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Als ich aufwachte, war ich allein. Mona hatte bereits alle Bücher in eine Kiste gelegt, der Schrank stand weit offen, zwei große Koffer davor.

— Ich bringe sie zur Caritas, sagte sie und verschloss den ersten, prallvollen Koffer. Viele T-Shirts, Hosen und Pullover sind noch wie neu. So nützen sie wenigsten jemandem was.

Dann stopfte sie den Rest in den zweiten Koffer.

— Was machen wir mit dem Bett?

— Das können wir für Besucher behalten.

— Und sein Arbeitstisch?

— Schraub den auseinander! Ich will diesen Mist nicht mehr sehen. Ab heute keine nordischen Wegwerfmöbel mehr in unserem Haus!

Diese Entscheidung hatten wir vor ein paar Monaten gemeinsam getroffen, aber es tat gut, sie noch einmal deutlich zu wiederholen. Die Vorstellung, dass die Erinnerungen an unseren Sohn sich in alten Einwegmöbeln verewigen sollten, war unerträglich.

So schlug ich die Werkzeugkiste auf und begann, den Tisch abzuräumen. Papiere, Werk- und Schreibzeug lagen obenauf, cds und Kabel, ein vertrockneter, angebissener Apfel. Ich sah Leos Zahnabdrücke im Fruchtfleisch, roch daran, biss hinein. Dann zog ich die oberste Schublade auf und holte auch dort die Papiere, Hefte und alten Feriensouvenirs heraus. Seit Jahren hatte ich diese Schublade nicht geöffnet. Wir wussten alle, dass Leo hier seine Hefte, in die er hin und wieder Gedichte geschrieben hatte, versteckte, kleine Cannabis-Reste, Liebesbriefe oder Geld, das er zur Seite legte. Ich wusste sehr genau, dass Mona diese Schublade umging, dass sie sich nicht darum kümmern wollte. Mit einem unguten Gefühl stellte ich mir vor, hier auf ein Tagebuch zu stoßen, die schmerzhafte Lektüre der vergangenen Welt, der ich mich stellen müsste. Vielleicht hätte ich es ungelesen in sein Grab gelegt oder verbrannt wie so vieles später, kurz vor Weihnachten, an einem Gedenkabend an Leo. Das schien uns die einzige angemessene Weise, um im Familienkreis von ihm Abschied zu nehmen.

Da gab es Briefe und beschriebene Zettel, von ihm gesammelte Zeitungsartikel, Zigarettenstummel, Korken von einigen guten Flaschen, die er aus meinem Keller geklaut hatte. Ich fand zwei Uhren, die ich ihm gegeben hatte, deren eine das Erbe meines eigenen Vaters war. Dann auch alle Klappmesser, mit denen wir bei Picknicks Pfeile und Bogen geschnitten hatten. Ich fand Muscheln, Steine und Kristalle, die wir aus Ferienorten nach Hause getragen hatten. Und wie erwartet fand ich auch die beiden blauen Notizhefte mit den poetischen Versuchen.

Mona hatte eine Kiste für die brennbaren Dinge und eine zweite Abfalltüte gebracht. Sie hatte damit begonnen, die Bücher in jene zu sortieren, die sie behalten, und jene, die sie zum Trödler bringen wollte. Und mit jedem Objekt, das ich aus der Schublade zog, stand ich vor demselben Dilemma.

— Das ist unsere Aufgabe, David, durch diese Hölle müssen wir.

Mona ließ mir keine andere Wahl, wollte jedoch nicht sehen, was ich aus der Schublade holte, wollte nicht, dass ich auch nur einen Brief öffnete. Sie war damit einverstanden, dass ich die Notizhefte mit den Gedichten und die Uhren behielt, aber nicht die Steine und nicht die Messer. Den Pyjama und die ganze Bettwäsche hatte sie in die Kiste der zu verbrennenden Objekte gelegt. Sie wischte den Staub hinter dem Bett hervor. Als ich die zweite, tiefere Aktenschublade öffnete, fand ich darin keine Hängemappen mit Dokumenten aus Leos Studium, wie ich das erwartet hatte, sondern eine große, graue, von mehreren Gummibändern umwickelte Kartonschachtel. Ich stellte sie auf den Boden. Oben drauf klebte eine Ansichtskarte. Anakonda, einen Kaiman verschlingend stand kleingedruckt hinten drauf neben dem Copyright, und auf der Vorderseite war genau dies fotografisch festgehalten: Eine Riesenschlange, aus deren Rachen der Schwanz eines Krokodils ragte.

Ich entfernte die Gummibänder und riss den Deckel auf. Zerknülltes Zeitungspapier, Stofffetzen holte ich heraus, darunter feines, sehr leichtes Seidenpapier, und legte nach und nach eine alte, durch und durch elfenbeinweiße, mit wilden Stuckaturen verschnörkelte Spieluhr frei. Ich hob sie auf den Schreibtisch. Oben auf dem Abschluss thronte eine weiße Schachkönigin, unten waren mehrere Türchen in den Kasten eingelassen.

Ich betrachtete dieses Kuriosum aus alter Zeit, aus einer anderen Welt, diese Schnörkel und Falten, die leicht angerosteten Scharniere an den Türchen, das Emailzifferblatt mit den in alter Schrift gemalten Zahlen und Zeichen, stumme Nachrichten aus vergangenen Zeiten.

Am hinteren Kastenteil öffnete ich ein erstes Türchen und betrachtete im Innern die Räder und Walzen, die Verzahnungen und Drähte, ein wild organisiertes Durcheinander von vorprogrammierten Befehlen, auszuführenden Bewegungen und Abläufen. Ich öffnete auch die anderen Türchen und fand im Innern zwei Figuren, eine weiße Königin und einen orientalisch gekleideten Mann mit Turban, beide bereit, zur gegebenen Stunde durch die kleinen Öffnungen herauszufahren an einen winzigen Schachtisch und dort ein Spiel vorzuführen. Weit im Innern auf der Hauptwalze mit den eingeritzten Zapfen des programmierten Musikstücks fand ich eine Signatur: jls, in alten, von Hand in das Metall geritzten Lettern. Außer der metallenen Hauptwalze waren auch im Innern alle Räder und Übersetzungen, alle Wellen und Bolzen milchweiß wie gebranntes Porzellan. Aber es war kein Porzellan. Ich klopfte mit ei­nem Gegenstand an den äußeren Kasten, an eine Welle im Innern. Der Ton ließ auf etwas Organisches oder Mineralisches schließen: gehärtetes Holz oder Elfenbein oder Marmor. Ich suchte nach einem Drehschloss, um die Uhr aufzuziehen und spielen zu lassen. Ich fand ein kleines Loch an der linken Seite, das zu einer Dreikantwelle führte, aber der Schlüssel fehlte.

Da ich die Uhr nicht spielen lassen konnte, erforschte ich weiter das Dickicht der Verzahnungen und Übersetzungen. Es war unmöglich, aus dem Räderchaos irgendeinen verstehbaren Sinn abzuleiten. Ich konnte mir vorstellen, dass die beiden im Innern der Spieluhr ausharrenden Figuren ­regelmäßig herausfuhren wie Jacquemarts, um in vorprogrammierten Zügen Schach zu spielen. Ebenfalls konnte ich mir aufgrund der Einritzungen auf der Hauptwalze eine abspielbare Melodie ausmalen. Aber verstehen konnte ich überhaupt nichts.

— Weg damit!, sagte Mona nur und saugte weiter den Staub unter dem Bett hervor.

Ich steckte meine Finger in die Mechanik, äugte noch einmal durch die Räder und Stangen, als ich einen Draht entdeckte, einen in Plastik gefassten Elektrodraht mitten unter den elfenbeinweißen Rädern und Stangen, den kleinen Plat­ten und Gittern, einen Draht aus einer anderen Zeit, der kein mechanisches, sondern ein elektrisches Ziel verfolgte. Von einem Ende der Hauptwalze zog er sich an einer Welle entlang, folgte einem Eckbalken in die Höhe, überquerte den Raum an Zahnrädern vorbei, hangelte sich einer Verbindungsschnur entlang, wurde mittendrin unbegründet rechtwinklig abgezweigt und quer nach links gezogen, verschwand in einem kleinen Loch, schoss drei Zentimeter weiter wieder aus dem weißen Mantel und erreichte eine kleine Leiterplatte, auf der mehrere Transistoren, Kondensatoren und ein zehnfüßiger Chip miteinander verlötet waren. In diesem Augenblick war mir schleierhaft, wie mir diese Leiterplatte hatte entgehen könne. Später stellte ich fest, dass sie von keinem der geöffneten Türchen aus zu ­sehen war. Aber diese Entdeckung warf mich auf den Ursprung des Drahtes zurück: zur linken Querseite der Hauptwalze. Vorsichtig legte ich Daumen und Zeigefinger an das Metall und zog. Tatsächlich ließ sich der Seitendeckel der Walze entfernen. Im Innern der Walze befanden sich weitere dünne Drähte und elektronische Teile. Ich sah mit Klebeband umwickelte, fingerdicke, rote Stäbe, so lang wie die Walze selbst. Ich sah Drähte, die die Stäbe mit winzigen Leiterplatten verbanden. Und als ich endlich begriff, dass ich eine Bombe in den Händen hielt, ließ ich sie beinah fallen.

In dieser Nacht klammerte sich Mona an mich. Noch halb angezogen ließ sie sich zu mir ins Bett fallen, grub ihre Finger in meine Armmuskeln, presste meinen Bauch mit beiden Armen, schlug sie um meinen Hals und fesselte sich an mich, als müsste sie sonst ertrinken. Ich schmeckte das Salz ihrer Tränen auf meinen Lippen. Sie verbiss sich in meinen Arm, zog mich an den Haaren, zerkratze mir den Rücken. Sie schluchzte und hustete und lallte unverständliche, verzweifelte Laute. Sie ließ sich nach hinten auf den Rücken gleiten und wiegte den Kopf hin und her, als wolle sie sich in Trance versetzen. Ich legte ihr ein Kissen unter den Nacken, zog sie ganz aus, bettete ihre Beine auf die Decke und nahm ihre rechte Hand, als säße ich an einem Krankenbett, als begleitete ich sie durch ein unvermeidbares Delirium, das Delirium eines kalten Entzugs. Ihr nackter Körper schien zu glühen, zu leuchten beinahe. Ihre Haut war heiß und trocken. Dieser Körper, den ich seit mehr als zwanzig Jahren kannte und durch alle Stadien der physischen Verwandlungen dreier Schwangerschaften begleitet hatte, versetzte mich immer wieder in Erstaunen. So, wie sie jetzt dalag mit offenem Haar, schweren Schenkeln und willenlos ausgebreiteten Armen, hatte ich sie noch nie gesehen. Dieser Körper erschien mir trotz der jahrelangen Vertrautheit immer wieder neu und unentdeckt, unerschöpflich in seiner Verwandlungsfähigkeit, vertraut und fremd, gewohnt und aufregend zugleich. Ich spürte ihre Schwere in dem heißen, Hilfe suchenden Händedruck. Dann setzte sie sich auf und legte ihren Kopf auf meine Brust, horchte nach meinem Herzschlag. Ich legte mich auf den Rücken nieder und spürte am Rhythmus ihres Atems, wie sie einschlief. Ich löschte das Licht und starrte in die Dunkelheit, lauschte den Geräuschen der Stadt, die durch das Dachfenster in unser Zimmer drangen. Monas Atem. Selma drehte sich in ihrem Bett. Durch die dünne Gipswand hörte ich das leise, vertraute Rumpeln, ein Lebenszeichen unserer Kleinsten, die im Dunkeln der Nacht mit einem Fuß, einem Ellbogen oder gar mit dem Kopf gegen die Wand schlug.

Als ich zwei Stunden später noch immer nicht schlief, schob ich Monas Kopf von meiner Brust und legte die Decke zur Seite. Unten in der Küche löffelte ich einen kühlschrankkalten Joghurt, klatschte mir Wasser ins Gesicht. Ich trat auf den Balkon hinaus und lauschte dem Rauschen, Schnurren und Glucksen der schlafenden Stadt. Diese abgrundtiefe Gleichgültigkeit der Nacht gegenüber der persönlichen Schlaflosigkeit. Auf unserem Küchentisch lag ei­ne als Spieluhr verkleidete Paketbombe, und draußen schlief die Welt.

Anaconda 0.2

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