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Wer ist der Feind?

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Ende Juli herrschte in unserer Garnison Koblenz eine fieberhaft erregte Stimmung. Ein Teil unserer Leute war von einer nicht wiederzugebenden Begeisterung, der andere von einer unbeschreiblichen Niedergeschlagenheit beseelt. Die Kriegserklärung lag in der Luft. Ich gehörte zu den Niedergeschlagenen. War ich doch im zweiten Jahre Soldat und sollte in sechs Wochen entlassen werden. Statt der langersehnten Heimfahrt stand nun der Krieg vor der Tür . . .

Ich war auch während meiner Militärzeit der Antimilitarist geblieben, der ich vordem gewesen. Ich konnte mir nicht denken, welches Interesse ich an einem Massenmord haben könnte und vertrat auch meinen Kameraden gegenüber die Ansicht, dass ein Krieg unter allen Umständen für die Menschheit das größte Unglück sei, das sie treffen könne.

Unser Pionier-Bataillon Nr. 30 war schon fünf Tage vor der Mobilmachung fieberhaft beschäftigt; Tag und Nacht wurde gearbeitet, so dass wir schon am 31. Juli vollkommen kriegsbereit waren, und am 30. Juli gab es schon niemanden mehr in unserer Kaserne, der am Ausbruch des Krieges gezweifelt hätte. Dazu kam die auffallende Freundlichkeit der Offiziere und Unteroffiziere, die jeden etwa noch vorhandenen Zweifel ausschloss. Offiziere, die früher niemals die Ehrenbezeugung eines Gemeinen durch Gegengruß erwiderten, taten es jetzt mit einer peinlichen Aufmerksamkeit. Zigarren und Bier wurden von den Offizieren in diesen Tagen mit großer, ungewöhnlicher Freigebigkeit gespendet, sodass es gar nicht wunder nehmen konnte, dass viele Soldaten aus einem fast ständigen Bierrausch nicht mehr herauskamen und sich des Ernstes der Situation kaum bewusst waren. Aber es gab auch andere; es gab Soldaten, die es auch in dieser Zeit der guten Laune und grinsenden Kameradschaftlichkeit von Offizier und Soldat nicht vergessen konnten, dass sie beim Militär oft bis zum Tier erniedrigt worden waren und die jetzt mit bitteren Gefühlen daran dachten, dass sich ihnen vielleicht Gelegenheit bieten möchte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten . . .

Am 1. August wurde die Mobilmachung bekannt und der nächste Tag als eigentlicher Mobilmachungstag festgesetzt. Ohne jedoch erst die Reserven abzuwarten, verließen wir am 1. August unsere Garnison. Wer eigentlich Unser „Feind“ sein würde, wussten wir nicht; Russland war vorläufig das einzige Land, an das eine Kriegserklärung ergangen war.

Durch eine nach Tausenden zählende spalierbildende Menschenmenge marschierten wir durch die Straßen der Stadt zum Bahnhof. Aus allen Fenstern wurden wir mit Blumen beworfen; jeder wollte den Soldaten die Hand zum Abschied drücken. Alles, selbst Soldaten, weinte; viele hatten ihre Frau oder die Braut im Arme, die Musik spielte Abschiedslieder, man weinte. und sang zu gleicher Zeit. Wildfremde Menschen, Männer und Frauen, Männer und Männer, umarmten und küssten sich — ein wahrer Hexensabbat von Gefühlen war losgebrochen und ergoss sich wie ein einziger wilder Gefühlsstrom über die Menschheit. Keiner, auch der mit dem stärksten, trutzigsten Gemüt, konnte dieser Gemütsaufwallung widerstehen.

Doch all dies wurde noch übertroffen durch das Abschiednehmen am Bahnhof, den wir bald erreichten. Hier musste endgültig Adieu gesagt, hier musste die Trennung vorgenommen werden. Nie wird mir dieses Abschiednehmen aus meinem Gedächtnis verschwinden, ganz gleich wie alt ich werden mag. Wie verzweifelt klammerten sich viele Frauen an die Brust ihrer Männer; einige mussten gewaltsam entfernt werden. Gleichsam als wäre es plötzlich vor ihnen wie eine Vision aufgestiegen, was das Schicksal ihrer Geliebten sein werde, als sähen sie die stummen Gräber in fremder Erde vor sich, in denen diese armen ,,Namenlosen“ verscharrt werden würden, suchten sie sich an ihren Besitz anzuklammern, wollten sie festhalten, was ihnen ja schon nicht mehr gehörte . . .

Endlich war auch das vorüber, wir hatten den bereitstehenden Zug bestiegen und uns in unserem Viehwagen häuslich eingerichtet. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und Licht hatten wir nicht in unserem komfortablen 6. Klasse-Waggon.

Der Zug fuhr langsam rheinabwärts, ohne jede große Erschütterung nahm er seinen Weg; unter uns aber, die wir Tage größter Aufregung hinter uns hatten, trat teilweise Erschlaffung ein. Die meisten der Soldaten lagen mit dem Kopfe auf dem Tornister und schliefen. Andere wieder suchten sinnenden Auges die Ferne, als ob sie m die Zukunft zu schauen versuchten; noch andere zogen verstohlen ein Porträt aus der Brusttasche, und nur ein verschwindend kleiner Teil brachte seine Zeit mit Fragen nach dem Reiseziel zu. Wo fahren wir hin? Ja, wohin? Niemand wusste es. Da, nach langen, unendlich langen Stunden hielt der Zug; nach einer Nacht ruhig-langsamer Fahrt waren wir in . . . Aachen! In Aachen? „Was sollten wir in Aachen? Wir wussten es nicht, und die Offiziere hatten auf unsere Fragen nur ein Achselzucken.

Nach kurzer Pause ging es weiter, und abends am 2. August erreichten wir einen Bauernhof in der Nähe des deutsch-belgischen Grenzortes Herbesthal. Hier wurde unsere Kompagnie in einer Scheune einquartiert. Kein Mensch wusste, was wir hier an der belgischen Grenze zu tun hatten. Am Nachmittag des 3. August trafen Reservisten ein und unsre Kompagnie wurde auf Kriegsstärke gebracht. Noch immer nicht im Klaren über den Zweck unseres Aufenthaltes in der Nähe der belgischen Grenze, legten wir uns am Abend mit erzwungener Seelenruhe auf unser Strohlager; bald musste sich ja etwas ereignen, das uns aus dieser dumpfen Ungewissheit befreien würde. Wie wenige ahnten wohl, dass es für viele von uns die letzte Nacht sein sollte, die sie auf deutscher Erde verbrachten?

Stiller Alarm holte uns um 3 Uhr morgens aus den „Betten“. Die Kompagnie versammelte sich und der Hauptmann erklärte uns die Kriegslage. Er teilte uns mit, dass wir uns marschbereit halten müssten, über die Marschrichtung sei er selbst noch nicht unterrichtet. Kaum eine halbe Stunde später fuhren fünfzig große Lastautos vor und machten auf der Landstraße vor unserem Quartier halt. Die Führer dieser Wagen wussten aber auch noch nichts Näheres und warteten auf Befehle. Die Diskussion über unser nächstes Ziel setzte von neuem ein; die Offiziersburschen, die manches erlauscht hatten, äußerten die Ansicht, wir würden noch am selben Tage in Belgien einziehen, andere widersprachen, Bestimmtes konnte niemand von uns wissen. Aber der Befehl zum Abmarsch kam nicht, und am Abend durften wir wieder unser Strohlager beziehen. Die Ruhe währte jedoch nicht lange; um 1 Uhr morgens wurden wir wieder alarmiert und vom Hauptmann mit einer Ansprache beehrt. Wir wären, sagte er uns, mit Belgien im Kriege, sollten uns jetzt tapfer zeigen, eiserne Kreuze verdienen und dem deutschen Namen Ehre einlegen. Dann fuhr er etwa folgendermaßen fort: „Wir führen nur gegen die bewaffnete Macht Krieg, also gegen die belgische Armee. Leben und Eigentum der Zivilisten steht unter dem Schutze internationaler Verträge, des Völkerrechts, doch dürft ihr, Soldaten, nicht vergessen, dass es eure Pflicht ist, euer Leben zum Schutze des Vaterlandes so lange wie möglich zu erhalten oder so teuer wie möglich zu verkaufen. Unnützes Blutvergießen wollen wir den Zivilisten gegenüber verhindern, doch gebe ich euch zu bedenken, dass allzu große Rücksicht an Feigheit grenzt und Feigheit vor dem Feinde wird sehr schwer bestraft.“

Nach dieser ,,menschenfreundlichen“ Rede unseres Hauptmanns wurden wir auf die Autos ,,verladen“, und um vier Uhr morgens am 5. August passierten wir die belgische Grenze. Um diesen „historischen“ Augenblick extra feierlich zu gestalten, mussten wir dreimal Hurra rufen . . .

Nie sind mir die Früchte militärischer Erziehung klarer vor Augen gekommen als in diesen Augenblicken. Man sagt dem Soldaten: ,,Der Belgier ist dein Feind!“ und er hat es zu glauben. Der Soldat, der Arbeiter in Uniform, hat ja noch gar nicht gewusst, wer sein Feind ist. Hätte man uns gesagt: „Der Holländer ist euer Feind!“, wir hätten es ebenso geglaubt, glauben müssen, und hätten auf Befehl auf ihn geschossen. Wir, die ,,deutschen Bürger in Uniform“, dürfen keine eigene Meinung, keine eigenen Gedanken haben, denn man gibt uns Feind und Freund, wie man das gerade gebraucht, wie man sie in seinem Interesse braucht! Der Franzose, der Belgier, der Italiener ist dein Feind. Schieße nur ruhig, wie wir dir befehlen, und mache dir im Übrigen keine Gedanken! Pflichten hast du, erfülle sie und — halte dein Maul . . .

Das etwa waren die Gedanken, die mein Gehirn beim Überschreiten der belgischen Grenze folterten. Und, wie, um mir vor mir selbst einen Trost zu geben, wie, um mein mörderisches Handwerk, das man mir aufgezwungen hat,

vor mir selbst zu rechtfertigen, redete ich mir ein, dass ich zwar kein Vaterland, aber doch ein Vaterhaus zu verteidigen und vor Verwüstung zu bewahren habe. Doch der Trost war schwach und hielt nicht einmal in den ersten Tagen stand.

Auf den ziemlich schnell fahrenden Automobilen erreichten wir gegen acht Uhr morgens das vorläufige Ziel: ein kleines, aber schönes Bauerndorf. Die Einwohner der Dörfer, die wir bisher durchfahren hatten, staunten uns sprachlos an, so dass wir alle den Eindruck hatten, dass diese Landbewohner zum größten Teile gar nicht wussten, warum wir nach Belgien gekommen. Sie waren aus dem Schlafe aufgeschreckt worden und sahen, halb angekleidet, von ihren Fenstern aus unsern Autos nach. Als wir dann hielten und abstiegen, kamen die Bauern jenes Dörfchens ohne Scheu zu uns, boten uns Essen an und brachten Kaffee, Brot Fleisch etc. Da wir noch ohne Feldküche waren, freuten wir uns der ,,feindlichen“ Liebesgaben, umso mehr, als die Wackeren jede Bezahlung entschieden ablehnten. Sie erzählten uns, die belgischen Soldaten seien abmarschiert, wohin wüssten sie nicht.

Nach kurzer Ruhepause marschierten wir weiter, die Autos fuhren zurück. Wir waren kaum eine Stunde marschiert, da wurden wir von Kavallerie, von Dragonern und Husaren überholt, die uns berichteten, die Deutschen seien in der ganzen Gegend auf allen Landstraßen im Vormarsch, und dicht hinter uns kämen Radfahrer-Kompagnien Das war tröstliche Kunde, wir fühlten uns nicht mehr allein, nicht im fremden Lande isoliert. Bald kam auch wirklich die Radfahrer-Abteilung, die uns schnell genug überholte und uns wieder allein ließ. Ärgerliche Worte wurden jetzt laut; sie alle konnten reiten oder fahren, wir aber mussten laufen. Was wir immer als selbstverständlich empfunden, legte sich plötzlich wie eine große Ungerechtigkeit über uns. Und wenn es auch nichts nützte, unser Schimpfen und Grollen, es lenkte unsere Gedanken von der Schwere des Affen (Tornister) ab, der wie ein Bleigewicht auf unserem Rücken hing.

Die Hitze war drückend, der Schweiß drang aus allen Poren; das neue und harte Lederzeug, die neuen, kantigen Uniformen scheuerten viele Körperstellen, besonders an den Hüften, wund. Wie eine Erlösung kam daher der Befehl um zwei Uhr nachmittags, vor einem alleinstehenden Gehöft Halt zu machen und im Grase zu rasten.

Wir mochten etwa zehn Minuten im Grase gelegen haben, als wir plötzlich vor uns Schüsse fallen hörten; wie elektrisiert sprang alles auf und eilte an die Gewehre. Da aber würde das Gewehrfeuer, das wohl zwei bis drei Kilometer von uns entfernt sein mochte, auch schon immer lebhaften. Sofort setzten wir uns in Marsch.

Am Gesichtsausdruck und am Benehmen der Soldaten konnte man erkennen, dass in ihrem Innern etwas vorging, dass ein Gefühl von ihnen Besitz ergriffen hatte, dessen sie nicht Herr zu werden vermochten, das sie vordem auch nicht gekannt hatten. An mir persönlich bemerkte ich eine große Unruhe. Angst- und Neugiergefühl peitschten meine Gedanken wild durcheinander; im Kopfe wirbelte alles und im Herzen wieder schien sich alles zusammenzupressen. Aber vor meinen Kameraden wollte ich meine Angstgefühle verbergen.

Dass ich es energisch versuchte, weiß ich; ob es mir besser als den Kameraden gelungen, denen ich die Beklemmung vom Gesicht ablas, bezweifelte ich.

Trotzdem ich wusste, dass wir in einer halben Stunde im Feuer sein würden, bemühte ich mich, mir einzureden, unser Eingreifen werde nicht mehr nötig sein. Jeden Gedanken, der mir diese Hoffnung stärken oder Trostgründe vortäuschen konnte, hielt ich eigensinnig, ja beinahe krampfhaft fest. Dass nicht jede Kugel trifft, dass — wie man uns erzählt hatte — die meisten Verwundungen in den Kriegen der Neuzeit durch Streifschüsse herbeigeführt werden, die ungefährliche Fleischwunden verursachen, das waren einige dieser wider besseres Wissen in Gedanken wiederholten Selbsttäuschungen. Und sie wirkten. Nicht nur, dass ich tatsächlich etwas ruhiger wurde, ich hatte, in Gedanken versunken, kaum bemerkt, dass wir uns bereits in nächster Nähe der Gefechtslinie befanden.

Die an der Straße liegenden Fahrräder verrieten uns, dass hier die Radfahrerabteilung im Gefecht war. Wie stark der Gegner war, das wussten wir freilich nicht, als wir uns sprungweise der Schützenlinie näherten. Unwillkürlich bückte sich jeder beim Springen, während rechts und links, vor und hinter uns unablässig die feindlichen Gewehrgeschosse einschlugen; und doch erreichten wir, von den bedrängten Kameraden freudigst begrüßt, ohne jeden Verlust die Schützenlinie. Auch die Radfahrer hatten noch keine Verluste erlitten; wohl waren schon einige leicht Verwundete zu verzeichnen, doch konnten diese sich noch weiter am Gefecht beteiligen.

Wir lagen platt auf dem Boden und feuerten in der angegebenen Richtung was die Flinte halten konnte; gesehen hatten wir nämlich unseren Gegner bisher noch nicht. Das war aber anscheinend einigen unserer Soldaten zu wenig interessant, sie wollten wissen, wie die Leute aussahen, auf

die sie schossen, erhoben sich halb und feuerten in kniender Stellung. Zwei Mann meiner Kompagnie mussten ihre Neugier mit dem Tode bezahlen — fast zu gleicher Zeit erhielten sie einen Kopfschuss. Das erste Opfer unserer Abteilung sank lautlos nach vorn über, das zweite schleuderte die Arme hoch in die Luft und fiel dann auf den Rücken. Sie waren beide sofort tot. . . .

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