Lichtenberg“ las er an einem Schild auf ihrer Brusttasche. Den Namen würde er sich merken. Vielleicht sollte er ihr in dem Eppendorfer Institut mal einen Besuch abstatten?

Zwei Stunden verstrichen. Der Vampir begann sich zu langweilen. Als der Leichenwagen eintraf und die Männer den Toten auf eine Bahre hoben, nutzte Peter von Borgo die Gelegenheit, unbemerkt zu verschwinden. Es war ihm danach, zu seiner Villa zu eilen, die großen Flügeltüren zum Garten zu öffnen und, während die Nachtluft ihn umwehte, die Finger über die Tasten seines Flügels gleiten zu lassen.

Sabine konnte nicht schlafen. Ruhelos schritt sie in ihrer Wohnung auf und ab, obwohl es schon auf zwei Uhr zuging. Das Gespräch mit Iris’ Mutter ging ihr nicht aus dem Kopf. Was waren das für seltsame Schwingungen, die sie wahrgenommen hatte, die sie aber nicht genau beschreiben konnte? Barbara Stoever war nicht sehr erfreut gewesen über ihren Besuch. Lag Ärger in ihrer Stimme, Wut oder Enttäuschung? Jedenfalls waren es weder Angst noch Verzweiflung!

Es war nicht einfach gewesen, Auskünfte von ihr zu bekommen, auch hatte sie es vermieden, der Kommissarin ins Gesicht zu sehen. Sie hatte ihr den Rücken zugewandt und weiterhin Blumen in Vasen auf dem Altar verteilt.

„Haben Sie seit Ostern etwas von Iris gehört?“

Frau Stoever schob zwei rosafarbene Tulpen in die mit kitschigen Engeln bemalte Vase. „Nein. Warum fragen Sie nicht meine Mutter? Meine Töchter wohnen seit fast sechs Jahren bei ihr!“

„Ich komme gerade von ihr und hoffe, dass Sie mir einen Hinweis geben können, wo ich meine Suche fortsetzen soll.“

„Ich habe mich wirklich bemüht!“, stieß die Frau nach drei weiteren Tulpen aus. „Sie war schon immer ein falsches Luder, hat gelogen und sich herumgetrieben, und wenn man sie zur Rede stellte, sah sie einen nur schweigend an. Ich habe wirklich alles versucht, um einen anständigen Menschen aus ihr zu machen. Aber natürlich wird nun wieder der Mutter die Schuld für alles gegeben“, stieß sie bitter hervor.

„Es geht hier nicht um Schuld, Frau Stoever. Es geht darum, Ihre Tochter zu finden, die seit fast einer Woche verschwunden ist.“

„Sie wird wieder auftauchen, wenn sie in Schwierigkeiten ist, ihr Freund sie verlassen hat oder ihr das Geld ausgeht, und dann dürfen ihr Vater und ich zusehen, wie wir alles richten.“

„Sie glauben also, dass sie freiwillig weggegangen ist, ohne jemandem etwas zu sagen?“, fragte Sabine überrascht, obwohl sie vor kaum zwei Stunden in dem kleinen Häuschen in der Panzerstraße ähnliche Vermutungen angestellt hatte. „Ihre Mutter schließt das aus. Und sie glaubt auch nicht an Selbstmord. Sie ist überzeugt, dass Iris einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“

Einen Bund Gerbera in der Hand, drehte sich Barbara Stoever langsam um. „Meine Mutter hatte schon immer ein völlig falsches Bild von den Kindern, aber da kann man reden, wie man will. Sie müssen selber wissen, wem Sie glauben. Vielleicht ist ihr wirklich etwas passiert – was ich nicht wünsche –, doch dann nur deshalb, weil sie sich leichtsinnig in Gefahr begeben hat.“

Sabine fiel nichts ein, was sie darauf hätte sagen können. Barbara Stoever senkte den Blick. „Sie denken jetzt, ich wäre kalt und hart, doch Sie sollten sich vielleicht auch fragen, warum ich so geworden bin. Ich war auch einmal eine Mutter, die stolz auf ihre Mädchen war und große Pläne für ihre Zukunft hegte.“

Diese Worte gingen Sabine nicht aus dem Sinn, während sie in ihrem grün karierten Schlafanzug im Wohnzimmer auf und ab lief.

Was für ein Bild würde Maike von ihrer Schwester zeichnen? Was die Freundinnen erzählen? Jedenfalls würde sie morgen zuallererst Sönke anrufen. Er hatte dieses Wochenende Bereitschaft und würde vielleicht im Büro sein. Dann musste er ihr alles besorgen, was es im Präsidium über das Verschwinden von Iris Stoever zu finden gab. Zwar hatte es Sabine am späten Nachmittag schon selbst bei der Zentrale der Vermisstenstelle versucht, aber die Sekretärin konnte oder wollte ihr keine Auskunft geben. Sabine gähnte herzhaft. Vielleicht sollte sie doch versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen. Vor neun durfte sie Sönke sowieso nicht stören. Das Samstagsfrühstück mit seiner Frau war heilig, und wenn man ihn um einen Gefallen bitten wollte, war es ratsam, ihn vorher nicht zu verstimmen.

„Guten Morgen, Sönke, deine Frau sagte mir, wo ich dich erreiche. Was tust du an einem Samstag so früh im Präsidium? Was ist mit deinem heiligen Frühstück?“

„Dammi noch mol, red mich nich so von der Seite an, mien Deern. Ich bin fertig mit Jack un Büx.“

„Was ist los? Habt ihr einen neuen Kunden?“

Sönke grunzte zustimmend. „Hier is vielleicht ein Kuddelmuddel.“

„Ja nun, erzähl schon“, drängte Sabine. „Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“

„Wir haben einen dieser Fälle, die es laut Statistik gar nicht gibt. Kommt eigentlich nur im ,Tatort‘ oder sonstigem Krimizeug vor: junger, angesehener Schönheitschirurg in seinem Büro erschossen!“

Die Kommissarin pfiff durch die Zähne. „Das ist doch mal was! Keine Messie-Wohnung, bei der man durch Müll und Ungeziefer waten muss, keine ungewaschenen Verdächtigen, keine unflätigen Beschimpfungen bei der Befragung. Wahrscheinlich bekommt ihr überall Kaviarhäppchen und Champagner angeboten.“

„Sabbelbüddel“, schimpfte Sönke, doch Sabine kam es so vor, als würde sie eine gewisse Zufriedenheit in seiner Stimme vernehmen.

„Und, habt ihr schon was rausbekommen?“

„Ne, nich viel. Dr. Lichtenberg – du weißt, die junge Brünette – sagte, der Herr Juniorchefarzt wäre kaum mal zwei bis drei Stunden tot – also wohl zwischen elf Uhr und Mitternacht erschossen. Die Waffe war nicht da, aber wir haben im Tresor Munition gefunden. Könnte noch von seinem Vater stammen. Der hatte einen Waffenschein. Allerdings wurde die Pistole nach dem Tod des Alten von Everheest als verloren gemeldet.“

„Wer hat die Leiche gefunden?“

„Ein Kerl vom Wachdienst. Soweit wir es bisher überblicken können, kamen der oder die Täter ungesehen herein. Einbruchspuren gibt es keine.“ Er gähnte herzhaft.

„Jedenfalls habe ich, seit mich Thomas heute Nacht angerufen hat, den Heimathafen nicht mehr gesehen. Aber es ist gut, dass ich dich gerade an der Strippe habe. Thomas hat mir da eine Liste mit Vernehmungen auf den Tisch gelegt, bei der’s mir ganz übel wird. Und dann soll ich auch noch Robert mitnehmen! Dabei braucht man bei den Leuten ein bisschen Fingerspitzengefühl und nicht so einen unerfahrenen Schlaumeier, der sein Abzeichen auf der Fachhochschule gekriegt hat.“ Er stöhnte, und Sabine konnte geradezu sehen, wie er die Augen verdrehte.

„Ich brauche dich! Kannst du nicht einfach mitkommen? Zumindest bei den ganz schweren Geldsäcken?“

Sabine fühlte sich geschmeichelt und hätte gern sofort Ja gesagt, doch die Kommissarin in ihr hob die Hand. „Sönke, du weißt, dass es nicht geht. Thomas würde das nicht erlauben, und der Tieze würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er es erführe.“

„Na, das wäre einen Versuch wert“, erwiderte der Kollege. „Du brauchst die Protokolle ja nicht zu unterschreiben. Sieh es einfach so, dass der Grünschnabel in Sachen Vernehmung und Befragung ein bisschen von dir lernen kann – und außerdem kennst du dich als Einzige mit dieser Sorte Leute aus. Ist dein Ex nicht immer auf diesen vornehmen Partys rumgesprungen und kennt jeden, der in Hamburg goldene Wasserhähne hat?“

Sabine zögerte. Konnte es ihre Lage verschlimmern, wenn sie sich darauf einließ? Ja! Ganz sicher. Der Kriminaloberrat wäre nicht erfreut von solchen Aktionen – aber wie schön wäre es, wieder gebraucht zu werden! Der Gedanke war verlockend, in diesen Fall eingebunden zu sein und nicht mehr gelangweilt daheim zu sitzen, während die Kollegen jeden Tag Überstunden schoben.

„Und? Bist du noch dran?“

„Ja und ja. Ich bin noch dran, und ich helfe dir, aber sorge dafür, dass Robert sich nicht verplappert.“

„Mien Deern, lass dich an mein Herz drücken!“, jubelte Sönke.

„Später, später. Zuerst musst auch du mir einen Gefallen tun.“ Sie erzählte ihm von der vermissten jungen Frau und ihren Gesprächen mit deren Großmutter und der Mutter. „Bitte such mir alles zusammen, was du über den Fall finden kannst.“

„Mook wi!“

„Was?“

„Wird sofort erledigt! Bist du daheim? Kann ich dich abholen, wenn’s losgeht?“

„Nein, ich muss jetzt nach Blankenese, um mit Frau Jacobson und den drei ,Mädchen‘ zu frühstücken. Du kannst mich auf dem Handy erreichen.“

Feuer der Rache

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