Читать книгу Selbstbestimmung im Sterben - Fürsorge zum Leben - Urban Wiesing - Страница 11
1.1.3 Urteil des Bundesverfassungsgerichts und gesetzlicher Regelungsbedarf
ОглавлениеDas Bundesverfassungsgericht hat auf der Basis zahlreicher Anträge von Ärzten, Juristen und Vereinen den § 217 StGB überprüft und mit Urteil vom 26. Februar 2020 für verfassungswidrig und nichtig erklärt ( Kap. 3.1.2.4). Der Zweite Senat unter Führung des Präsidenten Andreas Voßkuhle hat klargestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf dem Boden der Menschenwürde ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben enthalte, welches auch das Recht einschließe, freiverantwortlich seinem Leben selbst ein Ende zu setzen und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Dieses Recht lief aber gemäß dem Gericht durch § 217 StGB faktisch leer. Zugleich hat das Gericht dem Gesetzgeber durchaus Spielräume einer Regelung eröffnet und Kriterien nahegelegt, welche den Schutz der Selbstbestimmung des Einzelnen ins Zentrum stellen.
Es gibt derzeit bereits politische Bestrebungen, eine neue, verfassungskonforme gesetzliche Regelung für die Suizidhilfe zu finden. Als Autoren eines Gesetzesvorschlags von 2014 stimmen wir diesem Grundanliegen zu und haben unseren Gesetzesvorschlag nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts überarbeitet. Ohne eine sinnvolle gesetzliche Regelung ist die Praxis der Suizidhilfe nicht unproblematisch, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Wenn weder strafrechtliche noch einheitliche arztrechtliche Regeln vorhanden sind und es keine Sorgfaltskriterien geschweige denn Dokumentationserfordernisse oder Meldeverfahren gibt, ist die Praxis der Suizidhilfe nicht nur sehr heterogen, unkontrolliert und intransparent, sondern auch aus ethischer und rechtlicher Sicht fragwürdig:
Veröffentlichte Einzelberichte über Fälle von Suizidhilfe lassen erhebliche Zweifel an der Freiverantwortlichkeit mancher Sterbewilliger aufkommen, insbesondere wenn es sich um psychisch Kranke ohne lebensverkürzende körperliche Krankheiten handelt.
Da sich neben Ärzten auch medizinisch nicht geschulte Laien als Suizidhelfer betätigen, besteht die Gefahr, dass die medizinische Aufklärung über Krankheitsverlauf, Prognose und alternative Behandlungsmöglichkeiten fehlt oder unzureichend ist; die umfassende Aufklärung stellt jedoch eine notwendige Bedingung für eine informierte Entscheidung des Suizidwilligen dar. Es ist ansonsten davon auszugehen, dass nicht alle therapeutischen Chancen genutzt werden bzw. schon die Aufklärung des Betroffenen über diese Möglichkeiten unterbleibt. Dabei ist es im Sinne des Lebensschutzes geboten, z. B. eine behandelbare Depression zunächst zu behandeln oder eine unzureichende Symptomkontrolle zu optimieren, bevor eine Suizidhilfe erwogen wird.
Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass manche Suizidhelfer die Sterbewilligen bedrängen und unangemessene finanzielle Forderungen stellen. Eine ungeregelte, intransparente Situation trägt dazu bei, dass Menschen mit Suizidwünschen ausgenutzt werden können.
In der Durchführung des Suizids werden die Sterbewilligen oft allein gelassen (nicht zuletzt deshalb, weil Ärzte rechtliche Konsequenzen aufgrund ihrer Garantenstellung befürchten), und die Umstände und Methoden des Suizids sind zuweilen unwürdig. Dies resultiert nicht selten in Suiziden, die für die Betroffenen mit großem Leid verbunden sind. Sie belasten auch die Angehörigen in besonderer Weise.
Viele Menschen wagen es nicht, mit ihren Ärzten über ihre Suizidwünsche zu sprechen – aus Angst, abgewiesen oder im schlimmsten Fall sogar in eine psychiatrische Klinik eingewiesen zu werden. Damit gehen wertvolle Möglichkeiten zur Hilfe in einer Notlage verloren.
Weil ein seriöser Ansprechpartner vielfach fehlt, der die Wünsche der Betroffenen nicht von vornherein ablehnt, wählen manche Menschen Suizidformen, die Dritte gefährden oder erheblich belasten (z. B. Lokführer, U-Bahn-Fahrer).
Da verlässliche Zahlen über Häufigkeit und Durchführung von Suizidassistenz in Deutschland fehlen, kann sich die Gesellschaft keine fundierte Rechenschaft über diese Praxis und ihre Entwicklung geben.
Die Rechtsunsicherheit stellt insbesondere für Ärzte, aber auch für alle anderen beteiligten Bürger, eine große Belastung dar und behindert einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem sensiblen Thema.
Aus diesen Gründen erscheint es aus medizinischer, ethischer und juristischer Sicht unverantwortlich, auf eine gesetzliche Regelung zu verzichten. Die Kombination aus Tabuisierung, Rechtsunsicherheit sowie unkontrollierter, nicht dokumentierter und missbrauchsanfälliger Praxis stellt eine Gefahr für die Rechtsgüter Leben, körperliche Integrität, Selbstbestimmung und Freiheit der Person dar.