Читать книгу Der Vorfall - Urs Triviall - Страница 11
Kuhschnappel
ОглавлениеDie Zeit verstrich und mein Zustand besserte sich nicht. Wie ein Geschenk des Himmels empfand ich daher einen Anruf, der mich zunächst noch mehr in Unruhe versetzte. Das Telefon hatte geklingelt und ich hatte aufgeatmet. Endlich würde ich die Gelegenheit haben, Klarheit in Sachen Jenseits zu schaffen. Doch schon am Display hatte ich gesehen, dass am anderen Ende nicht diese Fremde war.
„Hallo“, sagte ich.
„Hallo, Herr Professor,“ tönte da eine angenehme Stimme.
„Ja?“ meinte ich vorsichtig, aber schon wieder mit abstrusen Gedanken im Kopf. Wer mochte das sein? Wieder eine Frau, das hatte ich gehört. Aber welche? Und mit welchen Hintergedanken?
„Ich bin Bärbel Runge, eine ehemalige Studentin von Ihnen.“
„Aha!“ sagte ich irritiert. Dachte da wirklich eine ehemalige Studentin an mich? Was wollte sie von mir?
„Es geht um Ihre Methode! Ich will über Vor- und Nachteile von Inszenierungspraktiken promovieren. Angefangen bei Ekhof bis zu Stanislawski und Brecht. Vielleicht auch aus jüngerer Geschichte, Langhoff, Stein oder Müller. Ich weiß noch nicht. Ihre Ansichten wären mir sehr wichtig.“
„Kompliment!“ musste ich da erst einmal feststellen, „da haben Sie sich ja eine heroische Aufgabe gestellt.“
„Danke!“ meinte sie und knüpfte an, „ja, ich bin nämlich zur Wissenschaft abgewandert, aber vom Schauspielen nicht losgekommen.“
„Wenn ich Ihnen helfen kann.“
„Das könnten Sie. Ich habe bisher gefunden, dass Ihre Auffassung, wie mir scheint, am brauchbarsten für ein originäres Theaterspiel ist.“
„Danke!“ sagte ich.
„Aber ich habe natürlich Fragen. Ob ich das eine oder andere richtig verstanden habe, ob ich nicht Dinge hinein interpretiere, die Ihrer Theorie widersprechen würden.“
„So schlimm wird es nicht sein,“ meinte ich. Die Praktiker kümmern sich ohnehin nicht darum, wollte ich hinzufügen, unterließ es aber, um ihr nicht Mut und Elan zu nehmen. Meine Erfahrung war, dass selbst an Schulen nicht nach einer allgemein gültigen, weil richtigen Methode ausgebildet wird, sondern an jeder Schule der jeweilige Guru herrscht, und zwar mit seinen mehr oder weniger gut funktionierenden subjektiven, wenn nicht gar subjektivistischen Ansichten und Praktiken.
„Ja, wäre schön!“ antwortete Frau Runge und fügte hinzu, „es wäre wunderbar und würde meiner Arbeit voran helfen, wenn ich mich einmal mit Ihnen unterhalten könnnte. Ich bitte darum.“
Einen Damenbesuch konnte ich im Moment wahrhaftig nicht gebrauchen. Andererseits wäre er wahrscheinlich eine wohltuende Abwechslung. Obendrein zu einem Thema, das mir natürlich nach wie vor am Herzen lag. Ich zögerte mit der Antwort.
„Sind Sie noch da?“ hörte ich.
„Ja“, sagte ich, „ich überlege nur gerade, wie ich Sie in meinem Terminplan unterbringen könnte.“ Das war zwar gelogen; denn ich hatte so gut wie keine Termine, verschaffte mir aber Gelegenheit, die ganze Sache flux noch einmal abzuwägen. Und ich kam zu dem Schluß, mich auf ein Gespräch einzulassen.
„Ich kann mich ganz nach Ihnen richten,“ reagierte sie, „ich wohne zwar in München, bin jetzt aber in Berlin. Und Sie wohnen ja wohl irgendwo am Rande im Speckgürtel.“
Das war nun freilich eine verdächtige Anmerkung. Die Frau hatte offenbar Erkundungen angestellt. Interessierte sie sich gar nicht für Theorie, sondern für Praxis, und zwar für persönliche Annäherung? Ich spürte zwar sofort, dass ich schon wieder einigermaßen irre spekulierte, aber der Verdacht war aufgekommen, und so schnell ließ er sich auch nicht wieder ausräumen. Schließlich war irgendwelche profane irdische Annäherung immer noch wahrscheinlicher als ein Flirt mit dem Jenseits.
„Machen Sie einen Vorschlag,“ forderte ich Sie auf, „am besten vielleicht an einem frühen Nachmittag.“
Nach einem kurzen Hin und Her einigten wir uns auf einen Termin. Ich grüßte noch einmal, versprach neugierige Erwartung und legte auf. Was hatte ich mir da eingebrockt? Eine Studentin Runge war mir nur sehr schwach in Erinnerung. Sie war durchweg unauffällig geblieben, hatte weder verquere noch produktive Diskussionen provoziert. Und als Schauspielerin würde sie, das war schon während des Studiums abzusehen, zum Fußvolk gehören, zu jenen nötigen Unentwegten, die Tag für Tag auf der Bühne rackern und nur selten wirklich Anerkennung erfahren.
Zwangsläufig verbrachte ich von Stund an wieder höchst unruhige Tage. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass die Münchnerin etwas mit der Anruferin zu tun haben könnte, äußerst gering war, litt ich unter der Ungewissheit. Die plötzlich und unerwartet noch einmal geradezu unheimlich eskalierte.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem das Gespräch mit der ehemaligen Studentin stattfinden sollte, stieß ich beim morgendlichen Zeitungslesen auf eine Notiz, die mir von jetzt auf gleich allen Boden unter den Füßen wegzog. An diskreter Stelle wurde dort mit wenigen Zeilen berichtet, dass man eine Frau aus dem sächsischen Kuhschnappel ins Krankenhaus gebracht habe, weil sie immer wieder behauptet habe, von ihrem Mann aus dem Jenseits angerufen worden zu sein. Der Arzt habe schließlich keine andere Entscheidung treffen können, da die Frau hartnäckig bei ihrer Behauptung geblieben sei. Ganz offensichtlich hatte ein einfaches Gemüt die nervliche Belastung nicht aushalten können und hatte sich einer Nachbarin anvertraut. Und die wiederum hatten keine andere Wahl gehabt, als den Arzt zu rufen. Denn Anrufe aus dem Jenseits, die konnte es einfach nicht geben.
Für mich aber stand seit diesem Morgen fest, dass es tatsächlich Anrufe gab. Vermutlich sogar viel mehr, als bislang öffentlich benannt. Unter Umständen wurde von den Behörden sogar alles unternommen, um Informationen über die mysteriösen Vorgänge nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Denn die Obrigkeit hatten letztlich kein Mittel, die Verbreitung der Kunde zu verhindern, noch gar den Kontakt mit dem Jenseits zu unterbinden.
Nach dieser ungeheuerlichen Information schien mir mein weiterer Umgang mit der Anruferin auf einmal ziemlich klar. Es blieb mir nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich nahm mir vor, beim nächsten Telefonat zwar meine Fragen noch zu stellen, sozusagen in einem letzten Gefecht, ansonsten aber möglichst gesund und aufnahmefähig auf die zweifellos historische Herausforderung einzugehen.
Mich überkam überraschend eine erwartungsvolle Zufriedenheit. Zweifel daran, dass die Zeitungsmeldung ein Art Aprilscherz gewesen sein könnte oder eine Fake-News, kamen mir nicht. Im Gegenteil, ich fand es auf einmal positiv aufregend, offenbar zu den Auserwählten zu gehören, zu denen das Jenseits Kontakt aufnahm. Wahrscheinlich war von dort so etwas wie eine ideologische Offensive gestartet worden. Die Errrungenschaften modernster Technik machten es möglich.
Ich war mithin am Tage des Gespräches mit Frau Runge äußerst unkonzentriert. Eigentlich hätte ich ihr absagen müssen, denn ich hatte wirklich ganz andere Dinge im Kopf, musste und wollte meine Sicht aufs Jenseits und jene Frau, die meine Frau sein wollte, neu sortieren. So plante ich ein möglichst kurzes Gespräch mit Frau Runge; ging daher auch nicht zum Bäcker, sondern stellte demonstrativ nur zwei Gläser und eine Flasche Stilles Wasser auf den Tisch. Das Wetter war leidlich, die Temperatur im Rahmen – Gemütlichkeit würde nicht aufkommen. Und wenn, müsste ich dagegen steuern.
Frau Runge, stellte ich sofort fest, war eine schöne Frau! So auffallend attraktiv hatte ich sie gar nicht in Erinnerung. Als ich ihr mein Gartentor öffnete, überkam mich sofort eine stille Sehnsucht. Ich hatte mein Leben lang immer wieder überrascht registriert, dass mein Wahrnehmungssystem in Sachen Weiblichkeit von aufregender Sensibilität war. Es konnte mir widerfahren, dass ich auf der Straße eine Frau sah und sofort erotische Regungen hatte, ein Verlangen und Begehren, das lästig sein konnte, weil es stets Wünsche provozierte, die nicht erfüllbar waren. Mit dem Alter war dieser erotische Mechanismus gewissermaßen eingerostet, aber jetzt schien er wieder mobil zu sein und drängte erst einmal alle übrige Welt in den Hintergrund.
Die Besucherin hatte mein Aufmerken offenbar registriert. Ich sah heimliche Genugtuung und wachsende Zuversicht.
„Guten Tag, junge Frau,“ sagte ich.
„Ich grüße Sie und bedanke mich sehr!“ sagte sie ergeben und trat ein. Ich geleitete sie zur Terrasse. Vor mir her lief federnden Schrittes ein Weib in den besten Jahren. Ihr kurzes Kleid gab den Blick frei auf ihre energischen Waden, die mir partout etwas zu mächtig geraten schienen. Ich amüsierte mich über meine noch immer funktionierende Neigung, Vorzüge und Nachteile des anderen Geschlechts spontan zu analysieren und schöne Anblicke mehr oder weniger zu genießen. Schon waren wir auf der Terrasse angekommen und mein Gast nahm resolut Platz, packte hurtig ein Notebook vor sich hin und schaute mich erwartungsvoll an.
„Oh, gleich zur Sache!“ sagte ich respektvoll und durchaus zugleich darum bemüht, die Besuchszeit knapp zu halten. Der kurze kleine Trip in erotische Gefilde war ohnehin vorbei. Wie sie nun so saß, schien sie mir denn doch etwas zu korpulent geraten. In der Wissenschaft war sie ohne Zweifel besser aufgehoben als auf der Bühne.
„Ja,“ sagte sie gedehnt und fragte, „kann ich gleich zu meiner wichtigsten Frage kommen? Sie brennt mir auf der Zunge.“
„Aber bitte,“ entgegnete ich und setzte mich. „Vorher aber ein bisschen Wasser, falls die Frage etwas umfangreich sein sollte“, fügte ich augenzwinkernd hinzu und goss ihr Wasser ins Glas.
„Danke, sehr aufmerksam“, reagierte sie und nahm einen Schluck. Dann holte sie betont theatralisch Luft und fragte: „Kann es sein, dass Sie Ihre Methode eigentlich nicht zu Ende gedacht haben?“
Ich war überrascht, denn sie traf voll ins Schwarze.
„Ja!“ sagte ich ehrlich, wie ich nun einmal bin.
Bestätigt durch meine Antwort holte sie erneut tief Luft und fuhr fort. „Sie projizieren Hegels Negation der Negation auf die Schauspielkunst, bleiben aber bei der Hälfte stehen. Sie untersuchen die erste Negation, die von der Improvisation zur Fixation, wie sie diese Phase zu Recht nennen. Aber Sie untersuchen nicht die zweite Phase, die von der Fixation zur Improvisation auf höherer Ebene, die ja möglicherweise und überhaupt die wichtigste ist.“
„Stimmt!“ meinte ich beeindruckt. Sie hatte tatsächlich einen wunden Punkt getroffen. Ich hatte, als ich damals schrieb, Neuland betreten, nämlich eine bislang nicht übliche Sicht aufs Schauspielen als Arbeit. Diese Arbeit, stellte ich fest, hatte sich in der Geschichte des Bühnenspiels von der Improvisation, dem antiken Mimus, der ursprünglich ohne geschriebenen Text ablief, hin entwickelt zu fixiertem Spiel. Weil nämlich einst der aufgeschriebene, also nicht mehr spontan auf der Bühne erfundene Text mit lebendiger Handlung versehen werden musste. Die Untersuchung dieser höchst komplexen Problematik hatte meine ganze Aufmerksamkeit erfordert und ich war einfach nicht dazu gekommen, meine eigene Überlegung bis zu Ende zu denken. Also zu untersuchen, was geschieht, wenn der Schauspieler sein letztlich eingeübtes und festgelegtes Handeln Abend für Abend wiederholen muss. Er fängt dann bewusst oder auch unbewusst an, sich im Rahmen des Festgelegten frei zu bewegen, also auf höherer artifizieller Ebene zu improvisieren, und zwar nun Details und Feinheiten seines Bühnenhandelns solo oder mit Partnern. Frau Runge hatte da in der Tat meine Untersuchungen weiter gedacht. Und ich war gern bereit, ihr das zu bestätigen. Was ihr selbstverständlich sehr genehm war. Euphorisiert tippte sie sich irgendetwas in ihren Leptop. Ohne meine Zustimmung dankend zu kommentieren fuhr sie fort:
„Mein Problem ist jetzt, diese von uns gefundende Grundstruktur des Arbeitsprozesses in Bezug auf den Regisseur zu untersuchen. Die Frage ist: Analysiere ich erst einmal die Arbeitsweise jedes einzelnen Regisseurs und prüfe erst dann, ob sie übereinstimmt mit der von Ihnen gefundenen und von mir übernommenen Maxime, oder lege ich diese Maxime a priori wie eine Art Schablone darüber.“
„So ungefähr“, meinte ich.
„Und etwas eindeutiger?“ fragte sie.
„Fällt mir schwer. Wenn ich überlege, wie ich vorgehen würde, dann muss ich sagen, dass ich erst einmal versuchen würde, die Arbeisweise jedes einzelnen Regisseurs zu untersuchen. Und dann würde ich die Ergebnisse mit meinen Erkundungen vergleichen. Fatal wäre es, wenn sich kaum Übereinstimmung ergeben würde. Was ich freilich nicht annehme.“
„Ich neige auch zu diesem Herangehen,“ sagte sie.
In dem Moment schrillte das Telefon. Ich entschuldigte mich, ging ins Haus, nahm den Hörer und sah sofort am Display, dass es die Jenseitserin sein musste.
„Keine Zeit im Moment, rufen Sie später noch einmal an,“ rief ich ins Mikrophon und legte auf. Meine Besucherin hatte meine brüske Reaktion natürlich gehört und empfing mich mit großen Augen.
„Ich störe doch hoffentlich nicht?“ stellte sie fest.
„Keineswegs,“ antwortete ich karg und setzte mich wieder. Aber der Faden unseres Diskurses war gerissen.
„Ja,“ meinte sie nach kurzer Zwangspause, „eigentlich habe ich ja erfahren, was mir am Herzen lag und was ich erhofft hatte. Habe ich dann nur noch eine, zugegeben, unbescheidene Frage.“
„Bitte!“
„Könnte ich Ihnen mein Manuskript zu gegebener Zeit einmal vorlegen?“
Mit dieser Frage brachte sie mich in arge Verlegenheit. Ich hatte im Moment und wahrscheinlich auch in naher Zukunft überhaupt keine Lust, mich mit eine Dissertation zu beschäftigen. Andererseits war die Aussicht, dass sich eine junge Wissenschaftlerin ausgiebig und gewogen mit meinem wissenschaftlichen Werk befassen würde, äußerst angenehm. Ich konnte nicht nein sagen, wich dennoch erst einmal aus.
„Wenn es mich dann noch gibt,“ antwortete ich.
„Herr Professor, natürlich gibt es Sie dann noch!“
„Einverstanden,“ meinte ich.
„Dann bedanke ich mich sehr, sehr herzlich und verabschiede mich. Bleiben Sie gesund.“
Meine Besucherin erhob sich resolut, und ich unternahm nichts, was ihren Aufenthalt verlängert hätte. Nach kurzem Zeremoniell an der Gartentür bestieg sie ihr Auto und fuhr davon.
Und ich setzte mich ans Telefon und dachte an Kuhschnappel.