Читать книгу Tanner - Urs Schaub - Страница 3
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Das Dorf, das keine Kirche hat, liegt östlich vom See.
Wer es mit dem Auto erreichen will, fährt westwärts aus der Hauptstadt über eine spärlich befahrene Autobahn, verlässt sie dreizehn Minuten später, bei der dritten Ausfahrt nach dem Tunnel, umfährt das historische Städtchen am See, von dem es heißt, man könne getrost sterben, nachdem man es gesehen hat. Oder er fährt mitten durch das Städtchen, wenn er es nicht zu eilig hat, holpert über das Kopfsteinpflaster der Hauptgasse, setzt dann, falls er sich trotz allem für die Fortsetzung seines elenden Lebens entschieden hat, seine Fahrt auf der alten Welschlandroute fort, auf der einst Napoleon fuhr, bis zu dem kleinen Weiler, dessen Name auf das Korn zurückgeht, das hier im Mittelalter gemahlen wurde, biegt beim Schloss nach links, auf eine kleine, geteerte Nebenstraße, lässt die alte Mühle mit ihren Gehöften hinter sich, überquert eine Brücke, die über die Autobahn führt, erblickt unweit von dieser Stelle einen anmutigen Friedhof, fährt an diesem vorbei und befindet sich kurz danach mitten im Dorf, das keine Kirche hat.
Es wird auch nie eine haben. Keine Kirche.
Tanner fährt seinen alten Ford zu einem Bauernhof, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Das wäre dann der erste gemeinsame Punkt.
Es ist sehr still.
Nachdem es wochenlang geregnet hat, erscheinen die Felder, die sonst Getreide, Mais, Kartoffeln und Zuckerrüben tragen, wie leer gewaschen. Nur der Raps lässt stellenweise sein scharfes Gelb erahnen.
Die Bäume strecken ihre Äste zum Himmel und ihre honigglänzenden Knospen sehen aus wie klebrige, zusammengeballte Kinderhände, die sich in stummer Klage gegen die noch unsichere Bläue des Himmels recken. Ein Himmel, der sich, ohne die dicken Wolken, die ihn die letzten Wochen und Monate verhüllt haben, noch seiner ungewohnten Nacktheit schämt.
Oder seiner Schuld.
Tanner bleibt sitzen und raucht einmal mehr seine letzte Zigarette. In dem Zimmer, das er in dem Bauernhof gemietet hat, sollte er wohl besser nicht rauchen. Kein Fernseher und kein Nikotin.
Mal sehen, was mir schwerer fällt, sagt er zu der kleinen Katze, die sich auf der warmen Motorhaube seines roten Ford niedergelassen hat. Ohne das geringste Geräusch ist sie auf das Auto gesprungen und liegt mit halb geschlossenen Augen da, als sei sie mit dem Metall verschmolzen.
Ist denn niemand da?, fragt er die Katze.
Jetzt blickt sie ihm in die Augen. Oder durch ihn hindurch? Möglicherweise sieht sie ihn wegen der Spiegelung der Frontscheibe gar nicht. Jedenfalls wartet er vergebens auf eine Antwort.
Das Fell der Katze ist rot mit weißen Flecken. Auch das Gesicht ist zweifarbig.
Die Grenzlinie verläuft schräg, quer über den Nasenrücken.
Genau diese Katze würde sie sich wünschen. Für einen Augenblick gestattet er sich, das schöne Gesicht von ihr zu sehen. Ein ebenmäßiges Gesicht.
Hör auf, Idiot.
Jetzt reagiert die Katze, obwohl sie ihn kaum hat hören können. Sie streckt sich und springt vom Auto hinunter. Elegant tänzelt sie um die vielen Regenpfützen und erreicht mit trockenen Pfötchen die verschlossene Haustür. Er öffnet die Autotür, nimmt einen letzten Zug von seiner Philip Morris und schnippt sie gezielt in die nächste Pfütze. Mit leisem Zisch erlischt die Glut. Die Katze schaut vorwurfsvoll.
Er bleibt sitzen und atmet die kühle Frühlingsluft.
Die Natur befindet sich in einer Art Stillstand. Alles scheint bereit zur Verwandlung. Noch ist es nicht so weit. Wer gibt das Zeichen? Wann?
Wird es für ihn, Tanner, auch ein Zeichen geben? Und welche Art von Verwandlung wird es sein? Stillstand ist Tod.
Einmal mehr befindet er sich auf der Flucht. Wovor? Wenn er das wüsste!
Das Dröhnen eines Traktors zerreißt die Stille. Ein grünes Ungetüm mit gläserner Fahrerkabine fährt vorüber. Er grüßt mit erhobenem Zeigefinger, obwohl er hinter dem Glas der Fahrerkabine nichts sehen kann. Die mächtigen Räder des Traktors durchpflügen das Wasser auf der Straße. Einige Spritzer landen auf dem Seitenfenster seines Autos. Die Katze bringt sich ängstlich hinter dem Geländer einer hölzernen Treppe in Deckung. Die Treppe führt in den ersten Stock.
Je größer der Traktor, desto dümmer …!
Er erinnert sich an die Reise mit seinem Kind nach Chioggia, wo die Fischer sich mit der Größe der Schiffsmotoren zu übertrumpfen suchen. Wie die weißen Fischerkähne stolz in die Lagune stechen, hohe Bugwellen vor sich aufwühlend, und die schweren Schiffsmotoren brünstig röhren.
Hochzeitstänze von schneeweißen Täuberichen.
Das muss ein reicher Bauer sein.
Sie leckt ungerührt die linke Pfote mit ihrer rosa Zunge.
Wenn du noch keinen Namen hast, werde ich dich Rosalind nennen. Und zwar nach der Shakespeare’schen Rosalind, mein Schätzchen.
Das Dröhnen des starken Motors verliert sich in den schattigen Eingeweiden des Dorfes. Er steigt aus seinem Auto aus. In der neuen Stille hört man Geräusche aus dem Stall. Eine Kuh erhebt sich schwer von ihrem Strohlager. Eine Kette rasselt. Kurz darauf ein Kratzen hinter der Haustür.
Erst jetzt bemerkt Tanner den gefalteten Zettel an der Haustür.
Beschrieben mit einem grünen Filzstift. Eindeutig eine Frauenschrift.
Lieber Herr Tanner, wir wussten die genaue Uhrzeit nicht, wann Sie ankommen würden. Wir sind bald zurück. Ihr Zimmer im ersten Stock ist parat. Den Schlüssel finden Sie oberhalb der Treppe, unter dem kleinen Teppich. Wir hoffen, Sie finden sich zurecht.
Unterschrieben mit Vorname und dem ersten Buchstaben des Familiennamens.
Den Vornamen wusste er nicht. Den Familiennamen kennt er natürlich von seinem Freund, der ihm das Zimmer vermittelt hat. Mit Familienanschluss. Wie er am Telefon verschmitzt kicherte.
Die Katze schlängelt sich unterdessen in Form einer lebenden Brezel zwischen seinen Beinen durch. Sie schmiegt sich katzbuckelnd an sein linkes Bein, den Schwanz hoch in die Luft, und schaut ihm durchdringend in die Augen.
Mach endlich die Tür auf!
Ja, ja, mein ungestümes Mädchen, lass mich doch erst mal sehen, wo ich da gelandet bin.
Nach der langen Fahrt ist er froh, an der frischen Luft zu sein und nicht mehr auf das endlos sich abspulende Band der Autobahn starren zu müssen.
Das Bauernhaus ist ein lang gestrecktes Haus, bestehend aus Wohnhaus mit zwei Stockwerken, zwei Ställen, die eine Scheune mit großen Toren flankieren. Darüber wölbt sich ein gewaltiges Dach. In das zweite Stockwerk des Wohnteiles führt eine hölzerne Außentreppe, deren Stufen von vielen Generationen ausgetreten sind.
An das eigentliche Bauernhaus, das eine architektonische Einheit bildet, schließt sich ein großes Eternitdach an, getragen von schlanken Holzbalken auf Betonsockeln. Dieser Anbau dient dem Unterstellen von Wagen, einem Jauchedruckfass und einem alten Traktor. An die alte Hauswand schmiegt sich ein großer Stapel Holz. Links von der neuen Halle sind zwei Garagen. Die eine ist fürs Auto. Sie ist leer. Die zwei Türen stehen offen. Der Boden der Garage ist voller Ölflecken, die in der tief stehenden Aprilsonne dunkel leuchten. In der anderen Garage steht ein großer Traktor mit Hebegabel. Die Garage ist zu klein. Das Hinterteil der Maschine steht im Freien.
Tanner durchquert die Einstellhalle und gelangt hinter das Haus. Weite Wiesen, eingezäunte Weiden, dann Wald. Sanft ansteigend in die anschließenden Hügel, scheinbar endlos. Hinter dem Haus liegt kreisrund ein Jauchetank aus Beton, etwa in der Größe von Artus’ Tafelrunde. Daran lagern aber keine Ritter, sondern einige Stapel Bauholz, bedeckt mit altem Wellblech.
Daneben duckt sich verschämt ein lang gestreckter Schweinestall, mit zwei kleinen Futtersilos an seiner Stirnseite.
Eine träge Stille liegt über diesem Ort. Als ob jemand vergessen hätte, das abgelaufene Uhrwerk wieder aufzuziehen. Schlafen die Schweine oder sind die Ställe leer? Er wagt nicht, die Tür zu öffnen. Nach dem Geruch zu schließen, sind sie da, oder erst seit kurzem weg. Wenn sie heute Morgen in den Schlachthof kamen, sind sie bereits in essbare und nicht essbare Einzelteile zerlegt. Die essbaren Teile werden abgepackt. Der Rest ausgekocht, gemahlen oder weggeworfen.
Ich esse kein Fleisch mehr, sonst würde ich mich auf der Stelle schuldig fühlen, bemerkt er zur Katze, die ihm gefolgt ist. Es interessiert sie nicht.
Gemeinsam biegen sie um die Ecke des Wohnhauses und stoßen auf einen Gemüsegarten, noch ganz in winterlicher Kargheit. Die meisten Beete sind leer. Nur eines ist mit großblättrigem Gemüse bewachsen.
Ist das Kohl?, fragt er die Katze.
Sie springt mit einem Satz über den kleinen Zaun aus Maschendraht und riecht an den Blättern. Sie niest und schüttelt ihren Kopf so heftig, dass ihr kleiner Körper ebenfalls mitgeschüttelt wird und sie hinfällt. Verwirrt springt sie hoch. Ein richtiger Raubtiersatz wird das und sie guckt sich misstrauisch um, wer sie denn wohl umgestoßen habe.
Ja, zum Straucheln braucht's doch nichts als Füße, zitiert Tanner leise Dorfrichter Adam und ruft die Katze zu sich.
Dann halt nicht, meine Rosalind.
Er geht zum Auto, öffnet den Kofferraum und betrachtet seine Taschen, Kisten und Schachteln. Er hat sich geschworen, nur das mitzunehmen, was im Auto Platz hat. Keine weiteren Transporte. Der ganze Rest seiner Bücher, Möbel, Geschirr und so weiter lagert, schön verpackt, in einem Möbellager. Was braucht der Mensch?
Vor allem: Was braucht Simon Tanner?
Er verscheucht jegliche Anwandlung philosophischer Art und verbietet sich strikt jede Melancholie. Kurz bevor das selbst verordnete Denkverbot offiziell in Kraft tritt, entwischt ein einzelner, stoßgebetartiger Gedanke der inneren Inquisition.
Ach, ich wüsste auf jeden Fall, wen ich zum Leben brauche!
Die Katze guckt.
Habe ich etwas gesagt?
Er fragt mit scheinheiliger Miene seine neue Freundin.
Hey, Rosalind, habe ich was gesagt? Hast du irgendetwas gehört? Sie schaut ihn gelangweilt an.
Na also, wozu dann die Aufregung?
Er schließt den Kofferraum. Zuerst will er sich das Zimmer anschauen, in dem er die nächsten Monate leben wird.
Das Zimmer ist klein. Vier mal vier Meter. Ein schmales Bett mit weißer Bettwäsche. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Schrank mit Schiebetüren. Die Wände sind weiß. Ebenso die gestrichene Holzdecke. Das einzige Fenster blickt auf den Gemüsegarten, auf die dahinter liegenden Obstbäume und auf einen benachbarten Bauernhof. Es riecht gut in dem Zimmer. Eine blaue Vase mit einem kleinen Bund Osterglocken steht auf dem Tisch.
Ruth M. lässt grüßen.
Über dem Kopfende des Bettes befindet sich das einzige Bild im Zimmer. Eine vergilbte Farbfotografie. Aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Das Foto zeigt eine kleine Baumgruppe um ein winziges, merkwürdig spitzes Rundhäuschen mit einer Holztür, aber ohne Fenster. Das Bild hat einen schlichten Holzrahmen aus Birnholz. Seine Großmutter besaß mehrere solche Rahmen, die nach ihrem Tod alle verschwunden waren. Neben dem Bild klebt eine zerdrückte Mücke. Allerdings ohne Rahmen.
Er hört ein leises Kratzen an der Tür. Er ignoriert es und legt sich probeweise aufs Bett. Es ist etwas kurz für seine Länge, aber schön hart.
Beim Aufstehen spürt er wieder diesen Druck im Bauch. Es ist kein Schmerz. Die Vorahnung von einem Schmerz. Es fühlt sich an wie ein noch rundes Ding, das da nicht hingehört und das seine scharfen Krallen nicht ausgestreckt hat. Noch nicht.
Tanner, geh endlich mal zum Arzt.
Er öffnet das Fenster und atmet die frische Landluft ein. Gott sei Dank! Kein Geruch vom Schweinestall.
Aus der Ferne schwillt das Geräusch eines Autos an. Auf der Basslinie der Motorengeräusche hört man dumpfe Technoschläge. Mit überhöhter Geschwindigkeit braust ein schwarzer Golf GTI über die regennasse Straße. Bauernsöhne auf dem Weg in die Disco. Schließlich ist es Freitagabend.
Er schließt das Fenster und überlegt sich, wie er die Möbel des Zimmers umräumen soll. Es ist wie ein Zwang. Um sich eine fremde Umgebung schneller anzueignen. Leider stellt er fest, dass alles perfekt an seinem Ort ist, und er verzichtet vorläufig aufs Möbelrücken. Er holt seine Sachen aus dem Auto. Die Katze wartet schon auf ihn. Allerdings ist sie keine große Hilfe. Sie inspiziert lieber schnuppernd seine Schachteln und Taschen.
Er packt einige notwendige Dinge aus. Die Kleider kommen achtlos in den Schrank. Einige seiner Lieblingsbücher legt er auf den Tisch.
Einmal Shakespeare. Zweimal Shakespeare. Dreimal Shakespeare.
Dann seine geliebte Doppelausgabe der Odyssee/Ilias und ein schmales Bändchen von Pascal, das sie ihm geschenkt hat und von dem sie schwärmt. Seine gähnend leeren Notizbücher und seine beiden Nikons.
Er holt die kleine, geschnitzte Kuh aus der Schachtel. Er nimmt sie überallhin mit. Ein Geschenk von einem Freund, der unbegreiflicherweise tot ist. Zwischen seinen Hemden liegt, in Seidenpapier eingewickelt, sein einziges Originalbild. Das Mädchen von Leonor Fini. Seit dreißig Jahren begleitet ihn dieses Bild. Genauso lange sucht er das lebendige Ebenbild. Eigentlich hat er es schon gefunden. Ein sehr selbständiges Ebenbild.
Dabei kommt ihm in den Sinn, dass er ihr versprochen hat anzurufen, wenn er wohlbehalten angekommen ist.
Er greift nach seinem Handy.
Als sich der Anrufbeantworter einschaltet, trennt er sofort die Verbindung.
Nur jetzt nicht ihre Stimme hören. Tanner beschließt, einen Abendspaziergang zu machen.
Abendspaziergang? Das passt perfekt zu seinem neuen Leben als Zimmerherr.
Lesen, spazieren, lange Briefe schreiben. Kein Fernseher! Kein Nikotin! Das kann ja heiter werden.
Er schließt die Tür hinter sich und steigt die Holztreppe hinunter.
Rosalind begleitet ihn auf Schritt und Tritt.
Aus seinem Auto holt er sich ein letztes Käsebrot aus seinem Reiseproviant.
Er weiß nicht, ob er sich das Dorf anschauen oder lieber in Richtung des kleinen Friedhofs gehen soll, an dem er vorbeigekommen ist. Morgen das Dorf und jetzt den Friedhof. Eine Kirche, die er besichtigen könnte, gibt es ja nicht.
Unterdessen hat der Wind deutlich aufgefrischt, und Tanner schlägt den Kragen seiner Jacke hoch und vergräbt seine Hände tief in den Hosentaschen.
Nach ungefähr fünfhundert Metern steht er an dem Tor zu dem wohl kleinsten Friedhof, den er je gesehen hat. Der Friedhof ist nahezu quadratisch. Neun auf zehn Meter. Er ist von einer brusthohen Mauer umgeben. Dicht an der Mauer, das Tor flankierend, stehen zwei mächtige Bäume und einige Sträucher mit zartem Grün.
Ein Feldweg führt am Friedhof vorbei, windet sich weit in die brachen Felder und Wiesen, die oberhalb des Dorfes liegen. Die Felder werden in Richtung See von der Autobahn begrenzt, welche die Landschaft kategorisch durchschneidet. Jenseits dieser dick gezogenen Linie kann man die Häuser vom nächsten Dorf sehen und weit in der Ferne ahnt man den See.
Das Tor des Friedhofes ist verrostet und lässt sich nur mit einiger Anstrengung öffnen. Das laute Quietschen des Tores erschreckt ihn und schuldbewusst blickt er sich um. Er kann aber niemanden sehen. Gleichmäßig sind die Grabstätten verteilt. Alles ist sorgfältig gepflegt.
In der linken Ecke gibt es zwei Kindergräber. Beide Gräber sind noch nicht alt. Genau wie er es erwartet hatte. Die Erde scheint, vor allem bei dem einen Grab, wie vor wenigen Wochen frisch aufgeworfen. Die Blumen sind verwelkt. Bei dem anderen Grab liegt das Begräbnis schon etwas länger zurück, aber auch da fehlt noch der endgültige Grabstein.
Der Anblick von Kindergräbern macht ihn beklommen. Wie immer.
Ein Eindringling, der nicht das Recht hat, an diesen Gräbern zu stehen.
Bevor Tanner auf den provisorischen Holzkreuzen die Namen lesen kann, hört er ein Geräusch hinter den hohen Bäumen und Sträuchern, die außerhalb der Friedhofsmauern stehen. Aufgeschreckt stolpert er in Richtung Tor, fällt auf seine Knie, flucht leise vor sich hin und hört ein wildes Schnauben. Als er sich wieder aufrichtet, steht vor ihm ein mächtiges, rabenschwarzes Pferd.
Es steht unbeweglich da. Als ob es schon zu Lebzeiten in Bronze gegossen wäre. Aus seinen Nüstern bläst dampfender Atem. Das Pferd ist gesattelt und gezäumt, aber ohne Reiter. Die Zügel hängen lose herunter.
Wie heißt das Pferd von Alexander dem Großen?
Das Pferd ist überrascht, das heißt wohl eher konsterniert über den energischen Gestus, mit dem ihm die Frage gestellt wurde, so dass es weiter in seiner antik wirkenden Haltung verharrt. Da beiden die Antwort nicht einfällt, greift Tanner, mehr aus Verlegenheit denn aus tierpflegerischer Ambition, nach den Zügeln des Pferdes und überlegt sich eine nächste Frage, die er dem Pferd stellen könnte. Zum Beispiel, wie es komme, dass es allein, ohne Reiter, aber gesattelt, durch die Gegend irre und einsame Friedhofsbesucher erschrecke?
Das heißt, er wollte gerade diese nächste Frage stellen, als ein Geländewagen mit kreischenden Rädern angebraust kommt, jäh abbremst, zwei Männer aus dem Wagen springen und auf Tanner zustürmen.
Das Pferd erschrickt, und noch bevor Tanner reagieren kann, bäumt es sich auf und reißt ihn, der, ohne es wirklich zu wollen, die Zügel mit der Hand umklammert, in die Höhe. Sobald das Pferd wieder steht, ist der Jüngere der beiden Männer, ein Schwarzer, der seine rote Wollmütze bis tief auf die Augenbrauen hinabgezogen hat, bei Tanner und entreißt ihm die Zügel. Unsanft wäre eine schamlose Untertreibung.
Der ältere Mann stapft vorbei und schreit Tanner ständig etwas zu, was er aber nicht versteht. Eigentlich hört er ihn nicht einmal. Alles, was er wahrnimmt, ist ein sich ständig aufreißender Mund, wie in Großaufnahme.
Schnell hat der Schwarze das Pferd gebändigt.
Hinter den Bäumen hört man ein weinendes Kind. Die beiden Männer schreien sich etwas zu, was Tanner aber auch nicht versteht. Der Schwarze schwingt sich kraftvoll auf das Pferd und stiebt im wilden Galopp davon.
Jetzt kommt der andere Mann, der in der Zwischenzeit hinter der Baumgruppe verschwunden war, wieder hervor und zerrt an seiner Hand ein rotblondes Mädchen energisch hinter sich her. Sie weint und hat Blut an ihrer Stirn. Sie trägt Jeans, rote Lederstiefel und eine flaschengrüne Reiterjacke, wattiert und abgeschabt. In ihrer Hand hält sie einen schwarzen Reiterhelm. Das Mädchen ist nicht so jung, wie Tanner auf Grund des Weinens dachte. Er schätzt sie, jetzt, wo er sie sieht, auf siebzehn Jahre.
Hat sie sich verletzt?, fragt er einfallslos. Man sieht ja, dass das Mädchen blutet, und nicht zu knapp.
Der Mann antwortet ihm nicht und marschiert grimmig an ihm vorbei. Auf seiner Stirn leuchtet eine Narbe. Sie sieht aus wie ein Halbmond. Darüber trägt er wilde Haare von einem erstaunlich kräftigen Weiß.
Das Mädchen guckt Tanner im Vorübergehen an. Ihre Lippen zittern, als ob sie etwas sagen möchte.
Wieder reißt sie ihr Vater, oder Großvater, an der Hand. Während sie stolpert, lächelt sie leicht. Vielleicht hat sie auch nur, wegen des Stolperns, den Mund verzogen.
Der Mann bugsiert das Mädchen in den Fond des Geländewagens, umschreitet den Wagen, ohne Tanner eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, wendet und braust in Richtung der Autobahnbrücke.
Vor der Kurve leuchtet nur eines seiner Bremslichter auf. Dann ist er verschwunden. Eine Weile hört man noch den jaulenden Dieselmotor.
Dann fällt der erste Regentropfen.
Tanner betrachtet den Himmel. Ohne dass er es vorhin bemerkt hätte, hat die Windstärke zugenommen. Der Himmel ist mit dunklen Wolken bedeckt. Jetzt regnet es, und kurz darauf gießt es aus allen Kübeln.
Tanner schließt pflichtbewusst das Tor zum Friedhof und rennt zum Bauernhaus. Tropfnass erreicht er das Haus und stellt sich atemlos unter das Vordach. Die Garagentür steht immer noch offen. Seine Vermieter sind noch nicht zurückgekehrt. Er schaut durch die Glasscheibe der Haustür und zuckt zusammen.
Er blickt direkt in zwei dunkle Hundeaugen, die ihn unbeweglich anschauen. Der große Hund hat sich auf seine Hinterbeine gestellt, die Vorderpfoten gegen die Tür gestemmt und seine Augen fixieren ihn. Tanner schaut so lange, bis der Hund unsicher wird und sich wieder auf den Boden fallen lässt. Oder hat er seine Augenprüfung bestanden?
Bevor er die Außentreppe hinaufsteigt, zieht er seine nassen Schuhe aus. Die Katze erwartet ihn vor der oberen Tür und Tanner bringt es nicht übers Herz, sie wegzujagen. Also kommt sie mit in sein Zimmer. Sie lässt sich völlig selbstverständlich auf dem Bett nieder.
Weißt du, wie das Pferd von Alexander dem Großen heißt?
Ich habe es nämlich gerade gesehen und konnte es leider nicht korrekt ansprechen. Aha, du weißt es also auch nicht. Weißt du wenigstens, wie das rotblonde Mädchen heißt, das vom Pferd gefallen ist?
Statt einer Antwort streckt sich das kleine Tier und versenkt seine Krallen ins weiße Kopfkissen.
Erneut versucht er sie telefonisch zu erreichen. Diesmal lauscht er andächtig ihrer Stimme auf dem Anrufbeantworter. Nach dem Piepston unterbricht er die Verbindung.
Die zweite Tür seines Zimmers führt in einen Korridor, von dem noch zwei weitere Türen abgehen, und da befinden sich auch eine Toilette, eine Dusche und ein Lavabo. Er putzt seine Zähne und zieht sich aus. Sanft, aber entschieden schiebt er die Katze vom Kissen und legt sich ins Bett.
Ich taufe dich jetzt offiziell auf den Namen Rosalind. Any objections, mylady?
Er löscht das Licht. Zur Antwort leckt die Katze seine Nase und schnurrt ein Schlaflied mit unzähligen Strophen.
Draußen fällt der Regen und Tanner hört die Schweine. Also sind sie noch nicht geschlachtet. Er denkt an den Witz mit den beiden Hühnern von der Hühnerfarm. Sie wispern heimlich.
Hast du auch gehört? Wir dürfen irgendwohin in die Ferien!
So? Wohin denn?
Irgendwas mit Wien und einem Wald!
Tanner schließt die Augen und sieht das Pferd. Wie heißt du bloß?
Sieht die Augen auf dem Bild von Leonor Fini. Wo bist du?
Das blutende Gesicht des Mädchens. Tut's noch weh?
Die Augen des Hundes. Träumst du?
Die frischen Gräber. Seid ihr im Himmel?
Einen leuchtenden Halbmond. Warum so wütend?
Sein letzter Gedanke ist, dass es fahrlässig ist, seine Dienstwaffe einfach so im Auto zu lassen! Morgen. Morgen …