Читать книгу Feuer der Rache - Ulrike Schweikert - Страница 7
Maike, Carmen und Aletta
ОглавлениеDie Frauen saßen schon um den Esszimmertisch, als Sabine eintrat. Allerdings sahen sie so aus, als seien sie gerade erst aus dem Bett gekrochen. Maike – die Zwillingsschwester der Verschwundenen – trug nur ein verwaschenes Riesenshirt, das ihr bis zu den Knien reichte, Carmen hatte sich in einen alten, rosafarbenen Frotteebademantel gehüllt. Maikes blaues Haar stand in alle Richtungen ab und hatte heute sicher noch keine Bürste gesehen. Nur Aletta war vollständig angezogen. Wie auf dem Foto trug sie Schwarz: ein langes Shirtkleid und eine Strickjacke, deren Ärmel sie über die Ellbogen geschoben hatte. Ihren Hals zierte ein silbernes Pentagramm, das mit einer Spitze an einem Lederband befestigt war. Im Gegensatz zu den anderen war ihr langes Haar gekämmt, und ihre Augen und Lippen waren schwarz geschminkt.
Der Blick der Kommissarin wanderte von einem Gesicht zum anderen. Sie sahen alle ernst und mitgenommen aus, und das kam sicher nicht nur von einer Nacht Kartenspiel und zu viel Alkohol. Nein, sie schienen sich wie Irene Jacobson Sorgen um Iris zu machen.
Dankend nahm Sabine einen Milchkaffee entgegen und setzte sich auf den Stuhl, den Aletta ihr zwischen Maikes Platz und den ihrer Großmutter geschoben hatte.
„Haben Sie schon etwas herausgefunden?“, fragte Aletta und hielt der Kommissarin den Brotkorb hin. Sabine nahm sich ein Franzbrötchen mit vielen Rosinen. Es schien natürlich, dass Aletta das Wort ergriff. Ihre Persönlichkeit überstrahlte alle anderen Anwesenden. Obwohl es um Maikes Schwester ging, starrte Maike auf ihr Brötchen hinab und schien sich nicht für die Kommissarin zu interessieren. Sabine betrachtete den gesenkten blauen Haarschopf. Die unförmige Frau stieß sie ab. Sie rügte sich selbst, keine Vorurteile wegen Maikes Aussehen zu entwickeln, dennoch konnte sie gegen das Gefühl in ihr nichts tun. Sie wandte sich an Aletta, die den Gast aufmerksam betrachtete.
„Der bisher letzte Zeuge, der Iris am Sonntag gesehen hat, ist einer der Kellner im Strandhotel. Er stand um vierzehn Uhr fünfzehn an der Bushaltestelle in der Blankeneser Hauptstraße, als sie vorbeiging. Er hat nicht genau darauf geachtet, glaubt aber, dass sie zur Krögers- oder Mitteltreppe abbog. Einige Beamte haben die Anwohner nach ihr gefragt, doch sie hat keinen von den Befragten aufgesucht. Fällt Ihnen jemand ein, den sie in dieser Gegend besucht haben könnte?“
Die Großmutter und die drei jungen Frauen schüttelten die Köpfe. Nun blickte Maike kurz auf. Anscheinend hörte sie doch zu.
„Ich werde mich trotzdem noch einmal umhören“, fuhr die Kommissarin fort. „Jedenfalls kann kein Busfahrer sich an sie erinnern, und bei den Fähren hatten die Kollegen auch kein Glück. Oben an der S-Bahn und an einigen anderen Stellen hängen nun Plakate, noch ist jedoch keine verwertbare Reaktion eingegangen.“ Sabine hob entschuldigend die Hände. „Es tut mir sehr leid. Mehr kann ich Ihnen noch nicht berichten.“
Sabine bestrich ihre Brötchenhälften mit Butter und der von Frau Jacobson selbst gekochten Holunder-Kirsch-Marmelade. Ihr Blick glitt über die Frauen, die um den Tisch saßen.
Aletta kaute noch an ihrem ersten Hörnchen, trank aber bereits die dritte Tasse schwarzen Kaffee. Maike hatte in der gleichen Zeit zwei Brötchen mit einem Berg an Schinken und Käse verschlungen und ein Hörnchen mit Nussnougatcreme. Gerade schaufelte sie sich eine Portion Rühreier mit Speck aus der Pfanne, die Frau Jacobson ihr reichte. Neben ihrem Platz lag eine aufgeschlagene Zeitschrift. Es ging um den zu Tode misshandelten Hamburger Jungen, wie die Kommissarin der fetten Überschrift entnahm.
Carmens Teller war noch immer unberührt. Sie nippte nur an ihrer Teetasse und starrte stumm vor sich hin.
„Das geht aber nicht, mein Kind“, rief Irene Jacobson, der dies wohl gerade ebenfalls aufgefallen war. „Wir alle machen uns Sorgen und haben Angst um Iris, doch es nützt ihr gar nichts, wenn du dich zu Tode hungerst. Du isst jetzt ein Rundstück und ein bisschen Rührei. Vorher lasse ich dich nicht vom Tisch aufstehen!“
Carmen protestierte schwach, doch da war ihr Teller auch schon gefüllt. Gehorsam griff sie nach der Gabel. Erst schien es, als müsse sie sich zu jedem Bissen zwingen, dann aber schlang sie Ei und Brötchen in Windeseile hinunter und nahm sogar noch eine Portion.
„Erzählen Sie mir von Iris“, forderte die Kommissarin die Frauen auf.
„Sie ist ein so liebes Kind“, sagte Frau Jacobson mit zitternder Stimme. „Immer verständnisvoll und hilfsbereit. Mit ihrem Feingefühl spürt sie sofort, wenn es jemandem schlecht geht. Sie ist mir eine große Stütze.“ Maike zog die Lippe schmollend hoch, aber Frau Jacobson schien das nicht zu bemerken.
„Was macht Iris beruflich? Wie sieht ihr Tagesablauf aus?“
„Sie hat keinen festen Beruf. Sie ist einfach zu sensibel für diese harte Arbeitswelt dort draußen, diesen Kampf mit den Ellbogen“, sagte die Großmutter. Maike schnaubte durch die Nase und griff nach einem weiteren Brötchen.
„Nach der Schule hat sie eine Lehre als Floristin angefangen und es dann in einem Frisörgeschäft probiert, aber das war nichts für sie. Das Arbeitsamt bietet ihr immer wieder verschiedene Kurse an, so mit Computer und einem Praktikum in einer Firma. Sie wollen einfach nicht einsehen, dass diese harten Jobs sie überfordern.“
„Überfordern? Wie meinen Sie das?“
Frau Jacobson hob die Hände. „Es liegt nicht an ihrer Intelligenz. Sie ist klug und hat eine rasche Auffassungsgabe, aber sie hat eine schwache Konstitution. Immer wieder ist sie krank. Jede Erkältung, jede Darmgrippe nimmt sie mit, und dann diese Hautausschläge. Wie heißt das Wort, Maike?“
„Neurodermitis“, erwiderte Maike undeutlich mit vollem Mund.
„Oh, ja, daran leidet sie schon seit vielen Jahren.“
„Das heißt, sie hat zurzeit keine Arbeit und ist meist bei Ihnen zu Hause?“
Frau Jacobson schüttelte den Kopf. „Sie arbeitet seit acht Wochen in dem Geschäft in der Hauptstraße, in dem Spielzeug und Schreibwaren verkauft werden. Allerdings nur dreimal die Woche – so ein Minijob ist das, für vierhundert Euro.“
In Sabines Handtasche klingelte das Handy, sich entschuldigend nahm sie das Gespräch an.
„Sönke? Nein, ich bin hier in Blankenese. Das hat keinen Sinn. Wo ist es denn? Ich kann mit meinem Wagen vorbeikommen. Eibchaussee 547“, wiederholte sie die Adresse. „Das muss noch vor der Einmündung des Mühlenbergs sein. Ich werde es finden und bin in zehn Minuten da.“
Irene Jacobson hob den Kopf. „547? Ist das nicht die Villa von Dr. von Everheest, dem Schönheitschirurgen?“
Sabine nickte. „Kennen Sie ihn?“
„Ja, wie man sich halt so kennt, wenn man im gleichen Ort wohnt. Nicht dass wir in der gleichen Gesellschaft verkehrt hätten, aber man spricht natürlich über die Dinge, die in der Zeitung stehen – gute wie schlechte! Er hat in den Siebzigerjahren große Erfolge gefeiert, aber dann kam der Skandal um den verpfuschten Busen, der ihm beinahe das Genick gebrochen hätte. War natürlich Pech, dass es ausgerechnet eine von diesen Schauspielerinnen war, die in jedem Klatschblättchen abgelichtet werden. Es wurde getuschelt, er müsse für die Entschädigung seine Villa verkaufen, aber dann hat er sich wieder gefangen, und die Reichen und Schönen strömten wieder in seine Klinik, um sich von ihrem teuer angefressenen Fett befreien zu lassen. Seine Frau allerdings hat den Skandal nie überwunden. Manche sagen, sie ist deshalb nur Monate später gestorben, aber das ist Unsinn. Sie hatte irgendeine schwere Krankheit. War es Leukämie? So genau weiß ich das nicht mehr. Tja, und bei ihm war es wohl das Herz, das vergangenes Jahr nicht mehr wollte.“
Sabine blinzelte verwirrt. „Ich glaube, Sie verwechseln etwas. Dr. von Everheest wurde heute Nacht tot in seiner Klinik aufgefunden.“
„Nein!“ Die Alte stieß einen Schrei aus und sah die Freundinnen an. Aletta zog die schwarz nachgezogenen Augenbrauen hoch. „Was? Der ist doch noch nicht mal dreißig!“ Carmen ließ ihre Gabel fallen und tauchte unter den Tisch, um sie wieder aufzuheben, nur Maike reagierte nicht. Sie war noch immer mit Rührei und Speck beschäftigt.
„Dann muss es Sven von Everheest sein, der Sohn, der vor einigen Jahren bei seinem Vater in der Klinik angefangen und sie nach seinem Tod weitergeführt hat“, sagte die Alte. „Nein, was für ein Unglück! – Was um alles in der Welt ist ihm denn zugestoßen?“
„Jedenfalls ist er keines natürlichen Todes gestorben“, antwortete die Kommissarin. „Mehr darf ich Ihnen nicht sagen, und viel mehr weiß ich auch noch nicht. Das müssen die Ermittlungen des LKA klären. Deshalb muss ich mich jetzt auch verabschieden. Mein Kollege wartet. Darf ich morgen wiederkommen und mich in Iris’ Zimmer umsehen?“
„Aber ja.“ Irene Jacobson stemmte sich in ihrem Stuhl hoch und griff nach den Krücken. „Ach, Frau Berner, mir ist etwas eingefallen. Sie haben vorhin gefragt, wen Iris besucht haben könnte. Nun ja, es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber vielleicht eine Möglichkeit: Clara Hofberger. Sie wohnt im Brandts Weg. Wenn man vom Anleger oder vom Strandweg kommt, wäre die Krögerstreppe der schnellste Weg.“
„Clara Hofberger?“ Sabine sah die Gastgeberin fragend an.
„Sie war Iris’ Grundschullehrerin, und auch in den Jahren danach, als sie schon ins Gymnasium ging, hat Iris sie häufig besucht.“
Die Kommissarin nickte. „Einen Versuch ist es wert. Ich danke Ihnen und werde nicht versäumen, der Spur nachzugehen.“
Sie sah nicht, wie die drei Freundinnen Blicke austauschten.
Kaum hatte die Kommissarin das Haus verlassen, schob Carmen ihren Teller von sich, sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Maike belud sich ihre Brötchenhälfte mit dem Rest des Rühreis und vertilgte beides. „Ich muss gehen“, stieß sie mit vollem Mund hervor. „Ich habe heute die zweite Schicht.“ Sie verzog das Gesicht „Samstage sind echt ätzend. Diese Tourimassen schon am Nachmittag!“
Aletta tupfte sich mit ihrer Serviette vorsichtig den Mund ab, damit die schwarze Umrandung nicht verwischte, und warf ihr schwarzes Haar zurück. „Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst. Ich muss eh in Richtung Kiez.“
„Bin gleich fertig. Muss nur noch aufs Klo und meine Jacke holen“, erwiderte Maike mit vollem Mund und erklomm schwerfällig die steile Treppe. Frau Jacobson begann den Tisch abzuräumen.
„Nein, lassen Sie das! Ich kann das machen.“ Aletta sprang auf, stellte Teller, Tassen und Essensreste auf ein Tablett und trug es in die Küche. Während das Wasser in die Spüle lief, hörte sie Maike oben fluchen und an einer Tür rütteln. Kurz darauf kam sie mit missmutigem Gesicht in die Küche.
„So eine Scheiße“, sagte sie, griff nach der Butter und einem Marmeladenglas und stellte sie unsanft in den Kühlschrank. „Sie kotzt sich dort oben wieder die Seele aus dem Leib.“
Aletta warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Frau Jacobson kramte in einer Schublade im Wohnzimmer und hatte die Worte ihrer Enkelin nicht gehört.
„Das war nicht anders zu erwarten, oder? Jedenfalls vermute ich, dass es eine Weile dauern wird, bis sie wieder auftaucht. Ich denke, wir sollten los, damit du nicht zu spät kommst.“
Maike nickte und schob sich drei Stückchen Schokolade in den Mund. „Ja, das wäre nicht wirklich gut. Noch mehr Ärger kann ich echt nicht gebrauchen!“
Die beiden verabschiedeten sich von Frau Jacobson und gingen zum Ende der Panzerstraße hinunter, wo der alte Volvo von Alettas Mutter stand. Meist durfte sie ihn benutzen, wenn die Mutter ihn nicht gerade selbst brauchte.
„Kannst du mich heute Abend abholen?“, fragte Maike, als sie sich auf den Beifahrersitz zwängte.
Aletta schüttelte den Kopf. „Nein, der Coven trifft sich heute Abend.“
Maike schnaubte durch die Nase. „Ach, wieder dein Hexenkram. Muss das sein? Ich will nicht mit der S-Bahn fahren.“
Aletta presste die Lippen kurz aufeinander und startete den Motor. Sie gab etwas mehr Gas, als nötig gewesen wäre, sodass die Reifen beim Anfahren quietschten.
„Ja, das muss sein. Ich bin eine Wicca und gehöre zu meinem Coven. Es ist Esbat-Vollmond! Da bleib man nicht einfach wegen einer Lappalie weg!“
„Lappalie?“, ereiferte sich Maike. „Ich muss bis um elf arbeiten und weiß nicht, wie ich dann nach Hause komme!“
Aletta fasste nach dem Pentagramm um ihren Hals und hielt es so fest, dass die Spitzen schmerzhaft in ihre Hand stachen.
„Also gut. Ich hole dich um elf ab und fahre anschließend zu unserem Treffen. Bitte sieh zu, dass du pünktlich bist! Ich will wenigstens zu unserem Ritual um Mitternacht da sein!“
„Als ob das so wichtig wäre“, murrte Maike und packte einen Schokoriegel aus.
Aletta antwortete nicht. Es wäre sinnlos, Maike zu sagen, wie wichtig die Treffen ihres Covens und die gemeinsamen Rituale für sie waren. Vor allem Esther gab ihr die Kraft, weiterzumachen und alles zu ertragen. Tag um Tag.
Sabine parkte ihren Passat hinter Sönkes altem weinrotem Daimler. Der Kollege stand vor dem stabilen Gittertor, das zwischen zwei gemauerten weißen Pfeilern Unbefugten den Zutritt zu der Villa verwehrte. Der Kriminalobermeister hatte sich nach vorn gebeugt, als versuche er, zwischen dem dichten Grün einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Neben ihm stand ein Mann, den Sabine nicht kannte. Zögernd trat sie auf die beiden zu.
„Wo ist Robert?“
„Der Dösbaddel hat sich gestern beim Basketball das Handgelenk gebrochen“, knurrte Sönke.
„Dann war er heute Nacht gar nicht dabei?“
„Doch, schon“, gab der Kriminalobermeister Auskunft, „mit dick verbundenem Arm. Rumgejammert hat er. War zu nichts zu gebrauchen. Da hat ihn Thomas heute Morgen erst mal zum Arzt geschickt, und der sagt: glatt durch. Drei Wochen hat er ihn krankgeschrieben – vorläufig!“ Sönke schnaubte durch die Nase. „Immer wenn’s drauf ankommt. Ich hab’s ja schon immer gesagt, ist halt ’n Quiddje!“
Sabine unterdrückte ein Grinsen. Sönke und Robert waren seit dem ersten Tag im Präsidium wie Hund und Katze, doch vermutlich nahmen sie ihren täglichen Kleinkrieg nicht einmal mehr selbst ernst. Daher verzichtete sie, Sönke darauf hinzuweisen, dass sich Robert vermutlich nicht absichtlich das Handgelenk gebrochen hatte. Stattdessen sah sie den Mann an Sönkes Seite fragend an.
„Michael Merz.“ Er kam einen Schritt näher und schüttelte ihr die Hand. „Und Sie sind Sabine Berner?“
Sie nickte und zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Und was haben Sie mit dem Fall zu tun?“
„Er ist Oberkommissar, kommt vom fünfzehnten Revier. Hat sich bei uns beworben, und da kam Thomas die Idee, er könnte uns unterstützen, vor allem jetzt, da Robert auch noch ausfällt.“
Die Augenbrauen wanderten ein Stück weiter nach oben. „Und das hat Thomas heute Morgen so schnell organisiert?“
Sönke trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Ja, nein, also, er hat ihn vorhin angerufen, ob er für Robert einspringen kann, aber die Gespräche laufen seit ein paar Tagen – vielleicht auch schon zwei oder drei Wochen.“ Er verstummte und sah zu Boden.
„Ach so, Sie sind also mein Ersatz“, sagte Sabine und musterte den Kripomann von Kopf bis Fuß. Er war etwa Mitte dreißig, einen halben Kopf größer als sie, hatte braunes Haar, grüne Augen und ein kantiges Gesicht. Wangen und Kinn waren mit einem Dreitagebart bedeckt, was bei ihm eher attraktiv als ungepflegt aussah.
„Nur solange Sie nicht da sind. Ihre Kollegen vermissen Sie sehr und sehnen den Tag herbei, an dem Sie wieder voll einsatzfähig sind.“ Er sah sie an und lachte.
Er hatte eine wirklich charmante Art zu lachen. Sie beschloss, ihn zu hassen.
„Also, dann lasst uns reingehen“, drängte Sönke. „Die warten schon seit einer halben Stunde auf uns.“
Sabine hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück. „Ohne mich. Das könnt ihr sicher auch allein. Ich fahre nach Hause.“
„He, was soll das?“, protestierte Sönke. „Das war ausgemacht!“
„Ja, aber nicht so!“, zischte die Kommissarin. „Du weißt, dass ich nicht hier sein darf.“
„Ja, und? Mike wird Thomas schon nichts erzählen, nicht wahr?“
„Bitte, Frau Berner, lassen Sie uns nicht im Stich“, mischte sich der Neue ein. „Ein Greenhorn, das vor einer Stunde unerwartet in seinen ersten Mordfall geworfen wurde, fleht Sie um Hilfe an. Und ich habe Sie hier selbstverständlich nicht gesehen!“
„Tötungsdelikt“, verbesserte Sabine ihn spitz. „Wir wissen noch nicht, ob es Mord war. Das zu klären wird Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein!“
„Tötungsdelikt“, wiederholte er lächelnd. „Ich werde es mir merken.“ Seine Augen waren wirklich verdammt grün.
„Also, worauf warten wir?“, fragte die Kommissarin kühl und wandte sich ab, um auf die Klingel zu drücken.
„Ja, bitte?“
„Kripo Hamburg vom LKA 41, mein Name ist Berner. Dürfen wir hereinkommen?“
Sönke hatte recht gehabt! Das war die bessere Gesellschaft, deren Villen normalerweise nur die Kollegen vom Einbruchsdezernat zu Gesicht bekamen, aber nicht die Mordbereitschaft! Eine Frau mit grauem Haar, in dunklem Kleid und weißer Schürze, öffnete und bat die Beamten einzutreten. Sie führte sie durch eine großzügige Halle mit einzelnen antiken Möbelstücken zum Salon – wie sie es nannte –, in dem die Herrschaft die Kriminalpolizei bereits erwartete.
Ein älterer Mann erhob sich, als sie eintraten, und schüttelte erst Sönke, dann Sabine und zum Schluss dem Neuen die Hand. Aha, immer noch die alte Denkweise: Der älteste Kollege musste derjenige sein, der am meisten zu sagen hat! Na ja, in gewisser Weise war das heute ja auch so, musste Sabine mit Bedauern zugeben.
„Ich habe all meine Arbeit liegen lassen und bin sofort hierhergeeilt, als ich von dem Vorfall hörte. Sie wundern sich sicher nicht, mich hier zu sehen.“
Er ist überzeugt, dass man ihn kennen muss. Sabine sah zu Sönke und Michael hinüber, aber die beiden tauschten nur ratlose Blicke aus. Verdammt, wer war der Kerl? Eine unangenehme Pause entstand, während Sabine mit ihrem Gedächtnis haderte.
Komm schon, du hast ihn schon öfter gesehen. Aber wo? Wahlplakate! Ja, das war es. Und der Name?
„Van Lohsen!“, half er ihr weiter, verbarg aber nicht, dass er ihr diese Bildungslücke zum Vorwurf machte.
Endlich machte es klick! „Oh, Herr Senator. Entschuldigen Sie, in dieser Umgebung hätte ich Sie nicht erwartet.“
„Cathrin ist die Schwester meines Schwiegersohnes – Alexander Sandemann, der Gynäkologe! Sie hat mich sofort angerufen, als sie es erfahren hat.“
Sabine folgte seinem Blick zu der Frau im schwarzen Kostüm, die steif wie eine Puppe auf dem Sofa aus weißem Leder saß. Verloren, einsam, geschockt. Sie sah nur kurz zu den Kripoleuten hinüber und nickte kaum merklich zur Begrüßung, ihre Miene blieb jedoch unbeweglich. Die Frau neben ihr, die ihre Hand hielt, musterte die Besucher interessiert, sagte aber nichts. Sie wickelte eine kastanienbraune Haarsträhne um den Finger und rückte dann das moderne Collier um ihren Hals zurecht, das aus unregelmäßigen, mattsilbrigen Plättchen bestand. Vermutlich Platin, dachte die Kommissarin. Die Frau durfte etwa im gleichen Alter sein wie die Witwe. Eine Freundin, die sie zum Trost zu sich gebeten hatte? Eine Familienähnlichkeit mit Cathrin von Everheest konnte Sabine jedenfalls nicht feststellen.
Der Senator führte die Kripoleute zu der großzügigen Sitzecke und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Die Hausdame, die ihnen die Haustür geöffnet hatte, brachte Kaffee und Tee auf einem silbernen Tablett, stellte Streuzucker und Kandis, Sahne, Milch und Zitrone dazu und kam dann noch einmal mit einer Platte Kekse und Muffins.
„Danke, Frau Gerstner.“ Erst als die Hausdame die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff der Senator wieder das Wort.
„Ich habe Hauptkommissar Ohlendorf erwartet“, sagte er und ließ seinen Blick über die Besucher schweifen.
Aha, noch ein Pluspunkt, zählte Sabine und zwang sich zu einem Lächeln. Der Herr ist so wichtig, dass er nur mit dem Chef persönlich spricht. Fußvolk bitte zur Putzfrau in die Küche.
„Wir teilen uns die Befragungen bei einem Fall immer auf, damit die Ermittlungen so schnell wie möglich vorangehen. Sie müssen schon mit uns auskommen.“ Sie hielt Senator van Lohsens Blick stand. Nach einer Weile nickte er, beugte sich vor, goss sich Kaffee in eine der goldgeränderten Porzellantassen und trank einen Schluck.
„Nun, dann berichten Sie uns bitte, was gestern – oder heute Nacht – geschehen ist!“, forderte der Senator.
So schnell war ein Mann der Politik nicht bereit, das Zepter aus der Hand zu geben. Er war der Prototyp des Hanseaten: groß, kräftig, das blonde Haar ergraut, die Haut vom Segeln oder Tennisspielen – oder was solche Herren in ihrer Freizeit sonst noch trieben – gebräunt.
Sabine warf Sönke einen Blick zu, der nur widerwillig ihrer stummen Aufforderung nachkam und das Wort übernahm.
„Wir vermuten, dass Herr Sven von Everheest gestern Nacht in seinem Büro in der Klinik in der Jürgensallee zu Tode kam. Wahrscheinliche Todesursache ist ein Projektil, das ihm durch den Kopf geschossen wurde. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Wir dürfen Ihnen zurzeit keine weiteren Auskünfte erteilen. Bitte haben Sie dafür Verständnis. Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Fragen zu stellen und Sie zu bitten, uns bei den Ermittlungen behilflich zu sein.“ Er rieb seine Handflächen gegeneinander. Sabine spürte, wie unwohl sich der Kollege fühlte. Er sah zu der Witwe hinüber, die auf einen Undefinierten Punkt auf der Wand gegenüber starrte und vielleicht nicht einmal zugehört hatte. Sönke wandte sich wieder an den Senator. Seine Stimme ließ die übliche Selbstsicherheit vermissen.
„Herr Senator, dürfte ich Sie bitte, uns mit Frau von Everheest allein zu lassen? Bleiben Sie aber bitte in der Nähe. Ich möchte auch an Sie und alle anderen, die sich im Haus aufhalten, ein paar Fragen stellen.“
„Du solltest Kai anrufen“, sagte der Senator. Die Witwe reagierte nicht. „Herr Reeder von Reeder & Carst ist Svens Anwalt – war, meine ich“, fügte er an den Kripobeamten gewandt hinzu, „falls der Tote wirklich Sven ist, wovon ja auszugehen ist.“
„Warum sollte Frau von Everheest das tun? Meinen Sie, sie könnte uns etwas berichten, das sie selbst belastet?“
„Aber nein!“, brauste Senator van Lohsen auf. „Was soll diese Unterstellung?“
„Lass es gut sein“, erklang eine müde Stimme von dem Zweisitzer gegenüber. „Die Kripo will mir doch nur die üblichen Fragen stellen.“
Der Senator zögerte noch einen Augenblick, dann erhob er sich und winkte der Freundin, die bis dahin stumm die Hand der jungen Witwe gehalten hatte.
„Tanja, komm!“
Die Frau, die kaum Mitte zwanzig sein konnte, erhob sich und strich ihren roten Minirock glatt. Sie war sehr groß und sehr schlank, und der tief ausgeschnittene Spitzenbody enthüllte ein ansehnliches Dekolleté.
„Entschuldigen Sie bitte“, hielt Michael Merz sie auf, der unaufgefordert begonnen hatte, Protokoll zu schreiben. „Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?“
„Tanja Sandemann, geborene van Lohsen. Ich bin ihre Schwägerin – die Frau ihres Bruders Alexander.“
Der Kommissar dankte und notierte sich den Namen. „Dann ist der Herr Senator Ihr Vater?“
„Gut kombiniert“, antwortete Frau Sandemann mit einem spöttischen Lächeln.
Sabine, die Merz beobachtet hatte, registrierte, dass er seinen Blick weder in den tiefen Ausschnitt versenkte noch ihn die langen Beine zu den roten Pumps hinabwandern ließ. Vielleicht war er ja doch kein Widerling?
Unter der Tür drehte sich der Senator noch einmal um. „Cathrin, wenn du mich brauchst, wir sind in der Bibliothek.“
Die Kommissarin wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und wandte sich dann der Witwe zu.
Sechsundzwanzig Jahre alt war sie und vier Jahre mit Sven von Everheest verheiratet – gewesen, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. Aufrecht, mit durchgedrücktem Rücken saß sie da, die Füße ordentlich nebeneinander gestellt, die Hände im Schoß gefaltet. Sie trug ein perfekt geschnittenes, schwarzes Seidenkostüm, das sicher aus einem der sündhaft teuren Designershops am Neuen Wall stammte. Einziger Schmuck war eine kurze Perlenkette um ihren Hals. Einen Ehering konnte Sabine nicht sehen. Ihr blondes Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Knoten gedreht, das Gesicht sorgfältig geschminkt. Schade, so konnte Sabine nicht sehen, ob sie blass war oder sich Schatten des Kummers unter ihren Augen gebildet hatten. Seit sie das Make-up aufgelegt hatte, hatte sie jedenfalls nicht geweint.
Viel Interessantes brachte dieser Samstagvormittag nicht zutage. Cathrin von Everheest, geborene Sandemann, war gut erzogen, gebildet und hatte ihre Gefühlsregungen vorzüglich im Griff. Bereitwillig gab sie über die Daten ihres Lebens Auskunft: aufgewachsen an der Elbchaussee, ein paar hundert Meter weiter nach Nienstedten runter, in einer weißen Jugendstilvilla mit Säulenportal.
Ihr Vater hatte sich in der Gynäkologie einen Namen gemacht und eine bei reichen Paaren sehr begehrte Praxis aufgebaut. Seine Erfolge bei problematischen Schwangerschaften und bis dahin unerfülltem Kinderwunsch waren unumstritten. Nun hatte der alte Doktor sich zurückgezogen, um die schönsten Golfplätze der Welt zu bespielen, und seine Praxis dem Sohn Alexander überlassen. Cathrins Mutter hatte sich der Erziehung der beiden Kinder gewidmet, ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen und der Bildhauerei, für die der Rest der Familie kein Verständnis aufbringen konnte.
Während Cathrins Bruder Alexander wie viele Kinder aus der Nachbarschaft das Gymnasium in Blankenese besuchte, hatte sie darauf bestanden, ihre Ausbildung im berühmten Johanneum in Winterhude zu absolvieren. „Latein, Englisch, Griechisch“, zählte sie auf, als würde das zu den üblichen Grundlagen jeder Schulbildung gehören. Dort habe sie Tanja, die spätere Frau ihres Bruders, kennengelernt.
„Wir besuchten gemeinsam einige Fächer und die Literatur-AG. Sie kam öfter zu uns zu Besuch, und so hat sich das zwischen den beiden entwickelt“, erzählte sie mit einem Schulterzucken. „So wie bei Sven und mir auch“, fügte sie hinzu. „Alexander und er waren Schulfreunde und gingen in dieselbe Klasse.“
Sie hatte in Hamburg Literaturwissenschaften und Anglistik und ein wenig Kunstgeschichte studiert, das Studium nach ihrer Hochzeit jedoch vor dem Abschluss abgebrochen.
„Warum?“, wollte Sabine wissen. „Hat es Ihnen nicht gefallen?“
Frau von Everheest zögerte einen Moment. Zum ersten Mal sah sie der Kommissarin in die Augen. „Doch, sehr! Und meine Professoren haben es bedauert, dass ich ging, aber Sven brauchte meine Unterstützung. Er musste sich in der Klinik gegen seinen Vater behaupten, und das war nicht einfach. Sein Vater war der Maßstab aller Dinge und Sven der Assistenzarzt ohne Erfahrung, dessen neue Methoden sein Vater – ohne jemals richtig zuzuhören – vom Tisch wischte. Erst nach seinem Tod wurde es für Sven in der Klinik erträglicher, und er konnte bestimmen, was getan wurde!“ Das erste Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch es war kein Lächeln der Freude. War es Triumph?
„Dies ist das Haus Ihrer Schwiegereltern, nicht? Haben Sie zu Lebzeiten Ihres Schwiegervaters auch schon hier gewohnt?“
Sie seufzte leise. „Ja. Meine Schwiegermutter starb noch vor unserer Hochzeit, und Vater und Sohn waren sich einig, dass das Haus wieder eine Frau bräuchte. Ich habe gehofft, wir würden uns ein eigenes Haus an der Alster kaufen, doch trotz der Differenzen in der Klinik hing Sven sehr an seinem Vater und wollte nichts davon wissen.“
„Dann war der Tod Ihres Schwiegervaters eine Erleichterung für Sie?“
Ihre Fassade bekam einen Riss. „Was unterstellen Sie mir?“, rief sie, fing sich jedoch gleich wieder. „Ja“, fügte sie ruhig hinzu.
„Was werden Sie jetzt machen?“, fragte Sabine.
Die Frau zuckte mit den Schultern. „Erst einmal meine Angelegenheiten regeln. Unsere Zukunft sichern.“ Sie strich sich über den flachen Bauch. „Ich bin im fünften Monat“, verriet sie der Kommissarin und warf ihr einen schnellen Blick zu. „Vielleicht werde ich mein Studium wieder aufnehmen. Ich weiß es noch nicht. In den wenigen Stunden, seit man mir gesagt hat, dass Sven tot ist, habe ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht.“
Nach ihrem Gespräch mit der Witwe befragte Sabine den Senator und die Schwägerin. Anscheinend hatten die beiden Väter die Verbindung von Anfang an gefördert und auf eine schnelle Hochzeit gedrängt. Die Freundschaft der beiden Frauen schien – wie eng sie auch zu Schulzeiten einmal gewesen sein mochte – inzwischen eher abgekühlt. Zumindest von Seiten Cathrin von Everheests, die der Schwägerin ab und zu abschätzende Blicke zuwarf.
„Der Senator erwähnte vorhin einen Anwalt – Kai Reeder, von Reeder & Carst“, sagte Sönke, als die Witwe ihm zum Abschied zunickte.
„Ja, er ist seit dem Tod meines Schwiegervaters für die Klinik und für unsere privaten Angelegenheiten zuständig“, bestätigte Frau von Everheest. „Brauchen Sie seine Adresse?“
„Nicht nötig, die haben wir. Er ist übrigens seit zwei Tagen nicht mehr Ihr Anwalt. Wussten Sie das nicht?“
Der Senator und die Witwe sahen sich überrascht an, Tanja dagegen schien das Thema nicht zu interessieren. Sie betrachtete ihre langen, leuchtend rot lackierten Fingernägel.
„Nicht mehr ihr Anwalt? Aber wie kommen Sie denn darauf?“, rief der Senator aus. Auch Sabine sah Sönke fragend an. Diese Details hatte er ihr noch nicht erzählt.
„Wir haben ein entsprechendes Schreiben im Büro in der Klinik gefunden.“
„Peer, dann solltest du mir einen anderen Rechtsbeistand empfehlen, der meine Angelegenheiten regelt“, sagte Frau von Everheest, reichte Sabine zum Abschied die Hand und öffnete die Haustür.
„Ja, aber – nun gut, das besprechen wir später. Einen schönen Tag, die Herrschaften!“
„Warum hast du mir das nicht gesagt?“, wollte Sabine Berner wissen, als sie zwischen Blumenbeeten und kurz geschnittenen Rasenflächen die Auffahrt zum Tor zurückgingen.
Sönke zuckte mit den Schultern. „An das habe ich heute Morgen nicht gedacht. Ist mir erst wieder eingefallen, als der Herr Senator ihn erwähnte – und offensichtlich nichts davon wusste, dass die beiden nicht mehr miteinander wollten. Da dachte ich, es gibt vielleicht ’ne interessante Reaktion.“
Sabine nickte. „Ja, so könnte man das sagen. Du solltest dir den Knaben so schnell wie möglich ansehen. Was macht eigentlich Thomas heute?“
„Stöbert mit Uwe in der Klinik rum. Kunstfehler, unzufriedene Patientinnen, überhöhte Rechnungen und so ...“
Sabine zog eine Grimasse. „Alles gute Gründe, einem Arzt das Gehirn rauszupusten!“
Michael sah auf seine Uhr. „Sollen wir uns den Anwalt noch vornehmen oder erst etwas essen?“
„Essen!“, entschied Sönke. „Ich bin ja schon ganz maddelig.“ Und zu Sabine gewandt: „Du fährst uns nachher einfach hinterher. Der Kerl wohnt in Nienstedten, Elbhöhe, letztes Haus. Aber erst gehen wir ins Pantry, nech? Das ist gleich dort vorn, gegenüber den Dockenhuder Arkaden. Ich nehm Sauerfleisch mit Bratkartoffeln und Remoulade.“ Er leckte sich die Lippen. „Da können wir alles noch mal in Ruhe bei ’nem Bier bekakeln.“
„Dann geht ihr Männer mal ,bekakeln‘ und euch den Bauch vollschlagen. Ich habe hier in Blankenese noch was zu erledigen“, wehrte Sabine das Angebot ab und stieg in ihren Wagen. „Wann treffen wir uns an der Elbhöhe? Um drei?“
Sie wendete mit quietschenden Reifen und folgte der engen, gewundenen Einbahnstraße den Hang hinab, an der zu beiden Seiten Treppengassen einmündeten und sich Häuser an den Berg schmiegten.
Cathrin von Everheest sah den Kripoleuten durch das Fenster im Windfang nach.
„Das hätte ich nicht gedacht, dass er den Mut für so was aufbringt“, sagte Tanja Sandemann hinter ihr.
Die Witwe fuhr herum. „Wer? Was meinst du damit?“
Die Schwägerin zuckte mit den Schultern. „Ist doch eine ziemlich drastische Reaktion, nicht? Hat sie es ihm gesagt, oder hat er es endlich allein herausgefunden?“
Cathrin starrte sie mit offenem Mund an.
„Nun behaupte nicht, du hättest es nicht gewusst. Alle haben es gewusst!“
Die Blonde war unter ihrem Make-up blass geworden. „Nein, ich weiß es seit zwei Wochen.“ Ihre Stimme wurde bitter. „Natürlich nicht so lange wie du und die anderen! Aber Kai, glaube ich, ahnte nichts.“
Tanja schnaubte durch die Nase. „Männer! Sie sind so dumm und so leicht zu belügen! Doch dass er dann gleich so reagiert!“ Sie pfiff durch die Zähne.
„Du glaubst, er hat Sven erschossen?“ Cathrin schüttelte den Kopf. „Du bist verrückt. Wie kannst du so etwas denken?“
Tanja blieb ungerührt. „Wenn nicht er, wer dann?“ Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Der Mund öffnete sich ungläubig bei dem ungeheuerlichen Gedanken, der ihr plötzlich durch den Kopf schoss. „Cathrin!“, stieß sie hervor und wich einen Schritt zurück.
„Ich glaube, du solltest jetzt gehen“, sagte die Witwe kühl und reichte der Schwägerin ihren teuren Ledermantel.
Sabine parkte gegenüber der Mitteltreppe und ging dann den Brandts Weg hinunter. Der Weg wand sich zwischen kleinen, farbigen Häusern mit ihren liebevoll gepflegten Gärten hindurch. Er war so schmal, dass die Kommissarin mit ausgestreckten Armen die Zäune zu beiden Seiten berühren konnte. Vor dem Gartentor der ihr genannten Adresse blieb sie stehen und klingelte. Nichts rührte sich. Sabine beugte sich über das Tor und sah die Treppe zu dem schmalen Hof hinunter. Eine getigerte Katze erhob sich von der Schwelle und schlenderte um die Ecke in den Garten davon. Sabine drückte noch einmal den Klingelknopf.
„Wollen Sie zu mir?“
Eine hochgewachsene Dame in den Sechzigern kam langsam den Weg entlang, eine Reisetasche in jeder Hand. „Da haben Sie aber Glück. Ich komme gerade aus Paris.“
Sie stellte die Taschen ab und griff sich mit der Rechten an den Rücken. „Ach, es ist nichts, wenn man alt wird.“ Sie lächelte, zog einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche und schloss das Gartentor auf.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie Sabine, die die schweren Reisetaschen aufgenommen hatte und hinter der Frau die Treppen zur Haustür hinunterstieg.
Die Kommissarin stellte sich vor. Wie sie es schon oft erlebt hatte, verschwand das Lächeln in dem Gesicht ihres Gegenübers.
„Ist denn etwas passiert?“, stieß die Frau ängstlich hervor. Ihre Hand zitterte so, dass der Schlüssel nicht ins Schloss fand.
„Das weiß ich noch nicht. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen zu einer ehemaligen Schülerin stellen. – Darf ich?“ Sabine schloss auf und stellte die Reisetaschen im Windfang ab.
„Du meine Güte.“ Clara Hofberger fing sich schnell wieder. Sie strich sich eine graue Strähne aus dem Gesicht und bat die Kommissarin herein.
„Ich kann uns Tee machen. Eine Dose mit Keksen müsste auch noch da sein. Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Ich war fast eine Woche weg!“
Sabine behauptete, sie sei nicht hungrig, doch Frau Hofberger bestand darauf, dass sie zumindest einen Becher Tee mit ihr trank.
„Über welches Mädchen wollten Sie mit mir sprechen?“
„Iris Stoever. Ich weiß nicht, ob Sie sich an sie erinnern. Es ist schon ein paar Jahre her, dass sie zu Ihnen in die Grundschule ging. Heute ist sie vierundzwanzig. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sie in letzter Zeit gesehen haben.“
„Ja, sie war hier, bevor ich in den Urlaub fuhr.“ Frau Hofberger runzelte die Stirn. „Es muss Sonntag gewesen sein. Ja, am Ostersonntag! Ich habe gerade meine Taschen gepackt und darauf gewartet, dass meine Tochter kommt, um mich zum Bahnhof zu fahren, da stand Iris vor der Tür. Ich war überrascht. Es muss Jahre her sein, dass ich mit ihr gesprochen habe – außer die paar Worte, die man sich zuwirft, wenn man einander auf der Straße begegnet.“
„Was wollte sie?“
Die Frau schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht. Sie sagte, sie sei zufällig vorbeigekommen, und da habe sie sich an ihre alte Lehrerin erinnert und an die schöne Schulzeit, als alles noch so leicht gewesen sei. Warum?“
„Iris ist seit Ostersonntag verschwunden, und bisher sind Sie die Letzte, die mit ihr gesprochen hat.“
„Oh Gott!“, rief Clara Hofberger und griff sich ans Herz. „Ihr wird doch nichts zugestoßen sein?“
„Das versuchen wir herauszufinden.“
Die Lehrerin nickte, griff fahrig nach dem Teller mit den Keksen und hielt ihn der Kommissarin entgegen. Eines der Gebäckstücke fiel auf den Tisch und zerbrach. Mit zitternden Händen hob sie die einzelnen Stücke auf und legte sie auf ihren Unterteller.
„Bitte erzählen Sie mir von ihr, wie sie früher war, wie Sie sie in Erinnerung haben“, bat Sabine.
Die alte Lehrerin trank einige Schlucke und starrte über ihre Tasse hinweg ins Leere. Dann entspannte sich ihre Miene, und sie lächelte versonnen. „Ach ja, Iris. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber sie war von Anfang an mein Liebling. Natürlich habe ich mich bemüht, es die anderen Kinder nicht merken zu lassen. Sie war so ein herzliches, sonniges Kind, immer so strahlend und offen. Ich glaube, auch sie hat mich sehr gern gemocht, obwohl sie zu allen Kindern und Lehrern freundlich war. Am meisten hing sie natürlich an Maike, ihrer Zwillingsschwester. Die beiden waren wie zwei Kletten – eine nie ohne die andere. Wobei ich denke, Iris brauchte Maike mehr als andersherum. Sie stand ein wenig in ihrem Schatten. Maike war eben die Schöne, die stets Bewunderte – und deshalb vielleicht auch immer ein wenig eingebildet und überheblich. Das angenehmere Wesen hatte Iris!“
„Maike, die Schöne?“, hakte Sabine ungläubig nach.
„Oh ja, ich habe kein anmutigeres Kind gekannt. Sie wurde von allen bewundert. Selbst die Lehrer hatten einen Narren an ihr gefressen – wenn ich das so sagen darf. Ich habe ein Bild von den Zwillingen und ihren beiden Freundinnen. Möchten Sie es sehen?“
Sabine nickte. Clara Hofberger erhob sich und ging hinaus. Es dauerte eine Weile, bis sie mit einem verblichenen Foto zurückkam, das sicher schon mehr als ein Dutzend Jahre alt war.
„Iris, Maike, Aletta und Carmen.“
Die Kommissarin starrte das Foto an. „Dürfte ich es für eine Weile behalten?“
Die alte Lehrerin nickte widerstrebend. „Was glauben Sie, ist ihr zugestoßen?“, fragte sie nach einer Weile leise.
„Was glauben Sie?“, gab Sabine die Frage zurück. „Ist sie weggelaufen? Mit einem Freund durchgebrannt?“ Die Lehrerin schüttelte den Kopf.
„Ist sie überfallen worden? Entführt? Hat sie sich das Leben genommen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Clara Hofberger, „aber wenn ich in mich hineinhöre, dann sagt mir eine Stimme, dass sie sich etwas angetan hat. Ich habe so eine tiefe Verzweiflung gespürt.“
Sabine sah noch einmal auf das Foto hinab und betrachtete die strahlenden Kindergesichter. „Sie sind noch immer Freundinnen.“
„Ja, sie waren schon immer unzertrennlich und sind nach der vierten Klasse alle ins Gymnasium Blankenese gekommen. Carmen war die Gescheiteste. Sie nannten sie immer Eule. Vermutlich auch wegen ihrer Brille.“ Sie hielt inne, in ihre Erinnerungen versunken, und schüttelte wieder den Kopf.
„Von allen vieren hätte ich erwartet, dass sie später einmal studieren und aufregende Jobs bekommen. Aletta wollte immer Tierärztin werden und Carmen Lehrerin – oder noch besser: Professorin!“ Sie lächelte.
„Und Iris?“
„Iris war sich schon immer sicher, dass ihre Schwester einmal ein berühmter Filmstar wird, und sie wollte dann mit Maike um die Welt reisen und sie zu den Dreharbeiten und tollen Partys begleiten. Andererseits aber war es ihr wichtig, einen Mann zu finden und Kinder zu bekommen. ,Wissen Sie, Frau Hofberger‘, hat sie einmal ganz ernst zu mir gesagt, ,ich werde eine Kinderfrau brauchen, denn wie soll ich sonst mit Maike reisen, solange meine Kinder noch klein sind?‘“
Tief in Gedanken versunken, fuhr Sabine um den Süllberg herum, um wieder auf die Elbchaussee zu gelangen. Die Männer saßen noch immer in der etwas heruntergekommenen Kneipe über ihren Tellern. Sie schienen sich bestens zu unterhalten. Die Kommissarin lehnte es ab, sich auf ein weiteres Bier zu ihnen zu setzen. Die Hände in den Jackentaschen, blieb sie neben dem Tisch stehen, bis Sönke die Rechnung beglichen hatte.
Die beiden Wagen fuhren hintereinander die kurze Strecke zur Elbhöhe und parkten am Ende der Sackgasse. Sabine musste dreimal klingeln, ehe eine Frau ihnen öffnete. „Ja, was wollen Sie?“
„Kriminalpolizei, dürfen wir hereinkommen?“
Die Frau wollte nicht einmal ihre Ausweise sehen, sondern führte sie gleich auf die andere Seite des Hauses in ein Wohnzimmer, dessen Längsseite nach Westen hin komplett verglast war und einen überwältigenden Blick über die Elbe und das Alte Land bot.
„Sind Sie Frau Reeder?“ Sie nickte. Aufmerksam betrachtete Sabine die Frau mit den üppigen Formen und dem kräftig rot gefärbten Haar. Sie hatte die dreißig bestimmt noch nicht erreicht und sah sonst vermutlich sehr attraktiv aus. Heute jedoch war ihre Wimperntusche verwischt und das Make-up fleckig. Sie trug einen fließenden, cremefarbenen Overall mit breitem Silbergürtel, der ihre Figur betonte.
„Können wir bitte Ihren Mann sprechen?“
Frau Reeder schüttelte den Kopf. „Er ist nicht da. Er ist gestern an die Nordsee gefahren und wird sicher nicht vor Ende der Woche zurückkommen.“
„Können Sie uns seine Adresse geben?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie knetete ihre Hände und wandte den Blick ab. Sie sah hinaus in den Garten, dessen Büsche einen anmutigen Rahmen für den Elbblick boten. „Er ist losgefahren, ohne vorher ein Quartier zu buchen. Vielleicht ist er auf Sylt, ich kann es jedoch nicht versprechen.“ Sie lachte unsicher.
„Aber er hat doch sicher ein Mobiltelefon dabei!“
„Ja.“ Sie gab Michael die Nummer und sah dann fragend von einem zum anderen. „Ist das dann alles?“
Warum fragte sie nicht, aus welchem Grund die Kripobeamten sie an einem Samstagnachmittag daheim störten? Wusste sie es bereits? Wer hatte es ihr gesagt?
„Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“
„Ja.“ Es klang widerstrebend, doch sie entschloss sich, den Kripoleuten endlich auf den Sesseln von Le Corbusier Platz anzubieten.
„Kennen Sie einen Herrn Dr. Sven von Everheest?“
Ihre Augen verengten sich ein wenig. „Ja.“
„Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?“
„Verhältnis?“, rief sie schrill. „Wie soll ich das verstehen? Er ist ein Mandant meines Mannes.“
„Nur ein Mandant?“
Sie hob die Hände. „Mandant, Bekannter, Freund – was macht das für einen Unterschied?“
„Ich denke schon, dass es einen Unterschied macht. Sind sie denn Freunde?“
Frau Reeder schien zu überlegen. „Sie sind zusammen in die Schule gegangen“, sagte sie schließlich.
„Hatten die beiden – privat oder geschäftlich – Differenzen? Wissen Sie von einem Streit?“
Wieder dieser lauernde Blick. „Nein, wir sprechen nicht über seine Mandanten. Er ist Anwalt, und da gibt es doch so etwas wie Schweigepflicht“, sagte sie nach einer Weile.
Gut aus der Affäre gezogen, dachte Sabine und sah zu Michael hinüber, der etwas auf seinem Block notierte.
Sabine gab Frau Reeder eine von Sönkes Karten. „Wenn Ihr Mann sich meldet, dann rufen Sie uns bitte an. Sein Mandant Sven von Everheest wurde erschossen. Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen.“
Nur ihre Wimpern zuckten, und ihre Mundwinkel verzogen sich wie unter einem kurzen Schmerz. „Ich werde es ihm ausrichten.“
Sie öffnete die Tür und wartete darauf, dass sich die Kripoleute erhoben und endlich das Haus verließen.
„Was ’n mit der los?“, wunderte sich Sönke, als sie auf der Straße standen.
„Sie lügt“, sagte Michael fest und sah zu Sabine hinüber. „Sie hat den Herrn Doktor besser gekannt, als sie uns weismachen will, und es hat ihr, bereits bevor wir kamen, jemand gesagt, dass er erschossen wurde.“
Sabine nickte zustimmend. „Ja, das sehe ich auch so. Außerdem denke ich, dass sie von dem Streit zwischen ihm und ihrem Mann weiß – falls diese Kündigung wirklich aus einem Streit heraus entstanden ist, aber meiner Meinung nach können wir davon ausgehen. Warum sonst sollten sie sich bereits nach einem Jahr geschäftlich wieder trennen, nachdem Everheest sofort nach dem Tod seines Vaters den alten Familienanwalt durch einen Schulfreund ersetzt hat?“
Sönke gähnte. „Ich fahr nach Hause. Ich muss mich mal ’ne Nase lang hinlegen – und dann gibt es Rinderfilet mit Kartoffelgratin und frischem Spinat. Ich habe gestern schon einen Amarone aus dem Keller geholt.“ Er lächelte verzückt. „Und was hast du noch vor, Michael?“
„Ich würde gern bei den alten Kollegen in der Davidwache vorbeischauen. Und dann mal sehen. Vielleicht gehe ich bei Bok später was essen.“
„Da kann dich Sabine mitnehmen und am Kiez rauslassen, nech?“
Sie presste kurz die Lippen zusammen, schloss ihr Auto auf und nickte dann. Sönke legte ihr die Hand auf die Schulter. „Dank dir, mien Deern. Hast vor den Geldsäcken ’ne gute Figur gemacht. Hab doch den rechten Riecher gehabt, dich mitzunehmen. Also, denn bis denn.“
Ächzend ließ er sich auf den Sitz seines alten Daimler Diesels fallen und startete den Motor, der erst nach einigem Protest ansprang. Michael Merz ließ sich auf den Beifahrersitz des blauen Passats sinken.
„Ich danke Ihnen auch, dass Sie mir bei meinem ersten Einsatz beigestanden haben.“
„Keine Ursache!“, sagte Sabine kurz angebunden und bog in die Elbchaussee ein.
Eine Weile schwieg er, sah aber immer wieder zu ihr hinüber. „Ich verstehe, dass Sie sauer auf mich sind. Wäre ich an Ihrer Stelle vielleicht auch.“
„Ich bin nicht sauer! Nicht auf Sie. Es ist nur vernünftig, wenn die Kollegen Verstärkung bekommen und ein wenig entlastet werden, da keiner weiß, wann oder ob ich wiederkomme.“ Der Kommissar nickte nur und sah aus dem Fenster.
„Es ist nur so – ich vermisse das alles sehr“, fügte sie nach einer Weile leise hinzu, obwohl sie ihm das gar nicht hatte sagen wollen.
„Soll ich Ihnen eine Abschrift des Protokolls schicken?“, fragte er, als sie St. Pauli erreichten.
„Sie wissen, dass das illegal ist?“
Er schien nicht im Mindesten verlegen. „Sie haben die Befragung geführt, also ist es auch Ihr Fall. Was schadet es, wenn Sie sich Gedanken darüber machen? Ziel ist es doch, den Fall so schnell wie möglich zu lösen, oder nicht?“
Sie nickte.
Aber ihr werdet dann die Früchte ernten, und ich werde weiterhin kaltgestellt. Vielleicht sollte sie zu ihrem Hausarzt gehen und ihm sagen, dass sie sich völlig in Ordnung und fit fühlte und dass seit Dezember keine Gedächtnislücken mehr aufgetreten waren? Vielleicht würde dem Tieze seine Empfehlung genügen, und er würde nicht mehr auf einer Therapie bei diesem Psychodoktor bestehen?
Sie ließ Michael in der Davidstraße aussteigen und sah ihm nach, wie er in dem schlanken Klinkerbau mit der Aufschrift „Polizei“ verschwand. Er bewegte sich geschmeidig. Sicher war er sportlich, joggte jeden Morgen oder spielte Handball oder so etwas.
Du könntest ihn das nächste Mal danach fragen, forderte sie eine Stimme auf, die verdächtig nach der ihrer Mutter klang. – So ein gut aussehender, junger Mann!
Der sicher längst verheiratet ist und zwei Kinder hat – und mich außerdem überhaupt nicht interessiert! Momentan habe ich nur Hunger!
Sie stieg aus und warf die Wagentür zu. Direkt vor dem Polizeirevier im Halteverbot lange stehen zu bleiben war sicher nicht ratsam, aber zumindest einen Burger und ein paar Pommes konnte sie sich rasch von gegenüber holen. Sie lief über die Straße und betrat den Burger King, vor dem zu dieser Zeit bisher nur zwei junge Frauen standen, deren Aufmachung zeigte, welchem Gewerbe sie nachgingen. In ein paar Stunden würden sie hier den ganzen Gehweg entlang stehen!
Sabine trat zur Theke und wartete, bis der Junge vor ihr mit seinem voll beladenen Tablett auf einen Tisch zusteuerte.
„Ja bitte? – Oh, Frau Berner! Suchen Sie mich? Haben Sie etwas herausgefunden?“
Die Kommissarin starrte die dicke Frau mit den blauen Haaren an. „Maike! Nein, ich habe Sie nicht gesucht. Ich dachte nicht daran, dass Sie hier arbeiten. Es tut mir leid, viel habe ich noch nicht erfahren. Allerdings hat Iris am Ostersonntag tatsächlich ihre Grundschullehrerin aufgesucht. Von da an verliert sich ihre Spur jedoch wieder.“
Das Glänzen in Maikes Augen erlosch. „Gut, dann bringe ich Ihnen etwas zu essen. Was möchten Sie? Einen Whopper, Pommes und eine Cola? Kommt sofort.“
Sabine ließ sich die Sachen einpacken und fuhr nach Hause. In ihrer Wohnung über der Langen Reihe in St. Georg saß sie am Tisch, kaute auf dem lauwarmen Burger herum und trank die Cola, die ihr viel zu süß war, doch sie bemerkte es nicht einmal. Ihre Gedanken waren bei der jungen Frau, die am Ostersonntag verschwunden war. Sie holte die beiden Fotos heraus, die ihr Iris’ Großmutter und die Lehrerin gegeben hatten.
„Wo bist du? Was ist aus deinen Träumen geworden?“, sagte sie leise.