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Graf Gerald von Theron

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Lamina stand an die steinerne Brüstung gelehnt und beobachtete ihren Gatten, der langsam über den Hof schritt. Der Wind fiel kalt von den Silberbergen herab, deren schroffe Klippen sich im Westen der Burg erhoben. Fröstelnd zog die junge Frau ihren Umhang enger um sich und bedeckte das tiefe, perlengeschmückte Dekolleté. Unter dem samtblauen Mantel bauschte sich ihr seidiges Kleid, das in der Farbe reifer Aprikosen ihre schlanke Gestalt umschmeichelte. Ihr kupferrotes Haar hatte sie sich von ihrer Zofe zu einer kunstvollen Frisur aufstecken lassen. Das Flammenlicht der Fackeln zu beiden Seiten des Tores ließ die Facetten kleiner Edelsteine in ihrem Haar aufblitzen.

Gerald von Theron kam langsam näher und blieb dann stehen, so als wisse er plötzlich nicht mehr, wohin er hatte gehen wollen. Lamina seufzte leise. Es schmerzte sie, ihn anzusehen, wie er, verloren wie ein kleines Kind, mitten im Burghof stand, die Stirn gerunzelt, die Lippen fest zusammengepresst, und doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden.

War das der Mann, der im Sturm ihr Herz erobert, den sie gegen den erbitterten Widerstand ihres Vaters geheiratet hatte? Mit dem sie Tage und Nächte im Rausch des überschäumenden Glücks verbracht hatte? Der starke, männliche junge Graf von Theron, dessen Lächeln sie schmelzen und dessen klingende Stimme sie vor Verlangen erschaudern ließ, der seine Ländereien und seine Bauern mit ruhiger sicherer Hand führte, vor keinem Kampf zurückschreckte und eine geschickte Klinge führte.

Das war früher gewesen, bevor sich Gerald auf so rätselhafte Weise vollkommen verändert hatte.

Mit unsicherem Schritt nahm der Graf seinen Weg wieder auf und kam auf die weit geschwungene Freitreppe zu. Lamina raffte ihren Rock und eilte ihm entgegen.

»Liebster, wo bist du gewesen? Ich habe über eine Stunde bei Tisch auf dich gewartet.« Ein leichter Vorwurf schwang in ihrer Stimme.

»Oh.« Der Graf blinzelte und lächelte sie dann unsicher an. »Ich wusste nicht, dass es schon so spät ist. Meine Liebe, ich bin untröstlich, dass ich dich warten ließ.«

»Aber Clem hat dich in deinem Gemach aufgesucht und dir gemeldet, dass das Mahl bereitet ist!«, begehrte sie auf und spürte den Unmut in ihrem Herzen brodeln.

»Ja? Ich kann mich nicht daran erinnern«, erwiderte der Graf und bot ihr den Arm. »Wir sollten hineingehen. Es ist viel zu kalt für dich hier draußen«, sagte er, doch es war eher die fehlende Wärme in seiner Stimme, die Lamina frösteln ließ. Schweigend schritten sie die Treppe hinauf und traten in die große Halle. Gerald von Theron führte seine Gattin in den Speisesaal, der von einem großen Kaminfeuer erwärmt und von einem Dutzend Kerzen erhellt wurde. Der Tisch aus glänzend poliertem Wurzelholz war reich gedeckt, doch nur einer der beiden Teller war unbenutzt. Ein Diener begann den Teller des Grafen mit den längst kalten Speisen zu füllen. Gerald von Theron blieb stehen.

»Wie ich sehe, hast du schon gespeist, meine Liebe, dann will ich dich nicht aufhalten und bitten, mir Gesellschaft zu leisten. Du musst müde sein. Clem soll dir deine Zofe schicken.«

Er küsste sie leicht auf die Stirn und wandte sich dann ab, um ein kaltes Brathuhn zu verspeisen. Lamina blieb verdattert stehen und starrte auf seinen Rücken, doch er schien seine Gemahlin bereits vergessen zu haben.

Die Gräfin trat zu ihrem Gatten und legte ihm die Hand auf den Arm. Gerald von Theron ließ das Hühnerbein, das er gerade zum Mund führen wollte, sinken.

»Kommst du später noch in mein Gemach?« Ihre Stimme nahm einen schmeichelnden Klang an. »Wie viel gemütlicher sind diese kühlen Nächte, wenn man sie in weichen, warmen Armen zubringen kann.«

Gerald von Theron sah sie nicht an. »Sicher, meine Liebe, sicher«, sagte er teilnahmslos und biss ein Stück des kalten weißen Fleischs ab. Lamina drehte sich um und eilte hinaus. Er sollte ihre Tränen nicht sehen.

Wahrscheinlich würde er meine Tränen nicht einmal bemerken, wenn ich mit rot geweinten Augen direkt vor ihm stünde, dachte sie bitter, als sie mit gerafften Röcken die Treppe hochstieg und dann dem nur spärlich erleuchteten Gang in den Westflügel folgte.

Sie ließ sich von Veronique entkleiden und schlüpfte dann in ein langes, seidig schimmerndes Nachtgewand. Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild, während das Mädchen ihr das lange rote Haar auskämmte. Große, fast schwarze Augen, von langen Wimpern gerahmt, sahen ihr entgegen, aus einem blassen, schmalen Gesicht mit vollen roten Lippen.

Es ist meine Schuld, dass ich ihn verloren habe, dachte sie, und wieder stiegen Tränen in ihr auf. Erst Cervin und dann Gerald. Ach, wäre das alles nur nicht passiert. Doch niemand konnte die Zeit zurückdrehen, niemand die Toten wieder lebendig machen, nicht einmal die großen Magier. Und niemand konnte eine verlorene Liebe zurückbringen.

Lange lag sie wach in ihrem Bett und lauschte den verklingenden Lauten der Burg, doch keine Schritte näherten sich ihrem Gemach. Kein Gatte kam, um das Lager mit ihr zu teilen. Der Mond stieg hoch und sank wieder herab. Seine silbernen Strahlen streichelten ihre Wangen, als Lamina plötzlich hochschreckte. War es ein Geräusch oder eine böse Ahnung, die ihre Nackenhaare sich sträuben ließen? Ohne darüber nachzudenken, sprang die junge Frau aus ihrem Bett und streifte sich ihren Umhang über. Barfuß trat sie ans Fenster und schob die Vorhänge beiseite. Der Mond tauchte den Burghof in sein fahles Licht und enthüllte zwei gedrungene Gestalten, die an der Mauer entlang zum Wirtschaftsgebäude hinüberhuschten. Dort trat ihnen eine schlanke, schwarzhaarige Frau entgegen. Lamina konnte die Schneide einer Kriegsaxt aufblitzen sehen. Die Frau sprach einige Augenblicke mit den beiden, dann öffnete sie die Tür, die zu den Kellergewölben hinunterführte. Die beiden Gestalten verschwanden in der Schwärze der Öffnung, dann schloss die Frau die Tür hinter ihnen wieder. Sie sah sich aufmerksam im Hof um. Ihr Blick wanderte die Mauern hinauf und blieb an einem offenen Fenster im Westflügel hängen. Die junge Gräfin trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Mykina konnte sie unmöglich gesehen haben, beruhigte sie sich, und doch fühlte sie sich von einem scharfen Blick durchbohrt. Wie schon so oft fragte sie sich, ob die unheimliche Frau wirklich das war, was sie zu sein vorgab: eine Schülerin der Magie, die bei Graf Therons Hofmagier Lahryn dienen und lernen wollte.

Was geht hier vor sich?, fragte sich Lamina beunruhigt. Sie zögerte einen Moment, doch dann eilte sie aus ihrem Zimmer, folgte dem düsteren Gang und klopfte an die Tür von Geralds Gemach. Nichts rührte sich. Sie klopfte noch einmal und trat dann ein. Lamina durchquerte den Vorraum und trat ins Schlafgemach ihres Gatten. Nichts deutete darauf hin, dass er es in dieser Nacht schon einmal betreten hatte. Sein Bett war unberührt, das Nachtgewand lag sauber gefaltet auf dem Kopfkissen. Lamina erstarrte. Sie spürte, wie die Angst nach ihr griff. Hatte sie, als Gerald von seiner langen Reise endlich zurückkehrte, noch gedacht, die schlimmste Zeit wäre vorüber, so fühlte sie plötzlich, dass die Stürme des vergangenen Jahres erst die Vorhut gewesen waren. Ein düsterer Schatten legte sich über die Burg, kroch in alle Ritzen und Herzen, doch sie konnte dem Schrecken keinen Namen geben, konnte das Böse um sich herum nicht greifen.

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. In Reithosen und Stiefeln, den Mantel noch über der Schulter, stand der Graf im Schlafzimmer und betrachtete Lamina stirnrunzelnd.

»Warum bist du nicht in deinem Bett? Du solltest zu dieser Zeit schlafen«, sagte er barsch.

Da brach es aus ihr heraus. Was sie wochenlang mühsam in sich vergraben hatte, flutete in einem Strom hervor und ergoss sich über den Grafen.

»Sag mir, warum habe ich deine Liebe verloren? Gibst du mir die Schuld? Auch ich trauere um unseren Sohn, mehr als du dir vorstellen kannst! Musst du mich auch noch mit deiner Verachtung strafen?«

Etwas wie Erstaunen huschte über die Züge des Grafen. Zögernd legte er die Arme um sie und zog Lamina an seine Brust. Behutsam streichelte er ihren Rücken. »Niemand gibt dir die Schuld an einem tragischen Unfall. Gräme dich doch nicht so sehr.«

Mit tränennassem Blick sah sie zu ihm hoch.

»Was dann hat mir deine Liebe geraubt? Was ist in diesem Jahr geschehen, als du in der Ferne weiltest? Sag es mir, denn ich kann mit deiner Gleichgültigkeit nicht mehr weiterleben. Es ist, als habe ich für dich nie existiert.«

Die Lippen ihres Mannes zuckten, und er schwieg lange, ehe er antwortete.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er noch einmal. »In dieser Welt geschehen Dinge, die größer sind als unser Verstand. Sie nehmen keine Rücksicht auf einen armseligen Menschen und seine kleinen Gefühle. Ich kann es dir nicht erklären. Ich kann nur hoffen, dass du mir irgendwann vergibst.«

Sie sah fragend zu ihm hoch, und plötzlich flackerte wieder der vertraute Glanz in seinen Augen auf. Er beugte sich herab und küsste sie auf den Mund, erst zögernd und dann immer stürmischer. Der Mantel fiel zu Boden, das Nachtgewand folgte. In heißer Leidenschaft eng umschlungen, fielen sie in die weichen Kissen. Lamina vergaß ihre Angst, vergaß die Einsamkeit und die Leere der vergangenen Monate, und als sie in einen seligen Traum hinüberglitt, war sie sich sicher, dass nun das Glück zu ihr zurückkehren würde.

Als die junge Gräfin am späten Morgen erwachte, war Gerald verschwunden. Sie suchte ihn in der ganzen Burg, sie fragte alle Bediensteten, doch niemand hatte den Grafen gesehen. Was die ersten Stunden Erstaunen war, wurde am Abend Besorgnis und in der folgenden Nacht kalte Angst. Die Tage vergingen, doch Gerald von Theron blieb verschwunden. Eine Woche wachte und wartete Lamina vergeblich, dann packte sie zwei Bündel, ließ die Pferde für sich, ihre Zofe und einen der Wächter satteln und reiste nach Fenon, um sich Rat beim alten Advokaten des Grafen zu holen.

Die Drachenkrone

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