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Die folgenden Tage verbrachten wir unter türkisblauem Herbsthimmel. Die Kastanienbäume verfärbten sich gelb, die Pappeln vor dem Wohnzimmerfenster leuchteten orange und rot, und die kleine Topfrebe, die den Sommer über das Geländer des Balkons überwuchert hatte, verlor bereits die Blätter.

Die ersten drei Tage waren wir alle vier zu Hause geblieben, schweigsam in der Stille, jeder mit seinen Gedanken und seiner Traurigkeit. Nicht nur die kleine Selma, auch Nadine mit ihren fünfzehn Jahren und bereits größer als Mona, kroch zu uns ins Bett zum Schlafen, zwischen uns beide, zwischen Mama und Papa, klammerte sich an meinen Arm, schmiegte sich an Monas Rücken.

Erst nach Leos Beerdigung spülte der Regen das Gesicht der Stadt und unsere Gefühle auf. Wir ließen die Traurigkeit in die feuchte Atmosphäre entweichen, sich unter die Wolken mischen. Ich nahm die Arbeit wieder auf und war froh, dass niemand kam, um mit mir zu reden. Die administrative Prozedur der Beerdigung hatte mich erschöpft, die Todesan­zeige und die Formulare, die Beileidskarten und Anrufe, die Wünsche und Ratschläge der Freunde, die freundliche Anteilnahme von so vielen Leuten, die weder ich noch Mona aufnehmen konnten. Und dann: wie ein Kind beerdigen, das wir atheistisch nicht getauft hatten? In welchem Rahmen, mit Rede von wem und mit welchem Ritual? Fragen, die wir uns nicht gestellt hatten, Dinge, die nicht Teil unserer Welt gewesen waren, nicht einmal unserer Vorstellung. Die Beerdigung des eigenen Kindes, auch nachdem es passiert ist, bleibt eine Aberration, die Welt auf den Kopf gestellt.

Mona war es, die in ihrer Trauer und ihrer Wut das Nötige unternahm und Anzeige gegen Unbekannt erstattete.

— Was soll das denn?

— Man muss den Mörder finden und vor Gericht bringen!

— Das ändert nichts, das bringt uns Leo auch nicht zurück.

— Ich will ihn sehen, will seinen Namen kennen, ich muss ein verdammtes Gesicht auf diese Katastrophe setzen!

— Auch wenn du einen Schuldigen findest, das ist nicht der Mörder. Im Gegenteil, er wird sich so schlecht fühlen wie wir, vielleicht noch schlechter, stell dir vor: Ein junger Spund, der unter dem Befehl einer übergeordneten Institution einen Menschen tötet. Was gibt es Schlimmeres? Er muss von Reue und Schuldgefühlen zerfressen sein.

— Schuldgefühle? Das sind Mörder und fühlen sich auch noch im Recht. Die muss man zur Rechenschaft ziehen!

— Mir ist es lieber, man lässt mich in Ruhe.

— Dann bleib doch in deiner Ecke, friss alles in dich hinein, und du wirst sehen, wie die verdrängte Wut dich von innen her auffrisst.

— Du kannst dieses ganze System nicht ändern.

— Solche Dinge dürfen nicht passieren! Man muss das Wort ergreifen, die Dinge beim Namen nennen, Recht beanspruchen. Das ist das Mindeste, was wir Leo schuldig sind.

— Missbrauche unseren Sohn nicht für deine eigene Wut! Lass ihn in Ruhe, lass ihn aus dem Spiel!

— Er ist das Zentrum der ganzen Angelegenheit. Wach auf, David! Wach endlich auf!

Unsere Diskussionen waren uferlos und endeten oft in Streit. Seit der Beerdigung hatte Mona eine zunehmende Wut entwickelt. Ihr Schmerz verwandelte sich in Anschuldigungen und Verurteilungen gegen das Verbrechen der Po­lizei an unserem Sohn. Zum tausendsten Mal wiederholte sie den angeblichen Ablauf der Ereignisse, bis ihre Beschreibung ein ritualisiert erzähltes Märchen wurde, eine Version, die alle Hypothesen und Anschuldigungen beinhaltete, eine Erzählung, die ihrer Wut entsprach. Mir war die Version egal, ich wollte sie nicht mehr hören. Leo war tot, so viel zu den Tatsachen, mit denen wir fortan leben mussten.

Mehrere Wochen verstrichen, bis wir die Kraft aufbrachten, um Leos Zimmer in Angriff zu nehmen. Ich hatte mich mit einer Hundertzehn-Liter-Abfalltüte und der Werkzeugkiste bewaffnet, um Möbel auseinanderzuschrauben, Dinge zu zerkleinern. Aber weder Mona noch Nadine noch ich wagten es, die Tür zu diesem eingefrorenen Vermächtnis aufzustoßen. Es war Selma, die an einem Novembermorgen die Tür öffnete. Alle vier blieben wir davor stehen und betrachteten die Projektion unserer Erinnerungen.

Das Zimmer war geblieben, wie Leo es ein paar Tage vor der Demo zum letzten Mal verlassen hatte: das gewohnte Durcheinander, Kleider am Boden, zerschlissene Schuhe, Bü­­cher, zerkratzte Vinyl-Platten. Das aufgebaute Elektropiano eingeschaltet und staubbedeckt, der Schreibtisch von Papieren überladen, das Bett zerwühlt, sein Pyjama noch auf dem Kissen, als würde er gleich nach Hause kommen, als wäre er nur kurz raus zu seinen Freunden, als hörten wir bereits das Klacken der Wohnungstür gefolgt von seiner Stimme, die nach dem Abendessen fragt.

Mona ging voraus und näherte sich langsam dem Bett, beinah, als mache sie etwas Unerlaubtes, setzte sich drauf, ließ ihre Hände über die Matratze gleiten, über das Kissen und über die Decke. Dann nahm sie den Pyjama mit beiden Händen, hob ihn hoch und presste ihn gegen ihr Gesicht. Sie versank in diesem weichen, warmen Stoff, atmete in der Stille seinen Geruch. Und dann plötzlich wurde sie von ei­nem Heulkrampf erfasst, warf sich mit dem Pyjama in den Armen auf das Bett und weinte.

Ich wohnte dieser Geste bei wie einem alten Ritual.

Und dann glitt ich der Wand entlang, am Bürotisch vorbei, um mich in der Mitte des Zimmers auf den Boden zu setzen, zwischen die Schulbücher und die Fahrradutensilien des kleinen Jungen, der er in diesem, seinem Zimmer geblieben war. Bremsklötze, Schrauben, Kugellager und Kettenteile lagen auf dem Boden verstreut. Eines nach dem andern nahm ich in die Hand, fasste nach undefinierbaren Eisenteilen im Regal, diesem kleinen Ersatzteillager, das Leo sich die letzten Jahre hier für seine Rennräder im Keller aufgebaut und bei seinem überstürzten Auszug aus unserem Haus vor mehr als einem Jahr hatte liegen lassen. Wir hatten damals nicht daran geglaubt, dass er bereits auf eigenen Füßen stehen könnte, und ließen sein Zimmer unangetastet, bereit, ihn für die Restzeit seiner Abnabelung wieder aufzunehmen. Außer ein paar Kleidungsstücken hatte er kaum etwas mitgenommen. Als habe er sich auf eine kleine Reise aufgemacht, war er damals, zwei Monate vor seiner Mündigkeit, rot vor Wut und Hass auf Mona und mich mit einem kleinen Sportsack an uns vorbei zur Tür hinaus ins Leben getreten und bis zu seinem Tod nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Hin und wieder suchte er noch Unterschlupf bei uns, wenn er gerade keine Bleibe hatte, auf der Suche nach der nächsten Absteige, der nächsten Etappe seines Zauberlehrlingstrips, tauchte dann unter in dem kleinen Museum seiner Kindheit, wie er sein Zimmer fortan nannte, genoss die letzten Geborgenheitsfetzchen, bettete sich in die welken Federn seiner Pubertät. Aber länger als eine oder zwei Nächte hielt er es nicht mehr aus bei uns, und oft wussten wir nicht, wohin er sich als Nächstes verkroch, mit wem er die Nächte durchsoff, Abende verkiffte und Tage vergeudete.

— Unser kleiner Leo, sagte Mona, unser lieber kleiner Leo! Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen.

— Ihn etwa einsperren? Anbinden? Meinst du, wir hätten ihn zwingen können, zu Hause zu bleiben?

— Wir hätten niemals akzeptieren dürfen, dass er einfach so geht und sich wie ein Straßenkind durchschlägt. Er war noch ein Kind!

— Ja, ein Kind, ein selbsternanntes Findelkind.

Leos Stolz hatte es ihm verboten, uns auch nur einmal um Geld zu bitten. Zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte er von der Bank eine Karte für sein Konto zugeschickt bekommen, die ihm Zugang zu seinem seit seiner Geburt von Großeltern, Tanten, Paten und auch von uns gespiesenen Guthaben erteilte. Es war nicht besonders viel, aber damit konnte er sich einige Monate über Wasser halten. Später erfuhren wir, dass er sich in einem besetzten Industriegebäude am Stadtrand neue Freunde gemacht hatte. Dort wohnte er mit vier Hunden, zwei älteren Punkfrauen und einem Straßenclown in einer Lagerhalle, und nach mehreren Wochen Absenz hatte er die Schule wiederaufgenommen. Wir hatten uns gestritten deswegen, hatten um Marihuana und um Alkohol gefeilscht, um Ausgehzeiten und um Taschengeld. Leo bombardierte uns mit Argumenten und Gegenargumenten, hielt Tiraden über die Konsumgesellschaft der Mittelschicht, fabulierte sich in die Höhen der Verantwortlichkeiten und Anschuldigungen, verweigerte jegliches Ver­söhnungsangebot und führte Krieg gegen uns, gegen die Gesellschaft, gegen die Welt, eine Welt, in der er nicht leben wollte. Als er dann begann, Lehrer für ihre vermeintliche Inkompetenz mit seiner Absenz zu strafen, eskalierte der Konflikt zu einem letzten rhetorischen Bombardement, das in Leos demonstrativem Auszug aus unserem Haus kulminierte.

Seither mussten wir uns mit Leos sporadischen kurzen Besuchen bei uns begnügen, erhielten tropfenweise Informationen über ihn, erfuhren, dass er die Matura doch noch geschafft hatte, knapp zwar, aber immerhin, und schließlich ließ er uns schriftlich mitteilen, dass er sich an der Uni eingeschrieben habe. Viel konnten wir nicht erfahren. Der Krieg war vorüber, aber der Friedensprozess hatte noch nicht eingesetzt. Leo blieb auf Distanz, und wir lebten fortan mit dem Zimmer in unserer Wohnung, dem kleinen Leo-Muse­um, das weder Mona noch ich noch seine Schwestern je betreten hatten.

Ich weiß nicht, wie lange wir in Leos Zimmer blieben. Irgendwann hatte sich die Dunkelheit über uns gelegt. Mona war auf dem Bett eingeschlafen. Auch ich schlief ein wenig, vielleicht sogar mehrere Stunden, denn als ich aufwachte und das Zimmer verließ, war Nadine nach Hause gekommen und in ihr Bett verschwunden. Ich löschte alle Lichter und legte mich zu Mona.

Anaconda 0.2

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