Читать книгу Selbstbestimmung im Sterben - Fürsorge zum Leben - Urban Wiesing - Страница 8
1 Einleitung 1.1 Problem 1.1.1 Rahmenbedingungen für medizinische Entscheidungen am Lebensende
ОглавлениеIn Deutschland stirbt die Mehrzahl der Bürger1 im Rahmen von fortschreitenden, unheilbaren Erkrankungen, bei denen das Lebensende Wochen oder gar Monate im Vorhinein absehbar und gestaltbar ist. Das gilt selbst für die gegenwärtige Situation, in welcher die Pandemie Covid-19 auf dramatische Art und Weise in Erinnerung ruft, dass der Tod auch schnell und unvorhergesehen eintreten kann. Gleichwohl geht die langfristige Tendenz in unserer Gesellschaft dahin, dass die weit überwiegende Mehrheit der Menschen an chronischen Erkrankungen verstirbt, die allermeisten davon hochbetagt.
Jeder Bürger, der die Fähigkeit zur rechtsgültigen Einwilligung in medizinische Maßnahmen besitzt, kann lebenserhaltende Behandlungen (z. B. Reanimation, Beatmung, Chemotherapie, Dialyse) ablehnen, um das Sterben zuzulassen. Die Umsetzung des Willens kann, ethisch und rechtlich gleichwertig, durch Unterlassen einer potenziell lebenserhaltenden Behandlung oder durch Beendigung einer bereits begonnenen lebenserhaltenden Behandlung erfolgen.2 Gleichermaßen muss eine Behandlung unterbleiben oder beendet werden, wenn dies aus einer Patientenverfügung, einer im Voraus mündlich geäußerten Behandlungsablehnung oder dem mutmaßlichen Willen des Patienten eindeutig ersichtlich wird.3 Der Gesetzgeber hat mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts von 2009 hierfür klare Regelungen erlassen. Zudem hat der Bundesgerichtshof (BGH) die strafrechtlichen Bedingungen für einen erlaubten Behandlungsabbruch festgestellt.4
Die palliativmedizinische und hospizliche Betreuung und Begleitung am Lebensende haben sich in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren deutlich verbessert. Auch wenn Deutschland dadurch im internationalen Vergleich gut dasteht,5 ist die Versorgung in manchen Bereichen des Gesundheitswesens und bei manchen Krankheitsbildern noch unzureichend, insbesondere bei nicht-onkologischen Erkrankungen und speziell bei Demenzerkrankungen. Die schmerz- und symptomlindernde Therapie ist noch nicht überall auf höchstem Standard. Dies liegt unter anderem daran, dass bei manchen Ärzten immer noch die Befürchtung besteht, durch Verabreichung von hochwirksamen Schmerzmitteln gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften oder gar gegen das Tötungsverbot zu verstoßen. Dabei hat der Bundesgerichtshof schon im letzten Jahrhundert klargestellt, dass eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Maßnahme auch dann durchgeführt werden darf, wenn als mögliche (nicht beabsichtigte) Nebenfolge der Tod früher eintreten könnte (sogenannte »indirekte Sterbehilfe«).6
Im Gegensatz hierzu ist die Tötung auf Verlangen in Deutschland nach § 216 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar. Aktuell lassen weltweit lediglich die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kanada und Kolumbien sowie der australische Bundesstaat Victoria die Tötung auf Verlangen unter gesetzlich definierten Bedingungen straffrei ( Kap. 3.1.3). Deutlich von der Tötung auf Verlangen zu unterscheiden ist die freiverantwortliche Selbsttötung und die Hilfe dazu (auch assistierter Suizid genannt). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die freiverantwortlich handelnde Person selbst die Tatherrschaft innehat, also die letzte zur Tötung führende Handlung (etwa die Einnahme eines Medikaments) selbst durchführt, während ihr eine andere Person nur bei der Vorbereitung hilft, zum Beispiel indem sie das tödliche Mittel verschafft.