Читать книгу Tanner - Urs Schaub - Страница 5

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DREI

Die Jungs vom Nebenhaus bearbeiten ihre kleinen Trommeln. Oder haben sie sich von meinem Geld eine neue, größere Trommel gekauft?

Boumm … boumm … toktok … boumm … toktok …! Bei aller Liebe für ihre Trommelkunst, wir haben doch verabredet, dass sie nachmittags, während der Siesta, nicht trommeln. Immerhin hat mich diese Vereinbarung einiges gekostet. Boumm … boumm … toktok …

Himmel, ich bin ja nicht in Marokko. Es ist Karl, der heftig an die Tür klopft.

Simon! Der Portugies' ist da mit dem Auto. Er holt Sie ab. Zum Tee. Hören Sie mich?

Karl klopft. Jetzt rüttelt er an der Tür.

Ich komme! Ich habe es gehört! Ich bin wach! Sagen Sie ihm, dass ich in fünf Minuten bereit bin.

Tanner hat irgendwo eine Krawatte. Er sucht und findet. Sie hat ihm die Krawatte geschenkt. Das scheint jetzt eine gute Gelegenheit zu sein, sie einzuweihen. So schnell es geht, versucht er, einen Knoten hinzukriegen. Er zieht seine Jacke an und rast die Treppenstufen hinunter.

Es regnet in Strömen. Auf dem Vorplatz steht ein dunkelgrüner Geländewagen mit laufendem Motor und mit brennendem Licht. Aus seinem Auspuff kräuseln sich feine Rauchringe. Und nur ein Schlusslicht brennt!

Schau, schau, sagt er leise. Das Auto kenne ich doch!

Karl ist anscheinend wieder ins Haus gegangen, oder in den Stall.

Aus den Augenwinkeln sieht Tanner, dass in der Küche Licht brennt.

Vanille und Zitrone, singt es leise in ihm.

Mit großen Schritten erreicht er die Autotür, die sich jetzt öffnet. Er springt in den Wagen und schlägt die Tür zu. Das Auto startet sofort und er wird in den Ledersitz gepresst. Erst einige Atemzüge später kann er sich den Fahrer anschauen. Ein ungefähr sechzigjähriger, sehr kräftiger Mann. Unrasiertes Gesicht. Kurzes, schwarzes Haar mit grauen und weißen Einsprengsel.

Salz und Pfeffer, denkt Tanner. Und sein Charakter? Gelassenheit und Stärke?

Guten Tag, ich heiße Tanner. Danke, dass Sie mich abholen. Ich hoffe, wir sind nicht zu spät. Und wenn, ist es natürlich meine Schuld.

In diesem Moment schlittern sie um die leicht abschüssige Kurve beim Friedhof.

Deswegen müssen Sie aber nicht unser Leben aufs Spiel setzen!

Trockenes Lachen, schneller Seitenblick zu ihm.

Keinä Problema. Ich 'eiße Manuel.

Seine Stimme klingt nach mindestens fünfzig Zigaretten am Tag. Sie erreichen die kleine Brücke bei der Autobahn. Kein einziges Auto ist zu sehen. Glänzender Asphalt. Ein schwarzer Strom.

Eine dunkle Gestalt wankt ihnen auf der Straße entgegen. Sie kämpft mit einem großen Schirm gegen Wind und Regen.

Der Keinä-Problema-Manuel drosselt das Tempo. Tanner hätte eigentlich das Gegenteil erwartet. Manuel hebt die Hand zum Gruß, als die Frau auf der Höhe des Autos ist. Es ist die Frau, die Tanner heute Morgen auf dem Weg zum Friedhof gesehen hat, als sie Wegmarkierungsstangen einsammelte. Manuel bekreuzigt sich doch tatsächlich.

Sähr arme Frau. Kind kaputt!

Eine Stimme wie eine grobe Holzfeile. Aber man hört echtes Mitgefühl, trotz der Wortwahl.

Anna Lisa, sagt Tanner mitfühlend.

Manuel guckt ihn groß an und überfährt derweil fast eine Katze, die über die Straße rennt. Knapp entkommt sie ihrem vorschnellen Ende.

No! No! Nein! Vivian! Nicht Anna Lisa. Vivian! Anna Lisa von anderä Frau, auch sähr armä Frau!

Mittlerweilen sind sie bei einer Gruppe Häuser angekommen. Rechts von der Straße, wo das Gelände leicht gegen einen Bach abfällt, der von bulligen Weiden mit abgesägten Zweigen gesäumt wird, befinden sich Stallungen.

Links eine stattliche Villa mit französischem Charme und einem großen Walmdach. Dicht neben der Villa lugt ein kleines Haus zwischen den Bäumen hervor, bei dem sämtliche Fensterläden geschlossen sind. Beide Häuser sind ziemlich alt. Tanner schätzt achtzehntes Jahrhundert. Die Villa ist von einem sorgfältig gepflegten Garten umgeben. Eine mit Efeu bewachsene Mauer umschließt auf drei Seiten das Haus. Weiter oben, wo das Gelände sanft ansteigt, ein großer Hof.

Ruth M. hat wirklich nicht übertrieben!

Mächtige Scheune. Modernes, nicht besonders schönes Wohnhaus, mit drei Stockwerken. Viel Geld, wenig Geschmack! Remisen. Stallungen. Große Futtersilos.

Die Silos sind, denkt Tanner, neben den Traktoren die Statussymbole der heutigen Bauern. Gleich riesigen Phalli stehen sie und künden weit sichtbar von der Potenz ihrer Besitzer. Wenn diese Gleichung stimmt, dann ist hier verschwenderisch viel Potenz vorhanden.

Der Wagen hält vor dem Eingang der Villa. Manuel bedeutet Tanner auszusteigen und steckt sich eine Zigarette zwischen die rissigen Lippen.

Wie Tanner ihn beneidet.

Hasta la vista. Gracias!

Tanner merkt zu spät, dass es die falsche Sprache ist.

Keinä problema, heisert Manuel und zündet sich seine Zigarette an.

Als Tanner aussteigt, kommt ihm ein unglaublich dicker Zwerg mit einem kolossalen Regenschirm entgegen. Er rollt ihm entgegen! Sein kugelrunder Kopf hat die Farbe und Zartheit eines frisch geborenen Babys. Alterslos. Damit Tanner unter seinen Schirm passt, muss der Zwerg sich auf die Zehenspitzen stellen und zusätzlich den Arm ausstrecken, und immer noch muss Tanner sich bücken, um mit seiner Länge unter den angebotenen Regenschutz zu passen.

Bonjour, hellöu, bien venue, willkömmin ijn där Vor'ölle. Isch 'offe, Ihro wärtä Dürschlaucht sind auf Ihro exécution säälisch préparé, flötet der Zwerg sein Willkommen.

Nach der Holzfeile ist jetzt die Reihe an der kugeligen Falsettflöte!

Madame 'add Ihrä Föltärwerkzöige déjà sur la tavola.

Das ganze Kauderwelsch begleitet der Zwerg mit ausdrucksstarker, theatralischer Mimik, als ob er nicht bloß den Tanner überzeugen wollte, sondern irgendwelche unsichtbaren Zuschauer in der letzten Reihe eines großen Theaters. Und das im strömenden Regen.

Dije Altä ijst 'eute ganss bäsöndärs fröindlisch, also, isch sagä nür: Attenzione. Dann ijst sie gäfäährlisch!

Beim letzten Satz zieht er Tanner an seinem Ärmel zu sich runter und flüstert ihm das gäfäährlisch ins Ohr. Sein Atem riecht nach Marzipan.

Isch bijn Honoré, gänannt la boule! Där Bötlär! Nijscht där Gärtnär! Där Bötlär! Und jätzt fölgän Sie mijrrr, wänn sie mijrrr fölgän konntän, ssönst müssän Sije die Fölgän selbär trag'n.

Isch bijn Dannär! Simön Dannär! Den Martini bittä gärührrrt und nischt geschüttält, sagt Tanner, nur um auch einmal etwas zu sagen.

Der Zwerg setzt sich mitsamt Schirm und Tanner in Bewegung. Das heißt, er kommt ins Rollen, der Tanner ins Stolpern und sagt leichthin über seine Kugelschulter einen verblüffend klaren Satz. Aber das weiß ich doch längst!

Unter dem Vordach aus Glas, das die drei Steinstufen vor der Haustür überdeckt, schüttelt der Zwerg mit einer gewaltigen Eruption den Schirm und schließt ihn mit einer Eleganz, die Tanner diesem Körper nie zugetraut hätte. Der Griff des geschlossenen Schirmes reicht ihm bis über seine Augenhöhe.

A l'attaque, Mistär Bönd! Miss Mönij Pänny 'add 'eute malheureusement fräi, isch bringä Sie sälbär zü M, sagt der kleine Kugelmann verschmitzt und sie betreten die geräumige Eingangshalle.

Alte Steinfliesen in Schwarz und Weiß bedecken den Boden. An den Wänden hängen Waffen aller Art. Morgensterne, Hellebarden, Lanzen, große Landknechtsschwerter. Mitten in der Halle steht am Boden eine Kanone. Ihr Lauf ist freundlicherweise genau auf die Eingangstür gerichtet, so dass jeder, der eintritt, gleich als Erstes in eine Kanonenmündung blickt.

Wer die Strecke zwischen Eingangstür und Kanone lebend hinter sich bringt, erreicht eine breite Steintreppe, die in das obere Stockwerk führt.

Links und rechts von der Treppe führen zwei symmetrisch angelegte Gänge in die Tiefe des Hauses. Mitten im Raum hängt ein antiker Eisenleuchter, direkt über der Kanone, an dem nur jede zweite Glühbirne brennt.

Reiche Leute sind sparsam, denkt Tanner und hört gleichzeitig, gedämpft aus der Tiefe des Hauses, dass jemand Klavier spielt.

Angesichts der pompösen Eingangshalle denkt er sofort an einen großen Konzertflügel in einem luftig hellen Salon, in dem ein romantisches Kaminfeuer knistert. Er sieht wertvolle Bücher bis unter die Decke, bequeme Sofas und Fauteuils, alten Cognac in bauchigen Gläsern, in denen sich das knisternde Kaminfeuer widerspiegelt, Damen mit tief ausgeschnittenen Dekoll …

Träumen Sie nicht, Tanner! Nehmen Sie die Wolldecke und folgen Sie mir!

Honoré, der Zwerg, hält ihm tatsächlich mit seinen kurzen Ärmchen eine Wolldecke hin. Er hat sich unterdessen seines schwarzen Umhangs oder Mantels, den er draußen trug, entledigt. Auch seines Kauderwelschs.

Er steht, mit einer maßgeschneiderten Butleruniform, oder so was Ähnlichem, vor Tanner. Allerdings ist zu befürchten, dass der Schneider, der hier am Werk war, schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Tanner nimmt die Wolldecke, aus Schweizer Armeebeständen, und klemmt sie sich unter den Arm.

Honoré, genannt la boule, steuert auf den linken Gang zu, der nicht erleuchtet ist, und vage erkennt man weitere schimmernde Waffen an den Wänden. Die ostasiatischen Abteilung. Linker Hand des Ganges befinden sich drei Holztüren. Die Türgriffe aus Messing leuchten matt in der Dunkelheit.

Der Zwerg hält vor einem dunklen, schweren Vorhang inne, dreht sich um, legt seinen Miniaturfinger auf seine Lippen.

Pst!

Tanner kann ihn nur noch schemenhaft erkennen, so dunkel ist es. Der Zwerg nestelt links an der Wand irgendwas, und das Klavierstück, das Tanner kennt, aber leider nicht erkennt, bricht ab. Wahrscheinlich hat der Zwerg eine in der Wand eingelassene Klingel bedient.

Gerade will Tanner ihn fragen, ob er vor der exécution, wie der Zwerg es vorhin nannte, nicht noch schnell auf die Toilette gehen könnte, als der sich wieder umdreht und die Nummer mit dem Pst wiederholt.

Gottergeben schweigt Tanner und harrt der Dinge, die da kommen. Er hätte besser die Flucht ergriffen. Jetzt wäre es gerade noch möglich gewesen.

Unvermittelt teilt der Zwerg den Vorhang und zieht ihn am Ärmel in den Raum. Hat er auf zehn gezählt?

Hier ist es aber ziemlich kühl, ist Tanners erster Gedanke und er ersetzt sofort in dem Satz, reiche Leute sind sparsam, das Wort sparsam durch geizig.

Dann sieht er tatsächlich den Flügel. Das heißt, er sieht zwei Kerzenstummel, die links und rechts von den Notenblättern flackern. Am Flügel sitzt niemand. Der Zwerg ist verschwunden, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Außer den beiden Kerzen gibt es keine Lichtquelle.

Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Tanner steht in einem großen Salon. Schwere Vorhänge schließen das Tageslicht aus. Roter Samt? Stattliche Möbel stehen ohne erkennbare Ordnung herum. Die meisten sind mit Tüchern bedeckt. Tatsächlich gibt es einen Kamin, aber es brennt kein romantisches Feuer darin. Abgesehen von der Romantik, hätte der Raum gut einen wärmenden Beitrag an seinen Klimahaushalt vertragen. Tanner fröstelt und ihm dämmert die Bedeutung der Wolldecke.

Wollen Sie noch lange so rumstehen, oder haben Sie Hämorrhoiden?

Die Stimme kommt aus der Tanner diagonal gegenüberliegenden Ecke des Raumes und er macht ein paar Schritte in diese Richtung.

Die Stimme, die ihn angesprochen hat, war gar nicht so unangenehm. Befehlsgewohnt ja, aber nicht unangenehm. Als Eröffnung findet Tanner die Frage etwas ungewöhnlich. Aber bitte!

Danke für Ihre fürsorgliche Nachfrage. Sie kennen sich aus mit diesem Problem? Ich habe im Moment wohl eher ein Augenleiden, denn ich sehe Sie schlecht bis gar nicht. Im Übrigen heiße ich Simon Tanner und bin gestern auf dem Marrerhof, bei Ruth und Karl, eingezogen.

Stille. Dann ein geradezu herzerfrischendes Lachen. Aber worüber?

Gut! Sie können parieren und lassen sich so schnell nicht einschüchtern! Gut!

Schön wär's, denkt er.

Kommen Sie, setzen Sie sich endlich.

Sie schlägt mit ihrem Stock auf den Tisch.

Tanner geht näher und sieht jetzt eine hochgewachsene Frau an einem runden Tisch sitzen.

Eine dicke Samtdecke bedeckt den Tisch. Vermutlich Ochsenblutrot. Der Saum reicht bis auf den Boden.

Seine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit.

Sie hat weißes Haar, das streng nach hinten geknotet ist. Die Haut spannt sich regelrecht über ihren Schädel und ihre hellwachen Augen blicken ihn neugierig an. Tanner ist sich sicher, dass sich früher die Männer scharenweise nach ihr umgedreht haben.

Die Samtdecke hat sie auf ihrer Tischseite bis weit über ihre Knie hochgezogen. Mit ihrer Linken hält sie den Zipfel der Decke in ihrer knochigen Hand.

Sie müssen entschuldigen, ich bin gleich fertig!

Mit mir?

Tanner verkneift sich diese Frage und sagt stattdessen, wohlwissend, dass nicht sie Klavier gespielt hat. Mit diesen Händen …

Sie haben sehr schön Klavier gespielt. Ich komme leider nicht drauf, was Sie gespielt haben.

Sie lacht wieder ihr lautes Lachen.

Das war jetzt unter Ihrem Niveau, Tanner! Sie wissen genau, dass nicht ich Klavier gespielt habe. Schauen Sie sich doch meine Hände an! Eigentlich wollten Sie fragen, wer gespielt hat? Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Sie erhebt sich, stützt sich dabei auf ihren Stock, behält dabei aber weiterhin die Tischdecke in der Hand und ruft mit lauter Stimme.

Zwerg! Wo bleibst du? Wart nur! Hast du mich vergessen?

Tanner hört hinter sich ein Geräusch und schon schießt die uniformierte Kugel an ihm vorbei, nimmt den Stuhl weg, auf dem die Alte bis jetzt gesessen hat.

Isch bijn ja da. Nür käinä Aufrägüng, Madame!

La boule ijst niemand, där värgisst!

Schon gar nischt, wenn Madame gepisst.

Isch bringä jätzt zu Hinz und Künz,

Ihrän gold'nän, teurän Brünz.

Um Millimeter nur verpasst der niedersausende Stock den Rücken des Zwerges. In dem Stuhl, den Honoré an Tanner vorüberträgt, ist ein Gefäß eingelassen, in dem hörbar Madames Wasser plätschert.

Während die Alte ihren Rock glatt streicht, offensichtlich trägt sie keine Unterwäsche, oder Tanner versteht ihre Technik nicht, hört er draußen im Gang weitere Dichterworte des großen Honoré. Leider versteht er nur noch den Anfang der nächsten Zeile. Aliäs Läbän fließt in ruhigär Bahn,

Seulement Madame und ihr Galan …

Der Rest verliert sich leider in der Ferne. Tanners Sympathie für den kleinen Gnom wächst von Minute zu Minute.

Die Alte greift unter den Tisch und bringt eine Literflasche Kölnisch Wasser zum Vorschein. Mit einem: Wollen Sie auch, Tanner?, bietet sie ihm die Flasche an. Und mit einem: Danke, ich habe schon!, wehrt er entschieden das Angebot ab. Lieber wäre ihm jetzt eine Zigarette.

Und wo bleibt der angekündigte Tee, fragt er sich still.

Eine Wolke des wohl billigsten Kölnisch Wassers, das er je gerochen hat, umhüllt sie jetzt.

Gibt es für geizig noch eine Steigerungsform? Vielleicht schwergeizig? Analog zu schwerreich.

Sie stellt das Kölnisch Wasser wieder weg und knallt hintereinander zwei weitere Flaschen auf den Tisch.

Wollen Sie Malaga oder Orangensaft?, fragt sie und schaut ihn prüfend an.

Tanner kommt sich vor wie Bassanio in Belmont, der sich für die goldene, silberne oder bleierne Kassette entscheiden muss und dessen zukünftiges Glück – Liebe und Kapital – von der richtigen Wahl abhängt. Die silberne Kassette, das Kölnisch Wasser, hat er ja bereits abgelehnt.

Es bleibt die alles entscheidende Frage: Gold oder Blei?

Er entscheidet sich demütig für das Blei, wie der kluge Bassanio, der mit dieser Antwort alles gewann …

Trinken Sie keinen Alkohol? Wie fad!

Tanner bereut natürlich sofort seine Entscheidung, aber schon kommt Honoré mit zwei großen Wassergläsern angerollt und schenkt ihm zwei Fingerbreit Saft ein.

Gerührt und nicht geschüttelt, sagt er leise zu ihm und trollt sich wieder.

Die Alte schenkt sich selber ihr Glas randvoll mit Malaga ein und prostet ihm zu. Sie leert in einem Zug mindestens die Hälfte des Glases und greift noch einmal unter den Tisch.

Zum Vorschein kommt ein buschiger Kater, den sie sich auf ihren Schoß setzt. Der Kater glotzt Tanner an.

Ein Glück, dass seine neue Katzenfreundin Rosalind nicht hier ist! Dieses Monsterexemplar von Kater würde sie nicht mögen. Obwohl man sich in der Hinsicht ganz gewaltig täuschen kann!

Die Alte krault den Kater hinter den Ohren. Die Stelle müsste eigentlich längst wund sein, so wie sie krault. Dann spricht sie das erste Mal den Namen aus.

… Ah … wie meinen Sie, äh … das jetzt? Tanner ist verdattert.

Sie wollten doch vorhin ganz schlau herausfinden, wer Klavier gespielt hat. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Mit einem zweiten Schluck leert sie ihr Glas.

Wenn sie ihr Glas gleich nachfüllt, kann Honoré bald wieder den Spezialthron bringen, denkt Tanner, um sich abzulenken. Er macht in dem Moment nicht sein intelligentestes Gesicht. Er lockert die Krawatte und wiederholt einfältig noch einmal den Namen.

Rosalind? Ach so, Rosalind! … äh … sie hat Klavier gespielt? Und wer ist, äh … Rosalind, wenn ich fragen darf?

Jetzt fühlt er eine Wärme im Gesicht. Zum Glück ist es hier so dunkel. Tanner denkt an rotblonde Haare und an ein ovales Gesicht …

Rosalind ist meine Enkelin, sie hat Klavier gespielt. Ist das zu schwierig für Sie zu verstehen, Tanner?

Nein, nein, ich verstehe schon, beeilt er sich zu sagen.

Verstehen schon, aber ich kann es nicht so richtig fassen, denkt er und findet es irgendwie gemein, dass sein Gesicht nicht abkühlt. Deswegen habe ich Sie auch hergebeten, Tanner!

Pause. Der Kater gähnt.

Ich höre, dass Sie gestern das Pferd, das meine Enkelin abgeworfen hat, eingefangen haben. Dafür möchte ich mich bedanken.

Diesen Sidian, dieses Saubiest, einzufangen, dazu gehört was, das muss ich sagen. Das würde sich nicht jeder trauen. Es ist außerdem ein wertvolles Tier. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, ohne Ihr mutiges Eingreifen. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

Also, wissen Sie, es war …!

Schweigen Sie, Tanner! Ich bin noch nicht zu Ende!

Tanner schweigt und nippt an seinem Saft.

Meine Enkelin hatte keine Erlaubnis, mit diesem Pferd zu reiten, weil es noch nicht fertig eingeritten ist. Verstehen Sie etwas von Pferden? Nein! Das habe ich mir gedacht.

Er hat eigentlich weder Ja noch Nein gesagt, aber sie ist nicht zu bremsen.

Umso mehr Respekt. Und weiter habe ich gehört, dass mein Sohn nicht gerade höflich zu Ihnen gewesen ist.

Wieder versucht er dazwischenzugehen.

Nein, nein, lassen Sie, Tanner. Ich kenne meinen Sohn. Höflichkeit gibt's nicht in seinem Repertoire. Er hat sich gestern sicher saumäßig benommen. Stimmt's? Oder habe ich Recht? Würden Sie von mir eine Entschuldigung für sein Verhalten akzeptieren?

Er ist leider heute geschäftlich unterwegs, sonst würde er sich selber entschuldigen.

Jetzt sind Sie unter Ihrem Niveau, Madame. Der Mann, den ich gestern gesehen habe, der würde sich nie und nimmer entschuldigen. Er behält den Gedanken für sich.

Selbstverständlich, Madame, sagt Tanner stattdessen laut und deutlich. Und macht Anstalten aufzustehen.

Sitzen bleiben, Tanner! Die Audienz ist noch nicht beendet! Trinken Sie noch Saft! Zweeerrg …!

Bevor er abwehren kann, ist Honoré schon wieder mit der Flasehe zur Stelle. Während er ihm Saft einschenkt, er muss sich dafür auf seine Zehenspitzen stellen, sagt er ganz sanft, nahe an Tanners Ohr.

Sie ist die Sonne auf dem Mondhof.

Bevor er nachfragen kann, wer die Sonne ist, faucht die Alte den Zwerg an.

Verschwinde, imbécile! Und droht mit dem Stock.

Schweigend schauen sie sich in die Augen. Sie massiert dabei immer noch die schwarze Katze zwischen den Ohren. Tanner weicht ihrem Blick nicht aus.

Warum sind Sie eigentlich bei der Ruth eingezogen, Tanner?

Aha, das ist des Pudels Kern, denkt er und überlegt sich, welche Geschichte er zum Besten geben soll.

Ach, wissen Sie, ich bin ein sentimentaler Städter, der lange Zeit im Ausland gearbeitet hat, jetzt zurück in die Schweiz kommt, etwas Erspartes auf der hohen Kante hat. Bevor ich mich entscheide, was weiter mit meinem unbedeutenden Leben geschehen soll, will ich mir einen alten Traum erfüllen, nämlich einmal auf dem Land zu leben. Ein bisschen schreiben, spazieren, wilde Pferde einfangen und so weiter.

Tanner trägt dies alles mit dem sonnigsten Lächeln vor, zu dem er bei diesen Zimmertemperaturen fähig ist.

Sie schweigt etwas zu lange, als dass er denken könnte, sie würde ihm glauben. Obwohl er eigentlich die Wahrheit gesagt hat. Beinahe.

Gut, Tanner, ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen!

Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schließt die Augen. Ihre Hand auf dem großen Kopf der Katze bewegt sich nicht mehr. Auch der Kater hat seine Augen geschlossen.

Plötzlich spricht Honoré leise. Tanner hat ihn nicht kommen hören.

Pst! Kommen Sie. Madame will jetzt schlafen. Manuel fährt Sie zurück.

Er nimmt ihm die Wolldecke ab und sie gehen leise aus dem Salon.

Zurück im Korridor, der jetzt erleuchtet ist, sieht man tatsächlich japanische Schwerter an der Wand hängen.

Falls es nicht mehr regnet, möchte ich ganz gerne zu Fuß gehen. Es hat aufgehört. Es würde sogar ein bisschen die Abendsonne scheinen. Wenn sie nicht schon untergegangen wäre!

Das Wort Sonne betont Honoré ganz übertrieben und Tanner befürchtet schon, der Zwerg falle wieder in seine Falsett-Kauderwelsch-Nummer zurück. Der steckt ihm aber einen Zettel in die Hand und ein letztes Mal legt er den Finger auf seinen Mund.

Pst!

Und leise singt er zum Abschied. Aufwiederschön … aufwiederschön!

Er geleitet Tanner bis zur Tür und hebt zum Gruß seine kleine Hand.

Ach, und ich wollte doch die Alte fragen, wie das Pferd heißt, seufzt Tanner und schaut nach, was auf dem Zettel steht, den ihm Honoré zugesteckt hat.

Morgen, Friedhof, 17.00 Uhr. Bitte!

Unterschrift: R.

Tanner

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