Читать книгу Der Vorfall - Urs Triviall - Страница 5
Abwegige Gedanken
ОглавлениеDie Fremde ließ mich in Ruhe. Seltsamerweise war das aber genau das, was mich unruhig machte. Hatte mein energisches Gebrüll wirklich dazu geführt, dass sie die Lust verloren hatte, mich zu behelligen? Ich will nicht sagen, dass mir plötzlich etwas fehlte. Aber irgendwie war eine Rechnung offen geblieben. Zumindest hätte ich gern gewusst, wieso eine fremde Frau auf die Idee gekommen war, sich als meine Frau auszugeben und mich auf so unverschämte Weise zu kontaktieren. Es hätte ihr ja klar sein müssen, dass sich mit dieser Art teuflischen Charmes keine Beziehung herstellen lässt. Man macht zwar absolut auf sich aufmerksam, erzeugt aber nur Ablehnung. So doof kann eigentlich keine Frau sein.
Doch was ist die Alternative? Schon wenn ich die Frage stellte, wurde mir mulmig. Denn es keimte da ein Gedanke, dessen Entstehen ich eigentlich hätte unterbinden müssen. Der Gedanke, dass sich da tatsächlich so etwas wie meine Frau am anderen Ende der außerirdischen Leitung befinden könnte. Ein grundsätzlich völlig abwegiger Gedanke! Zweifellos!
Jedoch ein Gedanke mit Entfaltungsvermögen. Weil nämlich zur Zeit auf dieser Erde mit Hilfe der modernen elektronischen Technik Dinge möglich werden, die früher einfach undenkbar waren. Neuerdings zum Beispiel plant man, eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn zu schaffen. Noch wird an Schweinen experimentiert. Das Instrument, das - wie es heißt - Informationen zwischen menschlichen Neuronen und einem Smartphone übertragen können wird, hat einen Durchmesser von 23 Millimetern. Es muß in den Kopf implantiert und mittels feinster Drähte mit Nervenzellen verbunden werden. Wenn es funktioniert – und daran arbeitet die elektronische Forschung beharrlich -, kann es neurologische Signale lesen und auch senden. Ein Minicomputer mit sensationeller Perspektive also. Er wird für die Behandlung von Schmerzen, Sehstörungen und Hörverlust eingesetzt werden können, auch bei Schlaflosigkeit, Gehirnschäden oder bei Verletzungen des Rückenmarks. Mit Hilfe dieser Technologie wird es wahrscheinlich sogar möglich werden, verletztes Nervengewebe zu überbrücken und damit zu erreichen, dass behinderte Menschen wieder zu laufen vermögen. Und weil der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, träumen Wissenschaftler und Unternehmer bereits davon, mit Hilfe dieser Technologie ihre Gedanken auszutauschen, ohne sie aussprechen zu müssen. Auch hofft man, eines nicht allzu fernen Tages Gedanken unmittelbar auf Speicher zu übertragen oder auf Roboter, die man auf diese Weise steuert. Gruselig das alles.
Noch gruseliger ist die Vorstellung, dass künftig Autos autonom auf den Straßen verkehren. Auch hier sind Wissenschaft und Wirtschaft international im Wettbewerb. Damit alles seine Ordnung hat, wurde für das selbstfahrende Auto ein Levelsystem eingeführt. Beim ersten Level ist noch alles wie gehabt. Der Fahrer ist der Herr der Dinge und fährt sein Auto. Beim zweiten Level handelt es sich um sogenanntes teilautomatisiertes Fahren. Der Fahrer muss sein Fahrzeug zwar beherrschen, aber sein PKW kann manche Aufgaben zeitweilig selbst ausführen, zum Beispiel auf der Autobahn die Spur halten, bremsen und beschleunigen. Beim dritten Level, der Stufe der Hochautomatisierung, kann das Auto bestimmte Aufgaben für einen kurzen Zeitraum selbstständig und ohne Eingriff des Fahrers bewälti-gen. Der PKW überholt, ordnet sich wieder in die Spur ein, bremst, beschleunigt – je nachdem es die Verkehrssituation erfordert. Das wird wohl auf Autobahnen bald real werden. Der Fahrer kann dann zum Beispiel Zeitung lesen oder sich mit seinen Kindern auf dem Rücksitz beschäftigen. Das vierte Level, das vollautomatisierte Fahren, ist noch Zukunftsmusik. Der Fahrer wird die Führung seines Autos komplett abgeben können und zum Passagier werden. Das Fahrzeug bewältigt bestimmte Strecken, vornehmlich Autobahn und Parkhaus, völlig selbstständig. Das wohl Wichtigste bei diesem Level: Das System erkennt seine Grenzen, und zwar so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand erreichen kann. Beim fünften Level schließlich, beim autonomen Fahren, bewältigt die Technik im Auto alle Verkehrssituationen selbstständig. Himmel hilf, was da so alles auf uns zukommt.
Warum zum Teufel soll es nicht auch im Jenseits Fortschritte in der Forschung geben? Der Gedanke ist abwegig, ich weiß. Aber denkbar. Und ich dachte ihn damals. Und nachdem ich ihn gedacht hatte, war ich geneigt, die Anrufe der Fremden anders zu bewerten. Aber sie kamen nicht mehr. Die Irre schwieg. Und ich war es zufrieden.
Was indessen nicht verhinderte, dass ich hin und wieder dennoch darüber nachdachte. Und irgendwann schien es mir selbstverständlich, die Anruferin, sollte sie sich denn doch noch einmal melden, erst einmal ausreden zu lassen. Mit meiner verständlichen Empörung hatte ich bisher verhindert, mehr von dieser seltsamen Person zu erfahren. Offenbar hatte sie ein merkliches Mitteilungsbedürfnis. Warum sollte ich mir nicht einfach einmal anhören, was sie alles mitzuteilen hatte. Es war dies gewiss in der Summe ein erbärmliches Schauermärchen. Aber anhören könnte ich es mir schon. Aus Neugier. Warum auch immer. Jedenfalls nicht mehr brüsk ablehnen.
So begab es sich denn, dass ich auf einen Anruf der Fremden regelrecht wartete. Ich kam mir blöd vor, aber ich wartete. Ich fand mich saublöd, aber ich wartete. Ich hielt mich für superblöd, aber ich wartete. Mein Leben hatte einen anderen Zuschnitt bekommen.