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Burg Theron

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In einer riesigen Höhle, deren Wände in feurigem Rot leuchteten, lag ein Drache. Er hatte sich in den Berg von Münzen und Edelsteinen, die er in seinen jungen Jahren angehäuft hatte, eine bequeme Kuhle gegraben. Nun ruhte der schuppige Kopf auf den Klauenfüßen. Kleine Rauchkringel stiegen aus seinen Nasenlöchern auf, wenn er ausatmete, und von Zeit zu Zeit huschte ein Leuchten über seinen Körper, dessen hornige Schuppen wie poliertes Kupfer glänzten.

Der Drache maß von der Schwanzspitze bis zur Nase stolze einhundertsiebzig Fuß. Ein gewaltiger Anblick aus der Sicht eines unbedeutenden Menschen. Fast eintausend Jahre war die Echse inzwischen alt, doch die letzten Jahrhunderte hatte sie fast völlig verschlafen. Seit einiger Zeit jedoch wachte der Drache immer öfter auf. Dann warf er misstrauische Blicke um sich und sog geräuschvoll die Luft ein. Wie alle Drachen war Peramina sehr empfänglich für magische Schwingungen, und was die Echse nun witterte, gefiel ihr gar nicht. Es lag etwas Böses in der Luft, das wuchs und wuchernd um sich griff. Peramina spürte mächtige schwarze Magie.

Der Drache war alt und wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, doch was würde aus seinen Nachkommen werden? Früher waren seine Schätze das Wichtigste für ihn gewesen. Die glänzenden Haufen zu vermehren hatte ihn befriedigt, und er war glücklich gewesen, nur dazuliegen und den Glanz der wertvollen Metalle und schimmernden Edelsteine zu betrachten. Doch der Wert der Schätze war in seinen Augen verblasst. Es gab plötzlich wichtigere Dinge, die viel schwieriger zu erlangen waren als die glänzenden Münzen.

Obwohl der Drache seit dreihundert Jahren seinen Hort nicht mehr verlassen hatte, wusste er, was in der Welt dort draußen vor sich ging. Er kannte die Zwerge, die sich in die Westflanke der Silberberge gruben, um dem Fels das wertvolle Metall zu entreißen, und er las in den Gedanken der Menschen, die auf der Jagd nach den grauen Bären durch die tiefen Schluchten und über die steilen Pässe zogen. Im Süden, dort wo die Silberberge in sanfte grüne Hügel übergingen, lebten Elben, doch sie verließen nur selten ihre Wälder. Die Menschen und ihr Geschick interessierten sie nicht.

Peramina sandte ihre Gedanken auf Reisen. Lange hatte die Echse geschwiegen, doch nun war die Zeit gekommen, ihr Schweigen zu brechen. Der Friede der gesamten Welt war in Gefahr, und mit ihm die Freiheit der stolzen Drachen.

Noch vor Sonnenaufgang brachen die Gefährten am nächsten Morgen auf. Sie ritten durch die leeren Gassen zum Nordtor hinaus und folgten dann dem Lauf eines munteren Baches. Der wolkenlose Himmel versprach wieder einen schönen Tag. Es schien, als sei nach wochenlanger Kälte und tagelangen Wolkenbrüchen endlich der Sommer eingekehrt. Ausgeruht und voller Erwartungen ritten sie auf einem schmalen Pfad nach Nordwesten. Cay trieb sein scheckiges Pferd an, und Ibis setzte ihm nach. Voller Übermut lieferten sich die beiden ein Wettrennen und verschwanden unter lauten Rufen um die nächste Biegung. Schimpfend ritt Thunin auf seinem kleinen, kräftigen Kaltblüter hinterdrein.

»Lass sie sich doch austoben«, meinte Vlaros, der neben dem Zwerg herritt. »Bis heute Abend werden sie schon noch müde werden.« Wie üblich war der junge Magier tadellos gekleidet und saß aufrecht im Sattel.

Rolana studierte aufmerksam die Karte, die ihnen Cewell gegeben hatte. Vier oder fünf Tage würden sie auf dem direkten Weg durch die Wälder schon brauchen. Immerhin mussten sie nicht den weiten Umweg über Welchen und Dijol nehmen, den die Handelskarren benutzten, da die Waldpfade viel zu schmal für sie waren. Es war nicht einfach gewesen, die junge Gräfin davon zu überzeugen, dass es für sie sicherer war, wenn sie vorerst bei ihren Eltern blieb, bis die Freunde herausgefunden hatten, was auf Burg Theron vor sich ging, doch schließlich hatte sie nachgegeben.

Die Freunde ritten auf ein lichtes Wäldchen zu. Rolana sah sich um: das saftige Grün, die unzähligen Vögel, die mit ihren hellen Stimmen den Morgen begrüßten, der Tau, der in den Grashalmen funkelte. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, und so stimmte sie eine Hymne an Soma an. Sie dankte ihm für die Schönheit der Welt und für seine Güte, sie an diesen Platz geführt zu haben. Der Wind trug ihre kräftige Altstimme zu den beiden Reitern hinter ihr, die dem Lied schweigend lauschten.

Rolana war erfüllt von ganz neuen Gefühlen. Etwas in ihr war in den letzten Tagen erwacht, es keimte und wuchs. Ungekannte Wünsche erfüllten ihre Gedanken. Die ganzen Jahre war sie im Kloster zufrieden gewesen und hatte nichts vermisst, doch nun konnte sie sich nicht mehr vorstellen, in die stille Abgeschiedenheit der alten Mauern zurückzukehren. Rolana dachte an die wilden Berge und die Weiten der Wüste Drysert, von der Thunin ihr erzählt hatte. All das wollte sie mit ihren eigenen Augen sehen. Der Hunger nach Freiheit und Leben war in ihr erwacht.

Am späten Nachmittag überquerten die Gefährten einen schmalen Bachlauf. Das Gras wuchs hier üppig, und die Sonnenstrahlen tanzten auf dem klaren Wasser. Sie beschlossen, hier ihre erste Nacht zu verbringen. Thunin rutschte vom Pferd und ließ sich ins Gras plumpsen. Er zerrte seine Stiefel von den Füßen, warf sie achtlos zur Seite und streckte sich dann wohlig seufzend zwischen den duftenden Blumen aus. Die Sonne wärmte sein Gesicht.

»He!«, rief Ibis und trat ihn mit der Stiefelspitze in die Seite. »Kommst du nicht mit auf die Jagd?«

Thunin gähnte. »Nimm doch diesen jungen, hoffnungsvollen Schwertkämpfer mit.«

Die Elbe zuckte mit den Schultern. »Du wirst auch immer fauler«, brummelte sie und winkte dann Cay, ihr zu folgen.

Die beiden waren noch nicht lange unterwegs, da legte Ibis den Finger auf die Lippen. Geräuschlos bog sie einen Ast zur Seite und sah auf die Lichtung hinaus. Ein Reh äste dort friedlich. Noch merkte es nichts von der drohenden Gefahr. Ibis nahm den Bogen von der Schulter, legte den gefiederten Pfeil an und spannte die Sehne. Der Ast war im Weg. Ungeduldig winkte sie Cay heran.

Mit zwei großen Schritten stand er neben ihr. Knacks!

Ein dürrer Ast brach unter seinem Stiefel. Das Reh hob den Kopf und lauschte; seine Ohren spielten nervös. Unruhig sah es sich nach allen Richtungen um, um die Quelle des Geräuschs zu orten. Die Nüstern blähten sich ängstlich. Einen Augenblick starrte es bewegungslos zu ihnen herüber, dann sprang es flink in den Wald und verschwand.

Ibis schlug sich an die Stirn. »Cay! Musst du dich immer wie eine achtköpfige Hydra bewegen?«

Der junge Mann hob verlegen die Schultern. »Tut mir Leid.«

Doch das Jagdglück war ihnen an diesem Tag noch hold. Eine Stunde später schleiften sie einen jungen Hirsch zum Lagerplatz. Thunin half, das Tier abzuhäuten und zu zerlegen. Ibis zog einen Beutel Salz aus ihrem Rucksack und begann die Fleischstücke, die sie heute nicht essen würden, damit einzureiben.

Die Elbe übte in einiger Entfernung mit ihrem Bogen. Interessiert trat Cay näher und sah ihr zu.

»Willst du auch mal?«, fragte sie und nahm einen neuen Pfeil aus dem Köcher.

»Ich weiß nicht.« Cay schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht.«

»Dann wird es aber Zeit!« Ibis schob das Kinn nach vorn und setzte eine gewichtige Miene auf. Sie reichte Cay Pfeil und Bogen und überschüttete ihn mit einer Flut von Erklärungen, von denen er sich nicht einmal die Hälfte so schnell merken konnte. Die Elbe war eine ungeduldige Lehrerin, und Cay hatte Mühe, sich mit ihren widersprüchlichen Anweisungen zurechtzufinden.

Cay genoss die Gesellschaft von Ibis und Thunin. Sie waren rau, und manches Mal schalten sie ihn oder lachten über ihn, wenn er sich ungeschickt anstellte, doch sie redeten in derselben Sprache. Bei Vlaros kam sich der junge Schwertkämpfer immer so ungebildet und dumm vor. Der Magier sprach über so viele Dinge, von denen Cay keine Ahnung hatte, und betonte immer, wie wichtig eine solide Ausbildung war. Oft saß er stundenlang da und füllte Seite um Seite des dicken Buches, das er überall mit hinschleppte, mit seiner sauberen Handschrift. Cay dagegen bereitete das Lesen und Schreiben beträchtliche Mühe. Auch Rolana war gebildet, doch sie war niemals hochnäsig. Dennoch konnte er in ihrer Gegenwart nicht unbefangen sein. Wenn sie ihn ansah, wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen, und wenn ihm ein Missgeschick passierte, dann meist, wenn Rolana neben ihm stand. Cay war froh, dass Ibis die Geschichte mit dem Reh beim Abendessen nicht zum Besten gegeben hatte.

Das Bogenschießen war nicht so zufrieden stellend ausgefallen, und sie hatten abgebrochen, als es zu dunkel wurde. Jetzt saß Cay am Lagerfeuer und hielt Wache. Er schob noch einige Zweige in die Flammen und ließ den Blick über die schlafenden Gefährten wandern. Es war schon nach Mitternacht, und die Sichel des Mondes stand am klaren Himmel. Aufmerksam lauschte Cay in die Nacht, die so trügerisch friedlich schien, doch er wusste wohl, wie schnell sich das in der Wildnis draußen ändern konnte. Mit Schaudern dachte er an die beiden Oger zurück, die auf ihrer Reise nach Fenon eines Nachts das Lager überfallen hatten. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn der wachsame Zwerg sie nicht rechtzeitig bemerkt hätte.

Cay sah zu Ibis hinüber, die sich wie ein kleiner Hund unter ihrer Decke zusammengerollt hatte. Thunin lag mit offenem Mund auf dem Rücken und schnarchte, dass seine Barthaare zitterten. Dann huschte sein Blick zu Rolana und verweilte dort. Das Mondlicht umschmeichelte ihr Gesicht, das glücklich im Schlaf lächelte.

Wie schön ist es, wieder Freunde gefunden zu haben, dachte Cay.

Rolana rekelte sich und streckte ihre steifen Glieder. Es war der vierte Morgen auf ihrer Reise nach Norden. Sie waren gut vorangekommen. Cewells Karte hatte sich als sehr nützlich erwiesen, und das schöne Wetter hatte das seine dazu getan.

Die Sonne erhob sich gerade über die Baumwipfel. Es wurde Zeit, die Freunde zu wecken. Rolana hatte gem die letzte Wache übernommen, denn sie liebte die Stunden des herannahenden Tages, wenn der Mond und die Sterne nach und nach verblassten und der samtschwarze Himmel gläsern wurde, um sich dann von der nahenden Sonne in purpurne Gewänder hüllen zu lassen.

Vor ihrer Abreise hatte die junge Priesterin ihre weiße Kutte gegen wildlederne Hosen, ein weites Hemd und einen warmen Umhang getauscht. Erstaunt stellte sie immer wieder fest, wie wohl sie sich in ihrer neuen Haut fühlte. Mit der Stiefelspitze schob sie ein wenig Reisig in die Glut, dann weckte sie die anderen.

Sie verließen die Waldlichtung und ritten nun an den immer schroffer werdenden Ausläufern der Silberberge entlang, die steil und abweisend in den Morgenhimmel ragten. Rolana hielt an, um einen Blick auf die Karte zu werfen.

»Ich denke, wir werden Theron noch vor Sonnenuntergang erreichen.«

Vlaros zügelte sein Pferd. »Das hoffe ich«, stöhnte er, »dann können wir endlich wieder eine Nacht in einem richtigen Bett zubringen.« Sorgfältig klopfte er sich ein paar dürre Blätter von seinem Gewand. Er seufzte, als er einen Grasfleck knapp über dem Saum entdeckte. Ibis, die gerade von ihrem Erkundungsritt zurückkehrte, grinste spöttisch.

»Es ist doch zu dumm, dass wir nicht daran gedacht haben, eine Waschfrau für unseren Herrn Magier mitzunehmen.«

Sie rasteten für ein kurzes Mahl und ritten dann durch einen düsteren Tannenwald. Der Boden stieg leicht an und wurde immer steiniger. Sie passierten eine aufragende Felsnadel, die Bäume wichen zurück, und plötzlich lag die Burg zu ihren Füßen.

Die wehrhafte Burg Theron war auf einer Halbinsel errichtet worden, die am Fuß einer steilen Felsklippe in einen See hineinragte. Die Erbauer hatten die Mühe nicht gescheut, die Halbinsel durch einen breiten Graben vom Festland zu trennen, so dass die stolzen Mauern nun von allen Seiten von Wasser umgeben waren und man Theron nur per Boot oder über die Zugbrücke erreichen konnte. Abweisend und feindselig starrten die leeren Fenster zu ihnen herüber. Ein massiver Bergfried ragte hoch in den Himmel.

Die Zugbrücke war heruntergelassen, doch nichts regte sich. Keine Menschenseele war zu sehen, und nicht einmal die Vögel stimmten ein Begrüßungslied an. Fröstelnd zog sich Rolana den Umhang enger um die Schultern.

»Das gefällt mir nicht«, brummte Thunin, »das gefällt mir gar nicht.«

In einiger Entfernung, im Schutz der Bäume, banden sie ihre Pferde an, ließen ihnen jedoch so lange Leinen, dass sie grasen konnten. Thunin nahm seine Axt vom Gürtel, und auch Cay und Ibis zogen ihre Waffen. Vorsichtig näherten sich die Gefährten der Zugbrücke. Das Holz knarrte unter ihren Schritten, doch noch immer regte sich nichts. Nicht einmal ein Lufthauch war zu spüren. Zwei steinerne Wächter starrten die Ankömmlinge aus blinden Augen an. Vlaros blieb zurück und untersuchte die Figuren. Behutsam legte er die Handflächen auf den kühlen glatten Stein und schloss die Augen. Er öffnete seine Sinne für die Schwingungen um ihn herum. Mit einem Schaudern spürte er die Magie, mächtige schwarze Magie.

Auch im Hof war es totenstill. Ein düsterer Schatten, der nichts Lebendes zu tolerieren schien, lag über der Burg. Hier drinnen entdeckten sie noch mehr der merkwürdigen Statuen aus dem gleichen, fast weißen, glatten Stein wie die beiden Wächter am Tor: In einem Blumenbeet stand ein alter Mann mit einer Hacke, drüben auf der großen Treppe, die zum Bergfried führte, saß eine Frau mit einem kleinen Jungen in den Armen. Cay blieb bewundernd vor der Figur eines jungen Mädchens stehen. Sie sah so lebendig aus. Ihr langes Haar war zu lockeren Zöpfen geflochten, und sanft wölbten sich die Brüste über dem eng anliegenden Mieder, unter dem sich ein weiter Rock bauschte. Vorsichtig strich Cay mit der Hand über die glatte Wange.

»Nicht berühren!«, zischte Vlaros scharf. »Das sind Menschen, die durch einen mächtigen Zauber in Stein verwandelt wurden.«

Die Elbe trat heran und betrachtete die Versteinerten.

»Wir wissen doch, wie überspannt junge Frauen manches Mal sind«, flötete sie und versuchte die Miene des Kaufmanns zu imitieren. »Das stellt der sich also unter einem harmlosen Auftrag vor!«

Rolana stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte langsam den Kopf. »Dann hat mich meine Ahnung also nicht getäuscht.«

Die Freunde sahen sich an. Auf Thunins Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck.

»Seid wachsam«, sagte er ernst und stieg dann die Treppe zum Palast hinauf, doch so sehr er sich auch abmühte, das Tor ließ sich nicht öffnen. Schließlich gab er auf. Mit den anderen Türen ging es ihm nicht besser. Rolana trat an ein niederes Fenster heran und versuchte den hölzernen Laden zu öffnen. Es ging nicht. Sie konnte nicht einmal das Holz mit ihren Fingerspitzen berühren, denn etwas Unsichtbares hielt sie fest. Beunruhigt runzelte sie die Stirn und winkte dann Vlaros heran. Wieder schloss der Magier die Augen und versuchte das magische Feld zu erspüren.

»Ein mächtiger Bannkreis ist um die Burg gezogen worden«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Das übersteigt bei weitem meine Kräfte. Vielleicht sollten wir nach Fenon zurückreiten und der Gräfin empfehlen, sich an die Magiergilde zu wenden.«

Thunin und Cay, die zu ihnen getreten waren, schüttelten die Köpfe, und auch Rolana wollte von dem Vorschlag nichts wissen. Vlaros öffnete gerade den Mund, um den Freunden die Aussichtslosigkeit ihrer Lage begreiflich zu machen, als Ibis, die am Brunnen Wasser schöpfte, einen Schrei ausstieß. Die Gefährten eilten zu ihr, jedoch bevor sie die Elbe erreichten, hatte sich Ibis über den Brunnenrand geschwungen und war in der Tiefe verschwunden. Rolana biss sich nervös auf die Finger, doch Thunin legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

»Keine Angst, sie ist vielleicht ein Nichtsnutz, aber klettern kann sie wie keine andere.«

Die Freunde mussten nicht lange warten, da tauchte die Elbe wieder auf und schwang sich über den steinernen Rand. Ihre Augen glänzten vor Abenteuerlust.

»In der Brunnenwand ist eine geheime Tür, und sie ist nicht verschlossen. Los, kommt!« Sie war im Begriff, wieder in der Tiefe zu verschwinden, doch Rolana packte sie am Arm.

»Warte, wir sind nicht so geschickt wie du. Das ist viel zu gefährlich.« Sie sah zu Thunin hinüber, der bereits seinen Rucksack abgestreift hatte und ein stabiles Seil hervorzog.

Vlaros taumelte ein paar Schritte zurück. »Ihr wollt doch nicht etwa in diesen finsteren, schmutzigen Brunnen hinabsteigen?«, keuchte er entsetzt.

»Warum denn nicht?«, antwortete Cay und schwang sich auf die Brüstung. Auch ihn hatte die Erregung gepackt. »Wenn das der einzige Weg ist, der in die Burg führt?«

Vlaros holte tief Luft, um seine Empörung kundzutun. Rolana unterbrach ihn.

»Wir können die Gräfin nicht im Stich lassen«, sagte sie nur und sah Vlaros ernst an. Sie setzte sich auf den Brunnenrand und griff nach dem Seil, das Thunin an einem nahen Baum befestigt hatte. Ihr Herz klopfte, und ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Sie vermied es, in den schwarzen Schlund zu blicken, der sich bodenlos unter ihr auftat. Wann war sie jemals an einem Seil heruntergeklettert? Sie konnte sich nicht erinnern. Die rosige Farbe wich aus ihren Wangen. Energisch umklammerte sie das raue Seil und holte tief Luft, doch der Zwerg nahm ihr das Tau wieder aus der Hand.

»Ich klettere zuerst hinunter, dann kommst du, dann Cay und Vlaros. Ibis wird das Seil losknoten und mit hinunterbringen.« Er tätschelte Rolanas kalte Hand. »Nur Mut. Du kannst dich an den Knoten festhalten, und ich ziehe dich dann zu der Öffnung hinüber.«

Rolana nickte zweifelnd, aber der Zwerg war schon in der Dunkelheit verschwunden. Vlaros legte murrend seinen bestickten Umhang ab und verstaute ihn in seinem Rucksack. Die junge Frau wandte ihren Blick wieder in die Tiefe. Thunin hatte die Tür erreicht und winkte ihr, ihm zu folgen. Rolana biss die Zähne zusammen und ließ sich vom Brunnenrand gleiten. Stück für Stück rutschte sie an dem Seil herab, und schon zog sie der Zwerg in die geheime Kammer hinter der Brunnenwand. Er lächelte ihr aufmunternd zu, ehe er Cay zu sich herunterrief. Der stand so schnell neben den beiden in der Kammer, dass Rolana verwundert blinzelte. Auch Vlaros schaffte den Abstieg, wenn auch auf seinem Gesicht noch immer ein mürrischer Ausdruck lag. Wie besprochen löste Ibis das Seil und brachte es dann mit hinunter in das steinerne Gelass. Thunin, der wie die Elben die natürliche Gabe hatte, auch bei Dunkelheit noch gut zu sehen, blickte sich neugierig um.

»Das riecht geradezu nach einer Falle«, brummte er missmutig und löste vorsichtshalber seine Axt vom Gürtel.

Er lugte durch die bogenartige Öffnung in der Wand, die auf einen steinernen Gang hinausführte, doch Ibis drängte ihn zur Seite.

»Ich gehe mal nachsehen, ob die Luft rein ist.« Und schon war sie verschwunden. Ungeduldig warteten die Freunde auf ihre Rückkehr. Endlich tauchte sie wieder auf und winkte den anderen, ihr zu folgen. Rolana entzündete den Docht der Laterne, die Thunin ihr gegeben hatte. Sie war nur auf der einen Seite offen, so dass man selbst nicht geblendet wurde und dem Gegner kein leichtes Ziel bot. Eine Klappe auf der Vorderseite ermöglichte es, bei Gefahr das Licht blitzschnell abzudecken.

Dicht gedrängt folgten die Gefährten einem Gang, an der Spitze Thunin und Cay, die Waffen kampfbereit in den Händen. Eine Treppe führte nach oben und mündete dann in einen langen Korridor. Immer wieder tauchten rechts und links Türen in den gemauerten Wänden auf. Ibis legte erst lauschend ihr spitzes Ohr an das Holz, dann erst drückte sie die Klinke herunter. Sie sahen in eine riesige Küche, die Kessel und Töpfe hingen fein säuberlich an einer Stange an der Wand. Dann öffneten sie die Tür zum Speiseraum des Gesindes mit einem rohen Tisch und zwei Dutzend Hockern. In einer Kammer lagerten Säcke und Kisten, doch nirgends war auch nur eine Menschenseele zu entdecken.

Wieder stiegen sie eine Treppe hinauf. Der Boden war nun mit grünem Marmor belegt. Flauschige Teppiche hingen an den Wänden. Von irgendwoher schimmerte Tageslicht. Rolana löschte die Lampe und folgte den anderen in den nächsten Raum. Sie hörte, wie Vlaros scharf die Luft einsog und dann mit einem Seufzer wieder entweichen ließ. Bücher und Schriftrollen. Vom Boden bis hinauf zu der getäfelten Decke erstreckten sich die Regale, die sich unter den dicken, ledergebundenen Bänden bogen. Vlaros’ Augen leuchteten. Sanft strich er an den Buchrücken entlang und blätterte dann vorsichtig in einem Band, der sehr alt schien. Auch Rolana reckte den Kopf, um die meist schon verblassten Goldlettern auf den Buchrücken zu entziffern. Thunin und Cay blieben an der Tür stehen. Ungeduldig spielte der junge Kämpfer mit seinem Schwert. Sein Blick wanderte teilnahmslos über die Regalwände. Plötzlich huschte Ibis herein.

»Ich habe einen Lichtschein gesehen. Wir bekommen Besuch!« Der Zwerg klopfte auf seine Axt. »Lass sie nur kommen«, knurrte er. »Ich bin bereit.«

Rolana eilte an seine Seite und hob beschwichtigend die Hände. »Nur nichts überstürzen. Wir wissen doch gar nicht, wer es ist und ob er uns freundlich oder feindlich gesinnt ist.«

Mit klopfendem Herzen warteten die Freunde und lauschten den sich nähernden Schritten, die vor der Bibliothek verstummten. Die Tür schwang auf, und herein trat eine junge Frau, in der einen Hand eine gelöschte Kerze, in der anderen ein kleines Buch mit schwarzem Einband. Anscheinend überrascht, sah sie die Gefährten nacheinander an. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht, das von glattem, bläulich schwarzem Haar eingerahmt wurde. Das seidig fließende Gewand ließ eine zierliche Figur erahnen.

»Ich wusste nicht, dass Besucher angekommen sind«, sagte sie mit heller, seltsam voll tönender Stimme, die nicht nur vom Hall der steinernen Wände verursacht wurde. »Das freut mich sehr. Darf ich euch eine Erfrischung anbieten? Ihr seid sicher lange gereist? Woher kommt ihr?«

Der übernatürliche Charme verzauberte die Freunde. Sie hingen der schwarzhaarigen Schönheit an den Lippen und beantworteten freimütig ihre Fragen. Selbst der sonst so misstrauische Thunin lächelte sie vertrauensvoll an. Rolana wich einige Schritte zurück. Das war seltsam. Sie hatten keine Ahnung, wer die Frau überhaupt war und was sie hier in der Burg trieb.

Unauffällig knuffte sie Cay in die Rippen, der gerade von ihrem Auftrag zu sprechen begann. Verwirrt hielt er inne. Ohne ihr betörendes Lächeln zu mildern, hob die Frau ihre dünnen Augenbrauen und sah Rolana durchdringend an. Da durchfuhr es die junge Priesterin wie ein Blitz: Magie! Die Schwarzhaarige war eine Magierin und hatte die Freunde mit einem Zauberspruch betört. Rolana blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, warum der Zauber bei ihr nicht gewirkt hatte. Sie sah, wie die Frau die Lippen bewegte; ihr Zeigefinger malte eine Rune in die Luft. Rolana merkte noch, wie das Gefühl aus ihren Beinen wich. Sie wollte etwas sagen, sich wehren oder weglaufen, doch eine bleierne Müdigkeit lähmte sie, ihre Lider sanken herab. Dann verlor sie das Bewusstsein.

In einer Grotte tief unter dem Meeresspiegel, in der man nur das Wiegen von Algen und ein paar Fische erwarten würde, herrschte lebhaftes Treiben. Zwielichtige Gestalten mit merkwürdig klobigen Metallschuhen an den Füßen schleppten Kisten aus einem dunklen Gang herein und stapelten sie an den Wänden der Grotte sorgfältig auf. Das natürliche Gewölbe flackerte in einem bläulichen Licht, das von einigen glimmenden Stäben ausging, die in eisernen Haltern an den Wänden befestigt waren.

Umgeben von einer großen Luftblase betrat ein Mann in weiten Gewändern und einem runenbestickten Umhang die Meereshöhle. Das blaue Licht gab seinem Gesicht eine kränkliche Erscheinung. Auch sein Haar wirkte seltsam farblos. Die wässrigen Augen lagen tief in ihren Höhlen und wurden von düsteren Schatten umlagert. Seine blutleeren Lippen waren fest zusammengepresst. Das fliehende Kinn wurde kaum von seinem dünnen Bart verdeckt.

Der Mann beobachtete den Fortschritt der Arbeit eine Weile, dann schlurfte er über den sandigen Boden auf das große Portal der Grotte zu. Tief in Gedanken versunken, trat er hier und da eine Muschel oder einen vorwitzigen Krebs zur Seite. Im freien Wasser, das glatt unter dem bewölkten Nachthimmel ruhte, wies ihm eine Spur leuchtender Steine seinen Weg. Er gönnte weder dem imposanten Wrack an seiner Seite einen Blick, noch interessierten ihn die bizarren Felsen, die hier einst als glutflüssige Lava ins Meer geflossen waren. Bald darauf veränderte sich die Form der Schatten um ihn herum. Aus Felsen wurden stattliche Gebäude, schlanke Türme tauchten aus der Dunkelheit auf und verschwanden wieder, aus Fenstern und Nischen drang warmes Licht und erhellte die dünn mit Sand bedeckte gepflasterte Straße.

Der Magier strebte auf ein großes achteckiges Gebäude zu, das von einer schimmernden Kuppel gekrönt wurde. Die Wände schillerten in wechselnden Farben, und ab und zu lösten sich kleine Luftblasen und stiegen in die Meeresnacht empor. Besorgt betrachtete er einen Riss, durch den unentwegt Luftperlen entwichen.

Ich muss das in Ordnung bringen, bevor der Narbige es sieht, dachte er.

Der Magier trat auf das goldene Portal zu, streifte die Blase um sich herum ab und trat ein. Im Innern des prachtvollen Kuppelbaus herrschten Wärme, Luft und Licht. Fast gierig atmete er ein und ließ die Luft dann mit einem Seufzer wieder entweichen. Er schüttelte sich, so als wolle er den Rest der kühlen Feuchtigkeit des nächtlichen Meeres von sich abstreifen. Langsam durchquerte er eine Säulenhalle und folgte dann dem hell erleuchteten Korridor bis zu einer schweren Eichentür. Er hob die Hand, um anzuklopfen, zögerte dann aber. Obwohl er das Holz mit den Fingerknöcheln noch nicht berührt hatte, forderte eine Stimme von innen ihn auf einzutreten. Wie schon so oft fragte sich der Mann, ob der Narbige etwa über magische Kräfte verfügte. Leise öffnete er die Tür. Der Mann am Schreibtisch sah nicht einmal auf.

»Nun, Refos, was führt Euch mitten in der Nacht zu mir?« Wie seltsam fehl er in diesem prächtigen Gemach wirkt, dachte der Magier wieder einmal mit einem Hauch von Neid, als er den ungepflegten Mann in seinen achtlos zusammengesuchten Gewändern sah. Das lange, ungewaschene Haar hing ihm bis auf den Rücken, sein Gesieht war von Narben entstellt. Nun hob er doch den Blick von der Karte, die er durch einen Kristall studierte, und sah Refos aus seinen saphirblauen Augen fragend an. Die unbewegliche Miene konnte den Magier nicht mehr täuschen.

»Verzeiht, verzeiht«, stotterte Refos schnell und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, die plötzlich aus allen Poren traten. »Das Schiff ist zum Auslaufen bereit. Die Kisten sind in der Grotte verstaut, und es ist noch genug Platz, um die Ladung der Karawane unterzubringen. Außerdem habe ich die Leuchtstäbe fertig gestellt, die Ihr geordert habt.« Atemlos hielt er inne.

»Gut«, sagte der Narbige nur und beugte sich wieder über die Karte.

»Ah«, wagte der Magier ihn noch einmal zu unterbrechen. »Wann rechnet Ihr mit der Larissa? Das Atempulver wird bald knapp.«

»Ja«, antwortete der Narbige sanft, »und Ihr seid noch immer nicht in der Lage, selbst welches herzustellen, obwohl ich Euch schon des Öfteren dazu aufgefordert habe. So bleiben wir von Astorins Launen abhängig.«

Refos ballte hinter seinem Rücken die Fäuste. Was verstand dieser ungehobelte Pirat schon von der hohen Kunst der magischen Tränke? Wut kochte in ihm hoch, doch seine Stimme blieb leise und höflich.

»Ich arbeite daran. Es ist eine schwierige Aufgabe.«

Der Narbige kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern ließ den Kristall langsam über die Karte wandern. Unschlüssig blieb der Magier noch einige Augenblicke stehen, dann griff er nach der Türklinke.

»Und vergesst nicht, den Riss in der Lufthülle zu schließen«, traf ihn die scharfe Stimme des Piraten in den Rücken. »Ich dulde keine Nachlässigkeit.«

Refos schloss leise die Tür und stürmte dann durch den Gang davon. Erst als er sicher sein konnte, dass selbst die scharfen Ohren des Piraten ihn nicht mehr hören konnten, machte er seinem Unmut Luft. Er hob drohend die Fäuste, schimpfte und fluchte und verwünschte den Narbigen. Dann fühlte er sich besser. Er strich sein Gewand glatt, setzte eine hoheitsvolle Miene auf und machte sich daran, den Riss zu schließen, um den Piratenkapitän nicht weiter zu reizen.

Die Drachenkrone

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