Читать книгу Tanner - Urs Schaub - Страница 8
ОглавлениеSECHS
Tanner quält den weißen Kombi durch den trägen Sonntagsverkehr und appelliert inständig an Unbekannt, dass die Anzeige der Benzinuhr stimmt.
Wer immer für solche Anliegen zuständig ist …
Endlich erreicht er die Autobahnzufahrt.
Noch eine Verhandlung über seine zu Hause vergessenen Geldmittel würde der nächste Verhandlungspartner bei eventueller Weigerung nicht heil überstehen. Tanners Hungergefühl wandelt sich allmählich in Übelkeit und der Druck in seiner rechten Bauchhöhle meldet auch wieder Bedenkliches.
Der Messpegel seiner Laune erreicht einen neuen Tiefstand. Schlimmer hätte er die Sache mit Emma nicht vermasseln können. Mit ein wenig mehr Gedüld und Einfühlung hätte er sie erstens nicht schon wieder enttäuscht, und zweitens hätte sie bestimmt die Informationen beschaffen können, um die er sie angebettelt hat.
Außerdem hätte er wirklich gerne ihre Anna kennen gelernt. Und überhaupt, wer weiß … ?
Aber Emmalein ist sicher längst wieder mit einem braun gebrannten Staranwalt liiert, dem sie heute Nacht im Bett zwischen zwei Orgasmen Anekdoten über den lächerlichen Tanner erzählt. Er hört ihr Lachen bis in dieses nach Kuhscheiße stinkende Auto, ha, ha …!
Ob Emma diesen Geruch an ihm gerochen hat? Oder seine Tänzerin? Die hätte zwar sofort ihr Luxusnäschen verzogen.
Tanner, du verzettelst dich!
Er tritt aufs Gas. Mal schauen, was in dem Opel steckt! Schluss mit dem Rumgetrödel!
Außerdem rückt die Zeit unaufhaltsam in Richtung fünf Uhr.
Da Tanner ja heute ein Auto mit Schweizer Nummer fährt, sind die Blicke der Autofahrer, die gemächlich und stur auf der Überholspur Ferien machen und die er per Lichthupe nach rechts nötigt, nur im ganz einfachen Sinne tödlich gemeint. Was hatte er dagegen für eine Palette von Blicken und fantasievollster Gesten gesehen, als er am Freitag die gleiche Strecke mit seinem Auto fuhr, das immer noch eine marokkanische Nummer führt. Er hat zwar seit Marokko mehr als ein Vierteljahr bei Freunden in der neuen Hauptstadt des wieder vereinigten Landes gelebt, aber er konnte sich nicht überwinden, sich von seinem geliebten von Hand gemalten Nummernschild zu trennen. Dort war das auch egal.
Ah …! Vielleicht ist das der Grund für die zerstochenen Reifen!
Darüber hatte er tatsächlich noch keinen einzigen Moment nachgedacht, obwohl es doch eigentlich nahe liegt. Aber wir sind doch im Land der Freiheit und Demokratie …
Er wird in den nächsten Tagen sein Auto dringend brauchen, denn er muss in der Gegend rumfahren. Spuren sammeln. Deswegen ist er ja hergekommen.
Verzettle dich nicht, Tanner!
Er haut auf das Steuerrad.
Der Rentner, den er gerade in seinem auf Hochglanz polierten Renault überholt, fühlt sich von der Geste angesprochen und zeigt ihm den Vogel.
Auch gut! Lieber einen Vogel in der Birne als gähnende Leere!
Debakel hat Emma sein Marokkoabenteuer genannt. Gut. Das ist auch nicht übel!
Um ihr begreiflich zu machen, was in Marokko geschehen ist, müsste sie ihm ihr schönes Ohr und ihre Aufmerksamkeit schon etwas länger zur Verfügung stellen als eben vorhin im Restaurant am See. Nicht dass er sich selber kein Versagen ankreidete, aber das Ganze ist viel zu kompliziert, um es einfach mit dem Wort Debakel abzukanzeln. Und zu schmerzhaft. Er hat Menschen enttäuscht. Er hat sich enttäuscht. Er hat Fatima, der Tochter von Khadjia, ein Versprechen gegeben.
Ich werde es einlösen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!
Wieder schlägt er auf das Steuer, diesmal fühlt sich niemand direkt angesprochen. Falls es überhaupt jemand bemerkt hätte, würde er denken, Tanner erregt sich wegen des Staus, in dem er seit zwei Minuten steckt.
Die Sache in Marokko ging so lange gut, wie er brav seine verabredete Arbeit gemacht hat. Tanner hat mit einer Reihe anderer ausländischer Berater eine Koordinationsstelle für internationale Polizeizusammenarbeit aufgebaut, bezahlt mit harten Dollars von der UNO. Vom Auswählen der Räumlichkeiten, der Beschaffung der Büro-Einrichtungen, der Rekrutierung und Schulung von Personal bis zu der Installierung der ganzen komplizierten, elektronischen Ausstattung: alles haben sie gemacht. Und als die Abteilung zu funktionieren begann, brauchte man jemanden, der die ganze Geschichte noch eine Weile überwachte. Die anderen Kollegen wollten schleunigst nach Hause zu ihren Familien nach England, Italien, Frankreich. Tanner war der Einzige, der nicht weg wollte. Er hatte sich in das Land verliebt. In seine Düfte, seine Landschaft, sein Chaos. Und er hatte sie, seine Tänzerin, dort kennen gelernt, als sie bei ihren schwulen Bewunderern zu Besuch war.
Und er war verliebt in das Essen von Khadjia, seiner Köchin, in ihre tajine, das kochend heiß servierte Eintopfgericht. Oder in ihre unvergesslichen Pfannkuchen. Ihre hachischa. Eine Haschischkonfitüre, die stundenlang auf ihrem kleinen Gaskocher köchelte und deren Duft das ganze Haus erfüllte.
Mein Gott! Habe ich einen Hunger !
Das Wasser läuft ihm buchstäblich im Munde zusammen, wenn er sich all die Speisen vorstellt, die Khadjia Tag für Tag für ihn kochte. Er war die ganze Zeit, wo sie bei ihm war, nie in einem Restaurant essen. Sie hätte ihn auf der Stelle mit ihren dicken Armen erwürgt.
Khadjia war ganze vierzehn Jahre, als sie das erste Mal schwanger wurde. In Afrika keine Ausnahme. Allerdings haben sich auch dort die Zeiten geändert. Fatima, ihre erste Tochter, hat ihr erstes und einziges Kind Fawzia erst mit neunzehn Jahren geboren.
Fawzia war ein auffallend hellhäutiges Mädchen mit dunklen, sehr ernsthaften Augen und einem widerspenstigen Haarschopf, den ihre Mutter und Großmutter mit vereinten Kräften vergebens zu bändigen versuchten. Der Vater von Fawzia war kurz vor ihrer Geburt bei einem tragischen Unfall im marokkanischen Militär umgekommen. Fatima half ihrer Mutter oft in seinem kleinen Haushalt. Sie bügelte seine Hemden, putzte das kleine Haus und kümmerte sich liebevoll um all die vielen Pflanzen, die ohne sein Dazutun ins Haus kamen und es immer mehr in ein Gewächshaus verwandelten. In großen und kleinen Töpfen, auch in ausgedienten Waschzubern, wuchsen Rosen, Wicken, Bougainvilleen, Dahlien, Jasmin und viele andere Gewächse, deren Namen er sich nie merken konnte.
Wenn beide Frauen beschäftigt waren, und er hatte sie kaum einmal unbeschäftigt gesehen, saß die kleine Fawzia still am Boden bei ihm im Arbeitszimmer, malte oder spielte mit den einfachen Spielsachen, die er ihr nach und nach vom Bazar mitbrachte. Sie war damals sechs Jahre alt. Später zog ihre Mutter mit dem Kind in den Norden, nach Tetouan, wo sie Arbeit in einer Fabrik gefunden hat.
Tanner hat Fawzia erst wieder ein Jahr später gesehen.
Als kleinen Leichnam.
Man fand sie, nachdem sie vermisst wurde und die Polizei drei Wochen vergeblich nach ihr gesucht hatte, in einem Koffer in der Gepäckaufgabe.
All ihre Gliedmaßen waren fachmännisch vom Körper abgetrennt und nachträglich wieder angenäht worden. Ihre dunklen Augen fehlten.
Seither kochte Khadjia zwar noch für ihn, sprach aber kein einziges Wort mehr.
In den Zeitungen verschwieg man diese schrecklichen Manipulationen an dem kleinen Körper, um die Menschen nicht zu erschrecken. Es war das dritte Kind, das man so massakriert in einem Koffer gefunden hatte. Alles auffallend hellhäutige Mädchen.
Tanners Probleme in Marokko fingen erst an, als er sich in die Untersuchungen dieser Mordfälle einzumischen begann. Dies stand allerdings wirklich nicht in seinem Pflichtenheft.
Auf der Umfahrungsautobahn der Hauptstadt herrscht dichter Verkehr.
Kurz nach halb fünf Uhr, also früher als er befürchtet hat, erreicht er den kleinen See und das neu renovierte Schloss, das hinter noch unbelaubten Bäumen nur dürftig versteckt ist, biegt nach rechts in die Straße, die ins Dorf zu Ruth und Karl führt.
Er entscheidet sich angesichts der Uhrzeit, vor seinem Rendezvous nicht zum Hof zu fahren.
Kurz nach dem Schloss hält er den Wagen an und beschließt, hier zu warten. Vierhundert Meter vor ihm liegt das Gut und die Villa der Finidori.
Warum Rosalind ihn heimlich um ein Treffen bittet?
Und welche Rolle spielt Honoré in dieser Familie? Er wird bald mehr wissen!
Der Himmel hat auch hier aufgeklart, aber der Boden ist immer noch nass.
Er schließt seine Augen. Den Hunger spürt er nicht mehr. Dafür ist der Druck in seinem Bauch umso deutlicher geworden.
Wie soll er heute Abend Ruth begegnen? Er hat nicht die leiseste Ahnung. Um sich diesem Problem nicht weiter stellen zu müssen, öffnet er die Augen.
Gerade noch rechtzeitig.
Er sieht, wie vorne auf der Straße, etwa auf der Höhe der Villa, ein schwarzer Punkt die Straße überquert, ein paar Schritte in seine Richtung kommt und plötzlich einen kindlichen Hüpfer macht. Als ob er eine Pfütze überspringen würde.
Das ist doch Honoré, entschlüpft es überrascht seinen Lippen.
Er sieht zwar die Gestalt nur undeutlich, aber die Bewegung, die Art des Hüpfens und die rudernden Arme bei dem kleinen Hopser verraten eindeutig den Zwerg. Jetzt biegt er nach links in die kleine Straße ein, die zum Bach mit den Weiden hinunterführt beziehungsweise zu einem weiteren Hof mit Stallungen. Der hohe, viereckige Turm, der davor, mitten auf einer Wiese, steht, ist ihm gestern gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich, weil sein Blick bei der Herfahrt nur auf die Villa konzentriert war, die von hier aus gesehen, rechts von der Straße, liegt. Honoré geht jetzt in die Wiese, in Richtung des Turms. Einen Weg kann man, wegen der Perspektive, nicht ausmachen. Was will er denn in diesem alten Turm? Der alte Kornspeicher ist eine Art mittelalterliches Vorgängermodell zu den modernen Silos.
Der Zwerg ist mittlerweile hinter dem Turm verschwunden. Man kann nicht sehen, ob er in den Turm hineingegangen oder ob er hinter dem Turm einfach stehen geblieben ist.
Tanner startet den Motor. Auf der Höhe des Turms hält er kurz an. Die Wiese zwischen Bauernhof und Turm ist leer.
Ein schmaler Pfad verbindet tatsächlich die Straße mit dem Kornspeicher.
Auf dieser Seite des Turms befindet sich ein Eingang ohne sichtbare Tür. Entweder ist sie nach innen geöffnet oder es gibt keine. Von Honoré keine Spur.
Der kleine Hof gegenüber des Turms sieht unbewohnt aus. Entweder ist Honoré im Turm verschwunden. Oder in dem kleinen Bauernhaus. Dann hätte er allerdings mitten auf dem Weg zwischen Turm und Haus rechtsumkehrt machen müssen, und das ist eher unwahrscheinlich.
Diesen Turm schaue ich mir später an, beschließt Tanner. In diesem Moment braust vom Dorf her der grüne Geländewagen heran.
Auf der Höhe der Einfahrt zur Villa wird der Wagen energisch nach rechts gesteuert und mit kreischenden Rädern verschwindet der Wagen in der Einfahrt des Gutshofes.
Keinä Problema …, kichert Tanner vor sich hin.
Manuel hat allerdings nicht allein im Wagen gesessen. Da waren einige Personen im Auto, aber es ist einfach zu schnell gegangen, um mehr zu erkennen.
Beim Friedhof fährt Tanner den weißen Kombi auf den Feldweg und stellt ihn hinter die Baumgruppe, so dass man ihn weder vom Dorf noch von der Straße sehen kann.
Es ist drei Minuten vor fünf Uhr und man sieht niemanden.
Hoch oben in den Ästen singt der Kuckuck wieder seinen ewigen Text. Kuckuck … Kuckuck …! Oder heißt das vielleicht Guckguck … Guckguck?
Tanner steigt aus dem Auto und guckt! Sieht aber rein gar nichts! Guckguck … Guckguck!
Er blickt angestrengt auf den Weg, den Rosalind kommen müsste.
Und wenn sie nicht kommt?
Siedend heiß wird's ihm bei der Frage. Vielleicht hat sich der Zwerg einfach nur einen bösen Streich mit ihm ausgedacht. Ihn dabei so unangenehm genau einschätzend, dass es ihn fröstelt, und er denkt an die Falle, die man ihm in Marokko gestellt hat. Ein Kreislauf von sich ständig wiederholenden Ereignissen auf Grund der zwanghaften Verhaltensweisen von Tanner!
Tanner lächelt gequält vor sich hin.
Er öffnet nun zum dritten Mal innerhalb von zwei Tagen das rostige Friedhofstor. Ein unwissender Beobachter würde bestimmt denken, der spinnt doch.
An der linken Innenseite der Friedhofsmauer kauert Rosalind. Der Kuckuck fliegt davon.
Sie ist genau gleich gekleidet wie gestern, nur ohne Reiterhelm in der Hand. Auf ihrer Stirn klebt ein weißes Pflaster. Sie starrt auf den Boden, obwohl sie ihn ganz bestimmt hat eintreten hören. Steinerne Trauerengel, wie man sie auf italienischen Friedhöfen antreffen kann, blicken nicht trauriger auf den Boden.
Tanner setzt sich ihr gegenüber auf einen flachen Grabstein.
Sie schaut immer noch auf den Boden. In ihrer Hand hält sie ein zerknülltes Taschentuch. Er betrachtet ihr vom abendlichen Licht goldglänzendes Haar. Sie hat es achtlos irgendwo im Nacken zusammengebunden.
Entlang des Haaransatzes feine blonde Härchen, als ob da eine helle Grenzlinie gezogen wäre. Auf dem Teil der Stirn, den er sehen kann, denn sie hält ja den Kopf gesenkt, zarte Sommersprossen. Ihre Hände sind klein, aber kräftig.
Schweigend holt er aus seiner Jacke die Kette mit dem Medaillon. Auf seiner flachen Hand hält er es ihr direkt unter ihre Augen, denn er findet, dass sie jetzt lang genug auf den Boden gestarrt hat.
Was jetzt geschieht, kann man nur mit einem kleinen Naturereignis vergleichen. Zuerst betrachtet sie das Medaillon in seiner Hand. Eine kleine Ewigkeit lang.
Dann sieht Tanner ihre grünblauen, leicht mandelförmig geschnittenen Augen, ihre sehr gerade Nase und zwei blassrote, ungeschminkte Lippen.
Jetzt springt sie aus der Kauerstellung auf. Reißt ihre Arme in die Luft. Das Taschentuch fliegt hoch über ihren Kopf und sie schreit und juchzt. Tränen stürzen ihr aus den Augen. Kaum sind ihre Füße wieder auf dem Boden, federt sie noch höher in die Luft.
Wie hoch du springen kannst, ruft Tanner, überrumpelt von diesem Ausbruch, und muss unwillkürlich an seinen Traum von gestern Nachmittag denken.
Higher! Higher to the sky! Die Frau auf dem Schlitten hat das gerufen.
Beim nächsten Sprung hechtet sie an seinen Hals und küsst ihn mitten auf den Mund.
Tanner! Sie heißen doch Tanner, oder? Tanner … Tanner … ! Sie haben mein Leben gerettet. Sie haben mir mein Liebstes, was ich auf der Welt besitze, wiedergegeben!
Nachdem das alles aus ihr herausgesprudelt ist, küsst sie ihn noch einmal.
Als sie ihn angesprungen hatte, hat er reflexartig seinen rechten Unterarm unter ihren Hintern gelegt. Mit ihren Beinen umklammert sie ihn.
Und so sitzt sie fröhlich und bequem auf seinem Arm und strahlt ihn an.
Mit dem einen Arm umschlingt sie seinen Nacken und mit dem anderen gestikuliert sie wild herum.
Ich bin gestern Nachmittag schon hierher gekommen, um mein Medaillon zu suchen. Zwei Stunden habe ich gesucht, weil ich überzeugt war, dass die Kette beim Sturz gerissen ist. Ich bin auf meinen Knien herumgerutscht! Greifen Sie mal an meine Knie! Die Hose ist jetzt noch feucht.
Sie greift nach seiner Hand.
Bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen kann, stellt er sie allerdings auf den Boden. Das heißt, er zieht seinen Arm unter ihrem Hintern einfach weg. Sie aber hält ihren Arm eng um seinen Nacken geschlungen, so dass ihr Körper zwar an ihm hinuntergleitet, wobei er mehr von ihrem Körper spürt, als ihm lieb ist, aber ihre Stiefel erreichen deswegen den Boden noch lange nicht, denn Rosalind ist ein ganzes Stück kleiner als er.
Unbeabsichtigt geben die beiden für einen Augenblick lang das perfekte Bild eines Liebespaares ab. Dazu bräuchte ein Beobachter keine Fantasie.
Tanner spürt das, als ob er gleichzeitig selber der Beobachter wäre.
Zudem stehen sie noch erhöht auf der Grabplatte, denn als sie ihn angesprungen hatte, musste er einen Schritt zurückweichen. Man hätte sie sofort in Öl malen können. Bildunterschrift: Der Alte und das Mädchen. Oder, falls der Maler auf ihre Kleider verzichten würde: Faun mit Jungfrau …
Tanner wird sich so genau an dieses Bild erinnern, weil ausgerechnet in diesem Augenblick ein Auto am Friedhof vorbeirast. Tanner und Rosalind drehen beide gleichzeitig ihre Köpfe, erschreckt durch das plötzlich Dröhnen des Motors.
Sie sehen, wie durch das Rückfenster des schwarzen Golf GTI's ein bleiches Gesicht sie böse anstarrt. Etwa hundert Meter weiter hält der Golf plötzlich an, steht eine Weile still, lässt dann seinen Motor aufheulen und braust weiter.
Das Stehenbleiben auf offener Straße wirkte wie eine Drohung.
Rosalind löst erst jetzt ihren Arm von seinem Nacken.
Die hassen mich wie die Pest!
Sie zieht mit einem energisch anmutigen Schwung ihre Jacke nach unten, die beim Heruntergleiten hochgerutscht ist.
Auf seine Frage, wer das denn sei, antwortet sie nur wortkarg.
Ach, das sind Bauernsöhne vom Nachbardorf.
Und warum hassen die dich, bohrt er weiter. Ich darf doch du sagen, oder?
Ja, selbstverständlich! Die hassen mich, weil die sowieso alles hassen. Und mich hassen sie, weil ich sie nicht rangelassen habe!
Sie setzt sich wütend auf den Grabstein.
Rangelassen?
Das Wort klingt aus ihrem Mund erschreckend desillusioniert.
Tanner setzt sich neben sie auf den kühlen Grabstein. Der Bewohner des Grabes möge ihnen die Störung seiner Ruhe verzeihen.
Haben sie es denn versucht?
Nicht wirklich! Dazu haben die viel zu viel Angst vor meinem Onkel. Wie alle hier! Es reicht, dass die genau wissen, wie sehr ich sie verachte und dass ich nichts mit ihnen zu tun haben möchte!
Umso mehr werden sie mich hassen, den Fremden, der sich heimlich auf dem Friedhof mit dem jungen Mädchen trifft, denkt er.
Und hat nicht Ruth gesagt, hier spricht sich alles schnell herum? Das kann heiter werden!
Die Wahrheit ist, dass Tanner nicht an sich, sondern an die Lage von Rosalind denkt! Gegen das Bild, das sie gerade zusammen abgegeben haben, kann auch eine zehnbändige Gegendarstellung nichts ausrichten. Zumindest nicht in bestimmten Köpfen.
Rosalind nimmt ganz selbstverständlich seine Hand in die ihre und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Das Bild, das sie jetzt abgeben, hieße wohl eher: Tochter bittet Vater um Erhöhung des Taschengeldes.
Es ist das Einzige, was ich von meinem Vater besitze. Das kleine Foto und die Briefmarke.
Sie geht also ganz selbstverständlich davon aus, dass Tanner das Medaillon geöffnet hat. Kluges Kind!
Ich habe schon auch noch andere Sachen von meinen Eltern, aber das Medaillon mit seinem Inhalt ist mein größter Schatz!
Tanner entzieht Rosalind seine Hand.
Ich habe übrigens auch deine Reitpeitsche gefunden, die ist aber in meinem Auto!
Rosalind schweigt und er hat plötzlich den Eindruck, dass sie weit weg ist.
Ich muss jetzt nach Hause, denn meine Großmutter legt Wert auf Pünktlichkeit beim Abendessen. Sie haben sie ja kennen gelernt! Und ob, denkt er, zum Essen gibt's wahrscheinlich extra dünn geschnittenes Brot und ein halbes Glas Wasser.
Willst du nicht mit zu Ruth und Karl in ihre warme Küche kommen? Die würden sich bestimmt freuen!
Er sagt das nicht naiv, denn er weiß, dass sie die Einladung nicht annehmen kann. Es sollte mehr ein Versuchsballon sein.
Lieb, dass Sie mich einladen, Tanner. Aber das geht nicht.
Sie sagt es weder traurig noch verbittert. Sie sagt es einfach. Punkt. Keine weitere Erklärung. Sie steht auf.
Vielen Dank für das Medaillon! Und bitte! Warten Sie hier noch einen Moment, bevor Sie auch gehen.
Sie geht zum Friedhof hinaus und verschwindet hinter den Büschen, ohne sich noch mal umzudrehen.
Als er nach einer Weile zum Auto geht, stiefelt ihre schmale Gestalt schon quer über die Felder, in Richtung Autobahn. Die Hände tief in ihren Hosentaschen, den Kopf gesenkt, ihre endlos langen Haare wie ein Schweif.
Er fährt zum Hof. Sein alter Ford ist unter dem Dach der neuen Einstellhalle auf Balken aufgebockt und es fehlen alle vier Räder. Und das am Sonntag?
Auf dem Dach sitzen drei Katzen. Das Auto sieht jetzt vollends aus, als sei es hier abgestellt worden, um es langsam verrotten zu lassen.
Tanner fährt den Opel in die Garage.
Sabatschka, das große Hündchen, ist draußen vor dem Haus und begrüßt ihn mit zwei müden Wedelbewegungen seines Schwanzes.
In der Küche das gleiche Bild wie am ersten Morgen. Karl sitzt am Tisch und blättert in einer Sonntagszeitung. Die heutige Schlagzeile: Massenkeulung von Schafen und Schweinen – Macht das Sinn? Ruth steht wieder an der Spüle, heute in abgewetzten Jeans und einem engen, schwarzen Pullover. Bevor sie sich ganz zu Tanner dreht, hat er gerade noch Gelegenheit, sie im Profil zu sehen. Sie schaut Tanner ganz fröhlich an.
Ich habe gehört, dass Karl und Sie sich duzen. Ich für mein Teil möchte beim Sie bleiben, dann kann ich besser mit Ihnen schimpfen, wenn Sie dauernd zu spät zum Nachtessen kommen. Gut! Jetzt kenn ich das Programm, denkt er und gibt sich ganz zerknirscht.
Ich bin in einen fürchterlichen Stau gekommen. Ich entschuldige mich demütig in aller Form bei Ihnen, Ruth!
Ihnen betont er so fett wie möglich.
Karl guckt ernst und gespannt. Er wusste ja von dem Rendezvous. Er kriegt von Tanner aber keine erkennbare Botschaft.
Ja! So ist sie … mein Ruthli! Daran gewöhnst du dich besser gleich, sonst wirst du hier nicht alt!
Sie lachen alle drei. Das Lachen klang gestern unbeschwerter.
Ja, so ist sie …
Während Tanner den Satz wiederholt, denkt er an die Nacht.
Sie auch? Oder wie soll er es verstehen, dass sie ganz schnell seinem Blick ausweicht?
Nachdem er bei der Gelegenheit gesteht, dass er den Tank ihres Autos leer gefahren habe und nicht tanken konnte, serviert Ruth das Abendessen. Einen ganz köstlichen Blätter- und Gemüsesalat, auch weich gekochte Kartoffelstücke sind drin, mit selbst gemachtem Mozzarella, Basilikumblättern und frischem Brot. Dazu ein Glas Wein, und damit stoßen sie auf das neugeborene Kalb an.
Und? Wie soll es heißen?
Seit heute Morgen hat Tanner sich diesem Problem nicht mehr gewidmet und auf der Heimfahrt, wo er weiß Gott genug Zeit gehabt hätte, hat er es vergessen.
Einen Moment, bitte. Ich muss mich eben noch endgültig entscheiden.
Karl stellt das Glas wieder hin und schaut ihn erwartungsvoll an. Lilly geht natürlich nicht. Lilith ist auch Blödsinn. Der Name seiner Tänzerin? Fängt auch mit L an. Quatsch mit Sauce! Seine Großmutter hieß Lina. Ob die sich droben im Himmel freuen würde, dass er ein Kalb nach ihr benennt. Wohl kaum.
Lisa! Was haltet ihr von Lisa?
Die kleine Anna Lisa würde sich sicher freuen, wenn man das Kalb nach einem Teil ihres Doppelnamens taufen würde.
Jawohl! Lisa find ich schön. Lisa! Laura und ihre Tochter Lisa, sagt Karl und nimmt das Glas wieder in die Hand.
Ruth, was meinst du dazu?
Ruth meint, dass die Männer das unter sich entscheiden sollten, wo sie sich doch so auf ein Mädchen gefreut hätten. Sie würde sich ihrer Stimme enthalten.
Nachdem sie sich erklärt hat, schaut Ruth Tanner mit ihren ernsten, dunklen Augen ins Gesicht. Karl erhebt sein Glas und sie stoßen auf Lisa an. Danach verlässt Ruth die Küche.
Und? Wie war's?
Rosalind hat sich riesig über das Medaillon gefreut, und sie hat mir erzählt, dass das ihr liebstes Andenken an ihre Eltern sei. Und dann ist sie wieder gegangen.
Das war alles?
Karl ist offensichtlich enttäuscht.
Was hast du denn erwartet, Karl?
Er schweigt einen Augenblick.
Moment mal! Warum wollte sie sich denn mit dir treffen? Sie muss doch einen Grund gehabt haben. Eine Absicht!
Karl ist ganz aufgeregt.
Er hat natürlich Recht. Vor dem Treffen war die Frage für Tanner genauso wichtig. Während des Treffens hat sich die Frage plötzlich nicht mehr gestellt. Vielleicht wäre sie nicht so schnell weggegangen, wenn der schwarze Golf nicht in dem Moment durchgefahren wäre. Vielleicht …
Vielleicht wollte sie etwas und dann hat sie sich's anders überlegt, meint Karl.
Tanners Gedanken entlang gedacht, stimmte das ja auch. Karl hat Recht. Auch wenn er über den wahrscheinlichen Drehpunkt der Situation nicht Bescheid weiß. Tanner will ihm von der Umarmung und vom Auftauchen der Bauernsöhne vom Nachbardorf nichts erzählen. Noch nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Aber dieses Gefühl legt ihm Zurückhaltung auf.
Karl? Die Sendung über BSE hat gerade angefangen!
Ruth streckt ihren Kopf zur Tür rein. Während sie auf Karl wartet, der sofort aufsteht, senkt sie ihren Kopf und Tanner sieht nur noch ihre dunkelbraunen Locken.
Drin wühlen … wühlen.
Nur noch deinen Körper spüren.
Möcht mich ganz in dir verlüren!
Tönt's aufrührerisch aus seinem Inneren.
Ich sag es dir morgen, Karl, falls ich mich an den Artikel über die Viehzucht erinnere, lügt Tanner frisch fröhlich drauflos.
Und schon sitzt er allein in der Küche. Und schon hat er mit jedem von ihnen Geheimnisse. Mit Ruth ein großes und mit Karl ein kleines. Kaum zwei Tage ist er her.
Über dem Tisch üben ein paar Fliegen lautloses Formationsfliegen.
Ihr werdet auch bald am Fliegenfänger kleben, glaubt's mir, ich spreche aus jahrhundertealter Erfahrung.
Kaum gewarnt, verlässt eine Fliege die Gruppenübung, will eigene Wege gehen, äh … fliegen, und prompt bleibt sie an dem klebrigen Streifen hängen! Wer nicht hören will, muss fühlen!
Und plötzlich weiß er, was Rosalind von ihm wollte! Sie hat Angst! Sie selbst hat Angst vor ihrem Onkel. Nicht die Bauernlümmel! Sie ist es, die Angst hat.
Das Mädchen hat einfach die zufällige Begebenheit mit dem schwarzen Golf GTI benutzt, um das zu sagen, was sie auf andere Weise nicht hätte sagen können! Wie alle hier, hat sie noch hinzugefügt. Jetzt ist Tanner sich ganz sicher! Aber was genau macht ihr Angst?