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Vergiftete Brunnen oder Stimmungsmache?
ОглавлениеDa um 11 Uhr wurde allem weiteren Philosophieren ein Ende bereitet: der Befehl zum Haltmachen ertönte, wir sollten aus der Feldküche unser Essen empfangen. —
Wir hatten Hunger genug, so dass die Konservensuppe mit dem größten Appetit verzehrt wurde. Viele unserer Soldaten setzten sich mit ihrem Kochgeschirr auf die umherliegenden toten Pferde und aßen so frisch und lustig drauflos, als wären sie daheim bei Muttern. Auch die paar Menschenleichen in der Nähe unseres provisorischen Lagerplatzes störten nicht . . . Nur an Wasser fehlte es, und nach dem Essen fing der Durst an, sich arg quälend bemerkbar zu machen. Wir marschierten bald weiter in der glühend heißen Mittagssonne; der Straßenstaub lag zentimeterdick auf unserer Uniform und Körperhaut. — Keine rechte Stimmung wollte mehr aufkommen, der Durst ward immer quälender, wir selbst von Viertelstunde zu Viertelstunde immer schlaffer. Viele aus unsern Reihen fielen um und konnten einfach nicht weiter. Da blieb denn unserem Abteilungskommandeur nichts anderes übrig. als nochmals Halt machen zu lassen, wollte er nicht, dass wir alle „schlapp machten“. Dadurch blieben wir bedeutend zurück und zählten nicht mehr zu den ersten, die hinter den Franzosen her waren.
Endlich gegen vier Uhr sahen wir vor uns ein Dorf auftauchen. Die sichere Erwartung, dort Wasser zu erhalten, wirkte ermutigend auf uns — das Marschtempo wurde sofort um vieles lebhafter. Flüchtlinge und leere Munitionskolonnen kamen uns entgegen. Unter anderem auch ein Bauernwagen, auf dem mehrere Zivilgefangene, anscheinend Franktireurs, sich befanden. Auch ein katholischer Pfarrer befand sich darunter und hatte, wie die anderen, die Hände auf dem Rücken mit einem Strick zusammengebunden. Auf unsere neugierigen Fragen, was der denn ausgefressen habe, sagte man uns, er hätte Bauern veranlasst, das Wasser im Dorfe zu vergiften.
Bald erreichten wir das Dorf und den ersten Ziehbrunnen, um uns dort tüchtig satt zu trinken. Damit hatte es jedoch seine guten Wege, denn ein Militärposten war vor ihm aufgestellt, der uns sofort mit der Warnung fortscheuchte: Vergiftet! Enttäuscht und aufs furchtbarste verbittert, knirschten die halbverdursteten Soldaten mit den Zähnen; sie eilten weiter, an die nächsten Brunnen, aber überall wiederholte sich das teuflische Spiel, der Posten wehrte ihnen die Labung. Auf einem freien Platze mitten im Dorfe stand ein großer Dorfbrunnen, der aus zwei Röhren kristallklares Wasser in einen großen Trog entsandte. Fünf Soldaten standen hier Posten und hatten dafür zu sorgen, dass ja niemand von dem vergifteten Wasser trank. Ich wollte eben mit meinen Kumpanen am Brunnen vorbeimarschieren, als sich plötzlich der hintere und größere Teil unserer Kompagnie wie besessen auf den Brunnen stürzte. Die Posten wurden durch den Anprall einfach überrannt, und gierig wie ein Tier trank jeder von dem Wasser. Alle löschten ihren Durst, und keiner wurde krank oder wäre gar gestorben. Der Pfarrer musste, wie wir später hörten, daran glauben, da die Militärbehörden „wussten“, dass das Wasser in jenem Dorfe in allen Brunnen vergiftet worden war und dass nur ein glücklicher Zufall uns Soldaten gerettet hatte. Über uns hatte der Gott der Deutschen treue Wacht gehalten; die gefangenen Belgier freilich nicht unter seinem Schutze zu stehen. Sie mussten sterben. . . .
In den meisten Orten, die wir in dieser Periode passierten, wurden wir vor dem Genuss des Wassers gewarnt. Das hatte natürlich zur Folge, dass die Soldaten die Bevölkerung, in der sie nunmehr Todfeinde wittern mussten, zu hassen begannen. Daraus ergab sich dann wieder, dass die schlechten Instinkte in manchen Soldaten lebendig wurden und die Oberhand gewannen. In jeder Armee findet man barbarisch veranlagte Soldaten. Die vielen Millionen Einwohner Deutschlands oder Frankreichs sind eben nicht alle Kulturmenschen, wie wir uns gern einreden möchten. Die Wehrpflicht dieser Länder zwingt sie alle zum Militärdienst, alle, ohne Unterschied, Mensch oder Unmensch. Ich habe es oft bitter empfunden, wie unrecht man unserer Armee tat, wenn man uns alle Barbaren nannte, nur weil sich allerlei Elemente unter uns — wie natürlich auch unter den Franzosen und Engländern — befanden, die eigentlich ins Zuchthaus gehört hätten. Dass wir Soldaten selbst für die Bestrafung von Unholden sorgten, falls wir sie auf einer Schurkerei erwischten, dafür ein Beispiel. Als wir abends, es war bereits dunkel, östlich der Stadt Bertrix ein kleines Dorf erreichten, fanden wir auch hier „vergiftetes“ Wasser. Mitten im Dorf machten wir Halt. In das Haus. vor dem ich gerade zu stehen kam, konnte man durch das niedrige Fenster hineinschauen. In der erbärmlich ärmlichen Arbeiterwohnung sahen wir eine Frau, die ihre Kinder festhielt, als ob sie Angst hätte, man würde sie ihr entreißen. Obwohl wir infolge der Wassernot äußerst erbittert waren, hätte doch ein jeder von uns der armen Frau gern geholfen. Mehrere von uns waren auch eben im Begriff, unser bisschen Vorrat an Lebensmitteln zu opfern und der Frau einige beruhigende Worte zu sagen, als plötzlich ein faustdicker Stein durch das Fensterglas in die Stube geschleudert und ein kleines Mädchen an der rechten Hand verletzt wurde. Aufrichtige Entrüstungsrufe wurden laut, aber im selben Augenblick packten auch schon mindestens zwanzig Hände den Unhold, einen Reservisten unserer Kompagnie, und prügelten ihn so durch, dass er fast bewusstlos wurde. Wären nicht Offiziere und andere Mannschaften hinzugekommen, der Kerl wäre auf der Stelle gelyncht worden. Er sollte dann später vor ein Kriegsgericht gestellt werden, aber es kam nicht dazu; in der Schlacht an der Maas ertrank er in diesem Flusse. Viele Soldaten glauben, er hätte sich selbst ertränkt, weil er von den Kameraden nicht nur gemieden, sondern offen verachtet wurde. . . .
In diesem Dorfe wurden wir einquartiert und in einer Scheune untergebracht. Mit einigen Kameraden ging ich nun in das Dorf, um etwas Essbares zu kaufen. In einem Bauernhause erhielten wir Schinken, Brot und Wein, aber nicht gegen Geld. Die Leute lehnten jede Bezahlung entschieden ab, da, wie sie sagten, sie uns als Gäste betrachteten; nur sollten wir ihnen nichts zu leide tun. Trotzdem ließen wir ihnen eine entsprechende Bezahlung in deutschem Gelde zurück. So wie hier fanden wir es in der Folge sehr oft; überall hatte man riesige Furcht vor uns, die Leute zitterten formlich, wenn ein deutscher Soldat ihr Haus betrat.
Vier von uns hatten sich eng aneinander geschlossen; wir hatten uns versprochen, zusammenzuhalten und uns in jeder Not und Gefahr beizustehen. So besuchten wir auch oft die Wohnungen der Bürger und taten unser Bestes, die schwergeprüften Menschen zu beruhigen, ihnen die Scheu vor uns auszureden. Ausnahmslos fanden wir liebe, freundliche und gute Menschen, die schnell zutraulich und offen wurden, wenn sie merkten, dass wir wirklich ihre Freunde waren Schrieben wir aber beim Verlassen des Hauses mit Kreide an die Tür: „Bitte schonen, hier wohnen brave, gute Leute!“ dann kannte die Freude und Dankbarkeit keine Grenzen. Wenn so viel böses Blut erzeugt wurde, wenn sich so viel Zwischenfälle ereigneten, die zur standrechtlichen Erschießung so unzähliger Belgier führten, so waren — das ist die Überzeugung, die mir und vielen anderen meiner Kameraden im Laufe dieser Belgierzeit wurde — die Verschiedenheit der Sprachen und die daraus entstehenden Irrtümer nicht zuletzt daran schuld. Aber auch das zuerst systematisch genährte Misstrauen gegen den „Feind“ trägt einen Teil der Verantwortung dafür.
Nachts marschierten wir weiter, nachdem wir der nachträglich eingetroffenen 21-Zentimeter-Mörser-Batterie des Fußartillerie-Regiments Nr. 9 zugeteilt worden waren; denn dieser Batterie sollten wir nicht nur als Bedeckung dienen, sondern ihr auch bei dem eventuellen „Instellungbringen“ dieser Kolosse behilflich sein. Das Rohr dieser Geschütze wird extra, geteilt von der Lafette, auf einem Wagen transportiert. Der Lafettenwagen und der Rohrwagen werden von je sechs Pferden gezogen. Diese, nur bei der Fußartillerie gebrauchten, Pferde sind die besten und stärksten in der deutschen Armee. Und doch sind diese Tiere oft den an sie gestellten gewaltigen Anforderungen nicht gewachsen, so dass sich alle verfügbare Mannschaft, oft siebzig bis achtzig Mann, an eigens für diesen Zweck mitgeführten Tauen am Transport beteiligen muss. Das geschieht hauptsächlich dann, wenn die Geschütze die Straße verlassen und in Feuerstellung gebracht werden müssen. Damit die Räder nicht im Boden versinken, werden halbmeterbreite Überräder um die Räder angebracht.
Diese Riesenkanonen sind Steilfeuergeschütze, d. h. je nach der Entfernung des Zieles geht das abgefeuerte Geschoss mehrere tausend Meter hoch in die Luft, um dann verhältnismäßig steil herunterzufallen. Daher kommt es auch, dass weder Berg noch Hügel einer feindlichen Batterie, die sich dahinter aufgestellt, Schutz gewähren können. Die Franzosen besaßen in der ersten Zeit fast gar keine transportable schwere Artillerie, sodass es ihnen einfach unmöglich war, unsere schwerkalibrige erfolgreich zu bekämpfen. Die deutschen Kanoniere fühlten sich unter solchen Umständen natürlich obenauf und schmückten ihre 21-Zentimeter-Röhren mit Inschriften wie: „Hier werden noch Kriegserklärungen angenommen“.
Wir fühlten uns bei den Artilleristen ganz wohl und waren, als wir um sechs Uhr morgens Halt machten, noch leidlich frisch, trotzdem wir schon seit zwei Uhr auf dem Marsche waren. In der Nähe unseres Halteplatzes lag eine zertrümmerte deutsche Haubitze und daneben zwei tote Soldaten. Beim Abfeuern der Geschütze krepierte eine Granate im Rohr und zerstörte das ganze Geschütz. Durch die umherfliegenden Sprengstücke wurden zwei Mann der Bedienung sofort getötet und einige schwer verletzt. Wir benutzten die Pause, um die beiden Gefallenen zu begraben, legten sie beide in ein Grab, stellten beide Helme darauf und schrieben auf ein Brett: Hier ruhen zwei deutsche Artilleristen.
Doch wir mussten weiter und erreichten bald die Stadt Bertrix. Einige der wenigen Häuser links und rechts der Straße brannten lichterloh; sie waren, wie wir bald erfuhren, angesteckt worden, weil aus ihnen heraus auf vorbeimarschierende Soldaten geschossen worden sein sollte. Vor einem dieser Häuser lag halbverbrannt ein Ehepaar mit dem 15 bis 16 Jahre alten Sohne; alle waren mit Stroh bedeckt. Noch drei Zivilisten lagen tot in derselben Straße.
Wir waren einige Häuser weitermarschiert, als plötzlich Schüsse krachten; aus irgendeinem Hause war geschossen — und vier unserer Soldaten verwundet worden. Für einen kurzen Augenblick gab es Verwirrung. Das Haus, aus dem geschossen worden sein musste, war bald umstellt, und durch alle Fenster wurden Handgranaten in das Innere geworfen. Im Nu standen alle Zimmer in Flammen; die explodierenden Handgranaten erzeugten einen solch ungeheuren Luftdruck, dass alle Türen im Haus aus den Angeln flogen und die Innenwände in Stücke gerissen wurden. Fast zu gleicher Zeit stürzten fünf Männer in Bürgerkleidung auf die Straße und baten mit hochgehaltenen Händen um Pardon. Sie wurden sofort gepackt und zu den Offizieren geführt, die sich in wenigen Minuten zu einem Gerichtshof konstituierten. Zehn Minuten später war das Urteil schon vollzogen; fünf starke Männer lagen mit verbundenen Augen und von Kugeln durchlöchert tot am Boden.
Je sechs von uns Soldaten hatten an je einem der fünf das Urteil zu vollziehen, und leider gehörte auch ich zu diesen dreißig. Der Verurteilte, den wir sechs zu erschießen hatten, war ein großer, schlanker Mann von ungefähr vierzig Jahren. Er zuckte mit keiner Wimper, als ihm die Augen verbunden wurden. Im Garten eines Nachbarhauses wurde er mit dem Rücken an das Haus gestellt, und nachdem der Hauptmann uns gesagt hatte, dass es unsere Pflicht sei, gut zu zielen, um dem Trauerspiele ein schnelles Ende zu bereiten, nahmen wir sechs Schritte vor dem Verurteilten Aufstellung. Der uns kommandierende Feldwebel hatte uns vorher gesagt, dass wir den Verurteilten durch die Brust zu schießen hätten. Jetzt bildeten wir zwei Glieder, die hintereinander zu stehen kamen. Das Kommando „Laden und sichern!“ ertönte, wir schoben fünf Patronen in die Gewehre. Dann kam „Zum Schuss fertig!“ — das erste Glied kniete sich nieder, das zweite nahm Anschlagstellung ein. Jetzt hatten wir das Gewehr so, dass der Lauf nach vorn zeigt und der Kolben in Hüfthöhe stand. „Leeegt aaaan!“ und langsam legten wir an, zogen das Gewehr fest ein, pressten die Kolbenplatte an die Schulter und mit der Wange am Kolben umschraubten wir krampfhaft den Kolbenhals. Unser rechter Zeigefinger befand sich am Abzug, der Feldwebel hatte uns zirka eine halbe Minute Zeit zum Zielen gelassen, ehe das Kommando „Feuer!“ ertönte.
Ich weiß heute noch nicht, ob unser Opfer sofort tot war oder wieviel Kugeln von den sechs getroffen hatten. Den ganzen Tag lief ich wie im Dusel umher und machte mir die bittersten Vorwürfe, dass ich als Henker fungiert hatte. Lange Zeit habe ich es vermieden, mit Kameraden darüber zu sprechen, denn ich fühlte mich schuldig. Und doch — was konnten wir Soldaten anderes tun, als den „Befehl“ auszuführen? . . . .