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Wie im Fieber

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Jeder Leser und gewiss auch jede Leserin wird zugeben, dass ich mich lange gegen das Unfassbare gewehrt habe. Mir war etwas widerfahren, was noch nie einem Menschen widerfahren ist. Angeblich hatte ich einen heißen Draht ins Jenseits, an dessen Ende obendrein und groteskerweise meine verstobene Frau sein sollte. Das konnte nicht stimmen, das konnte es nicht geben. Und ich wehrte mich. Nun habe ich mich schließlich denn doch darauf eingelassen. Zwar hegte ich tief in meinem Innern noch immer erhebliche Zweifel, vermutete dies oder jenes, ohne dass ich mir einen Reim hätte darauf machen können, doch letztlich - wie es dem Menschen auf Erden halt beschieden ist - hatte ich mich in mein Schicksal gefügt. Und lebte fortan wie im Fieber.

Am meisten erregte mich die Vermutung, meine Frau könnte nicht nur aus eigenem Interesse anrufen, sondern von einer fremden Macht dazu angehalten werden. Wenn alle Menschen ins Jenseits kommen, dann ja auch alle irdischen Schurken. Und welche Möglichkeiten sich denen dort eröffnen, hat meine liebe Petra wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen. Sie sucht offenbar die Nähe der großen Geister. Einen Blick für Schurken hat sie nicht. Hitler würde sie natürlich erkennen, höchstwahrscheinlich auch andere Kriegsverbrecher, wie zum Beispiel USA-Präsident Lyndon B. Johnson, den Giftkrieger gegen Vietnm. Aber Terroristen wie zum Beispiel Bin Laden und diese Kaliber?

Das Problem ist, mutmaßte ich: Die Unredlichen, die Gauner, die notorischen Lügner und Kriegstreiber aller Zeiten gehören nicht zur Sorte dösender Jenseitser, sondern sinnen unentwegt auf erneuten Einfluss - im Jenseits wie auf der Erde. Könnte Petra unter deren Einfluss stehen, ohne es zu ahnen? Zugegeben, ich ging bei meinen Überlegungen von irdischen Verhältnissen und Erfahrungen aus. Das Jenseits ist höchstwahrscheinlich auch in dieser Hinsicht ganz anders gestrickt. Ich hoffte, dass der Zugriff auf die Erde, von dem Petra sprach, dem Wohl und Gedeihen der Menschen dienen werde. Wenn die Redlichen aus allen Jahrhunderten sich zusammenschließen würden, dann hätte das Gute vielleicht eine Chance. Trotz aller Entfernung.

Wie gesagt, ich lebte im Fieber, dürstete geradezu danach, von Petra Auskunft zu bekommen. Leider hatte sie es mit ihren Anrufen nicht so eilig. Tagelang saß ich in der Nähe des Telefons, doch es schwieg. Und auch in den Nächten fand ich wieder keine Ruhe. Meine Erregung eskalierte durch eine Meldung aus den USA. Da hieß es aus angeblich gut informierten Regierungskreisen, bei den neuerdings hier und da aufgetretenen befremdlichen Erkrankungen, bei denen Bürger behaupten, Kontakt mit dem Jenseits zu haben, handle es sich um ein Virus, das offenbar aus China eingeschleppt worden sei. Allerdings bestünde ganz und gar keine Gewissheit. Das stand ohne Kommentar in meiner Zeitung. Ich wusste sofort, dass die Amerikaner mit ihrer Beschuldigung in die Irre gingen. Und ich wusste zugleich, dass der Zugriff auf die Erde, von der meine Frau gesprochen hatte, offenkundig bereits in vollem Gange war.

Als Petra endlich wieder anrief und ich sie fragte, meinte sie, das seien alles zunächst rein private Anrufe. Es sei noch viel zu diskutieren und abzuklären. Man wolle sich so einig wie möglich sein. Und da alle mitreden, Kompetente und Inkompetente, sei es sehr schwer, Übereinstimmung zu finden. Am weitesten seien sie bei den Themen sozialer Fortschritt und Abrüstung, das Thema Demokratie oder Tyrannis sei sehr zäh, das Thema Religion schier unerschöpflich und wahrscheinlich unlösbar und das Thema Erderwärmung noch nicht einmal auf irgendeiner Tagesordnung.

Das waren unvermutet höchst interessante Auskünfte. Petra hatte mir ganz nebenbei eine Menge Stoff zum Nachdenken serviert. Ich hakte allerdings nicht nach, sondern ging erst einmal zu dem Thema über, das mich aktuell beunruhigte, nämlich die Möglichkeit, dass meine liebe Frau irgendwelchen jenseitigen Schurken sozusagen die Drecksarbeit machen könnte. Sie lachte ihr herzhaftes Lachen und sagte:

„Mein Lieber, deine irdische Sorge ist zwar verständlich, aber völlig überflüssig. Mit Hitler lasse ich mich nicht ein, so sehr der sich auch bemühen mag, geläutert daher zu kommen.“

„Es muss ja nun wirklich nicht gleich Hitler sein!“

„An wen denkst du?“

„Na, es gibt doch genug Schurken!“

„Nun sag schon!“

„Na, sagen wir mal Pinochet oder Pol Pot.“

„Ach, du lieber Himmel.“

„Entschuldige, entschuldige vielmals. Ich merke schon, bin auf der falschen Spur.“

„Mein lieber Mann, du bist außerhalb jeder Spur. Du musst wissen, dass solche Herren, wie du sie eben genannt hast, auch hier keinerlei Kredit haben. Sie geistern zwar auch herum, aber niemand lässt sich mit ihnen ein. Gerade mal Hitler hat es geschafft, von Roosevelt, Churchill und Stalin gehört zu werden. Aber Leute wie Pinochet oder Pol Pot müssen damit rechnen, dass ihnen eines Tages hier der Prozess gemacht wird. Die Hauptankläger der Nürnberger Prozesse sind sich da ziemlich einig. Es gibt aber auch Jenseitser, die der Auffassung sind, dass hier nicht nachgeholt werden kann, was auf der Erde versäumt wurde. Für sie ist das Jenseits der Ort der Versöhnung. Und das funktioniert bisher eigentlich ganz ordentlich. Du musst bedenken, dass die Erde im Weltall nur ein Fliegendreck ist und eigentlich uninteressant. Erst neuerdings, seit China, findet sie wieder Aufmerksamkeit. Aber darüber später einmal! Ich muss Schluß machen.“

„Moment, Moment!“ rief ich neugierig geworden, „mischen sich nicht auch Geister früherer Jahrhunderte ein?“

„Natürlich, mehr oder weniger. Im Grunde aber haben sie alle mit ihrer Zeit zu tun, mit ihren Vergehen und Verbrechen. Waren die Kreuzzüge eine Errungenschaft? War die Ausrottung der Indianer nötig? Waren die Kolonialkriege etwas Positives? Haben die Römer die germanische Zivilisation zerstört? Fragen über Fragen. Alle Diskutanten geben aus ihrer Sicht plausible Erklärungen und Rechtfertigungen ab, oft völlig konträr. Aber sie brüllen sich nicht nieder, sie hören sich andere Meinungen an und respektieren sie.“

„Also geht es - sozusagen Gott sei Dank - nicht nur um Verbrechen, sondern auch um Vernunft und Fortschritt.“

„Vom Menschen erfundene Kategorien! Wahrscheinlich zu kurz gegriffen.“

„Reden Marx und Engels auch mit?“

„Natürlich! Auch Hegel, Nietzsche und die alle. Mann, ich muss Schluß machen. Tschüss! Bis demnächst, mein Lieber.“

Aus. Stille. Ich fand es schon recht rätselhaft, dass Petra ihre Anrufe so abrupt abzubrechen pflegte. Ihre Gedanken gingen, wie mir schien, irgendwie kunterbunt durcheinander. Und ihre Seele war also auch noch existent. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher wurden mir die Anrufe wieder. Aber ich hatte wahrhaftig soeben mit einer menschlichen Stimme telefoniert, so haasträubend unfassbare Dinge sie mir auch gesagt haben mochte.

Die Sieger des Zweiten Weltkrieges hatten sich also mit Hitler versöhnt. So konnte man das auslegen. Weil seine Kriegsverbrechen im Jenseits belanglos waren. Weil ja die Erde ohnehin nur ein Fliegendreck ist. Warum dann aber dieses plötzliche Interesse? Wegen China? Immerhin ein Milliarden-Volk, und auf dem wirtschaftlichen Vormarsch an die Weltspitze. Überhaupt auf vielen Gebieten schon führend auf der Erde. Gerade hatte ich gelesen, dass in China 80 Prozent der Haushalte glasfaserverkabelt sind, in Deutschland gerade einmal 3,3 Prozent. So etwas beeindruckt offenbar auch im Jenseits. In China kommt solch Neuerung wahrscheinlich deshalb so schnell voran, weil sie vom Staat einfach durchgeführt und vor allem auch bezahlt wird.

Ich erinnerte mich, dass ich gar nicht begeistert war, als neulich ein Werber am Gartentor stand und stolz verkündete, mein Haus würde alsbald glasfaserverkabelt, ich müsste nur noch zustimmen. Im Moment sei es kostenlos für mich, danach würde es sehr teuer. Beim genaueren Beschäftigen mit dem Angebot stellte sich heraus, dass nach Verlegung des Kabels in mein Haus alle bislang existierenden und vor allem funktionienden Anschlüsse hinfällig wären und die gesamte Anlage neu eingerichtet werden müsste – selbstverständlich auf meine Kosten. Es fiel mir nicht schwer abzusagen. Indessen, ist solch Zögern gar die Ursache dafür, dass dies und jenes bei uns nicht so schnell vorankommt, wie es könnte?

Welch belanglose Frage im Grunde! Immerhin konnte sie mein anhaltendes Fieber ein wenig mindern. Doch just, als ich glaubte, mein seelisches Gleichgewicht einigermaßen wieder gewonnen zu haben, geriet ein wissenschaftlicher Artikel über den Kosmos in meine Hände, dessen Lektüre mich erneut total konsternierte.

Zunächst einmal wurde mir erneut bewusst, um welch gigantische Dimensionen es sich beim Weltall handelt, und zwar um Entfernungen, die - ich musste es mir wieder eingestehen - jeden Kontakt mit irgendwelchem Jenseits nach menschlichem Ermessen völlig ausschließen. Unsere Sonne - stand da zu lesen - ist nur einer von rund 200 Milliarden Sternen allein in der Milchstraße! Wobei diese 200 Milliarden Sterne in ihren Bewegungen innerhalb der Milchstraße von einer Kraft zusammengehalten werden, die noch immer völlig unbekannt ist! Man nennt sie im Unterschied zur aus Sternen und Planeten bestehenden „Normalen Materie“ die „Dunkle Materie“. Wobei der Anteil dieser beiden Materien an der Gesamtmaterie unterschiedlich ist. Die normale Materie, also die, die wir kennen, macht etwa ein Fünftel aus, und die dunkle Materie, die wir nicht kennen, vier Fünftel. Normale und dunkle Materie zusammen ergeben aber nur 31 Prozent des Kosmos! Die übrigen 61 Prozent kennen wir ebenfalls nicht! Sie sind das mysteriöse Phänomen, dass die Galaxien im Weltraum angeblich seit rund sechs Milliarden Jahren expandieren, und zwar beschleunigt, verursacht durch eine Energie, die wir – wie gesagt – nicht kennen und schlicht und einfach „Dunkle Energie“ nennen. Zählt man simpel zusammen, was wir vom Weltall bislang einigermaßen kennen, sind das just rund 6,5 Prozent!

Jedem normalen Menschenverstand schwirrt angesichts dieser Tatbestände der Kopf. Das Unfassbare des Diesseits, es ist der helle Wahnsinn. Denn die Milchstraße ist ja nur eine Galaxie! Es gibt aber – so jedenfalls die Schätzungen der aktuellen Wissenschaft - mindestens eine Billion, also tausend Milliarden. In einzelnen Himmelsregionen werden von den Astronomen sogar ganze Haufen von Galaxien beboachtet, in denen sich jeweils einige Tausend Galaxien befinden.

Ist da überhaupt noch Platz für ein Jenseits? Ich finde schon! Solange die Wissenschaft eine stetige Expansion des Weltalls behauptet, muss auch Platz dafür sein. Irgendwo am Rande meinetwegen. Oder sind vielleicht dunkle Materie und dunkle Energie zusammen genommen so etwas wie das durch Geister belebte Jenseits? Solange wir nicht genauer Bescheid wissen, sind Spekulationen erlaubt.

Und ich in meiner absolut mysteriösen Lebenssituation war äußerst anfällig für Spekulationen. Ich klammerte mich regelrecht daran. Wenn ich mich kritisch danach befragte, warum ich wider allen Wissens letztlich immer wieder auf die Anrufe eingegangen war, dann wurde mir bewusst: Es war die tief in meine Seele eingedrungene und anhaltende Verzweiflung über den Tod meiner Frau. Ich kam einfach nicht darüber hinweg. Und als Petra eines Nachts endlich wieder anrief, ich mit ihr sprechen konnte, atmete ich auf. Was sollte mir all das Wissen über das Weltall, wenn meine ganz persönliche Erfahrung dem widersprach!

„Ja!“ sagte ich erwartungsvoll. Und sie überfiel mich mit neuen Ungeheuerlichkeiten.

„Du“, rief sie, „stell dir vor, jetzt eben sind Jesus und Mohammed zusammengetroffen. Sie reden miteinander.“

Mir verschlug es die Sprache. Noch eben hatte ich geschlafen, nicht sehr tief, aber immerhin. Nun sollte ich mir plötzlich etwas vorstellen, das, wenn überhaupt, wirklich nur im Jenseits stattfinden konnte.

„Aha!“ sagte ich ziemlich hilflos.

„Mensch, Mann!“ rief sie, „das ist selbst für uns außergewöhnlich. Du musst wissen, der Jesus stammt ja von der Maxima. Das ist der größte Himmelskörper, den es gibt. Wohl so drei, vier Mal größer als die Erde. Offenbar Bedingungen wie auf der Erde, aber sozial und technisch viel weiter entwickelt. Wir haben schon lange telefonischen Kontakt. Ja, und der Jesus, der ist doch damals mit einem Raumschiff von der Maxima in der Wüste bei Bethlehem gelandet. Sie haben ihn abgesetzt, weil er auskundschaften sollte, wie es um die Erde steht.“

„Moment, Moment!“ rief ich. „Nicht alles auf einmal. Du überforderst mich! Hier ist Nacht, weißt du, eben habe ich noch geschlafen. Ich bin nur ein Mensch mit normaler Fassungsgabe.“

„Ach je!“ sagte sie, „dann ruf ich später wieder an. Ich muss sowieso verfolgen, wie das hier ausgeht mit den beiden. Tschüss!“

Stille. Aus. Resigniert stellte ich fest, dass ich für diese Anforderungen einfach nicht gerüstet war. Und überhaupt! Musste ich mir das antun? Sollte ich meine vielleicht letzten Tage und hoffentlich Monate auf diesem Planeten nicht geruhsamer verbringen? Wie auch immer, am Schlaf war nicht mehr zu denken.

Ich zog mir eine Jacke über und setzte mich an den Fernsehapparat. Ich wollte mich ablenken. Vielleicht mit Fußball oder mit einem Porno. Kaum hatte ich eingeschaltet und angefangen zu zappen, wurde der Bildschirm blau und per Text mitgeteilt, dass jetzt eine EPG-Aktualisierung stattfindet und die Systemdaten aktualisiert werden. Ich wartete verblüfft, doch die Aktualisierung zog sich hin und ich verlor die Geduld. Missmutig kroch ich wieder ins Bett. Der Versuch, mich irdisch abzulenken, war misslungen. Wohl oder übel kurvten die Gedanken nun um die Informationen, die ich soeben aus dem Jenseits erhalten hatte.

Ich grübelte. Wie war das angeblich? Jesus und Mohammed hatten sich getroffen. Gottes angeblicher Sohn mit einem, der viel später seinen eigenen Gott erfunden hatte, den Allah. Schon wieder stand ich auf und schlurfte an den Computer. Ich wollte mich kundiger machen. Aber ich schaltete nicht ein. Plötzlich hatte ich ein ganz anderes Bedürfnis. Ich ging zum Kühlschrank und entnahm die Flasche französischen Cognac, die ich dort deponiert hatte. Ich betrank mich, Schluck für Schluck, in vollem Bewußtsein. Ein superdämlicher Einfall, aber erlösend aus diesem schier unentrinnbaren Irrsinn. Schließlich torkelte ich zum Bett und ließ mich hineinfallen.

Gegen Mittag des nächsten Tages erwachte ich wieder. Mir brummte der Schädel. Und mir wurde klar, dass das so mit mir nicht weiter gehen konnte. Als ich aufstehen wollte, spürte ich, dass ich noch immer betrunken war. Ich ließ mich zurück ins Bett fallen. Ein verlorener, armseliger Mensch. Aber nun fand ich nicht wieder in den Schlaf. Mir knurrte der Magen. So raffte ich mich auf und schlich in die Küche, um ein Brötchen zu essen. Doch es schmeckte mir nicht. Mir war übel. Entschlußlos hockte ich auf meinem Stuhl, starrte zum Fenster hinaus und sah Post im Briefkasten. Gewiss wieder solch aufdringliche Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel oder eine fällige Rechnung.

Viel schlimmer! Ein Brief vom Finanzamt. Am liebsten hätte ich ihn gleich in die Papiertonne geworfen, wie ich es mit lästiger Werbung zu machen pflege. Aber amtliche Post verlangt Beachtung. Also nahm ich den Brief mit ins Haus und öffnete ihn. Was mich seit einigen Jahren immer wieder maßlos aufgeregt hatte, stand da erneut schwarz auf weiß: Man verlangte von mir eine Summe Geld zurück, die, grob hoch gerechnet, etwa eine Monatsrente ausmachte. Mir wurde übel, übler noch als vergangene Nacht, angesichts solch perfider staatlicher Wegelagerei. Die jährliche Aufbesserung der Rente, stets lauthals verkündet, wird stillschweigend per Einkommenssteuer ein Jahr später wieder zurückgeholt. Die Rentner finanzieren de facto zu einem gewissen Teil die Milliarden- und Millionengräber der Regierenden, den Irrsinn in Afghanistan, den Berliner Flughafen, den Stuttgarter Untergrundbahnhof, das Berliner Stadtschloß. Ich kochte vor Wut. Und ich sann über Protest nach.

Gibt es überhaupt eine Möglichkeit dagegen aufzubegehren? Für den einzelnen Bürger nicht. Er muß sich fügen. Pasta! Hin und wieder weist ein Journalist auf die rechtliche Unzulänglichkeit der Einkommenssteuer für Rentner hin. Aber auch er ist allein, bekommt wahrscheinlich sogar Ärger mit seiner Redaktion. Weit und breit keine Organisaion, keine Partei, die für die Rentner nachhaltig auf die Barrikade geht.

Und für einen Moment blitzte in mir der Gedanke auf, eine Partei zu gründen. Ganz und gar keine Spaßpartei, sondern eine Vereinigung von aufrechten Bürgern, die konsequent gegen das Unrecht in der Gesellschaft ankämpfen. Es würde nicht viel Mühe machen, weiteres Unrecht zu finden. Es liegt gleichsam auf der Straße, muss nur benannt und angeprangert werden. Und zwar nicht mit irgendeinem Artikel in der Zeitung oder in den sozialen Medien, sondern standhaft in den zuständigen Gremien. Würden sich genug Bürger finden, die mitmachen?

Als ich bei dieser Frage angelangt war, wurde ich endgültig wieder völlig nüchtern. Ich erinnerte mich an ein Erlebnis in jungen Jahren, das mir eine Lektion gewesen war. Die Jugendzeitung „Start“ hatte einen Leserbrief von mir veröffentlicht, in dem ich mich mit aktuellen Jugendproblemen auseinandersetzte. Ich weiß heute nicht mehr, worum es eigentlich ging. Aber ich bekam damals von einem jungen Mann aus Berlin einen Brief mit der Einladung, ihn zu besuchen und mit einer Gruppe junger Leute über Wege in die Zukunft zu diskutieren. Das war in der Aufbruchstimmung unmittelbar nach 1945 gar nicht ungewöhnlich und ich entschloß mich, nach Berlin zu fahren.

Der junge Mann, Lothar hieß er wohl, empfing mich im total zerstörten Lehrter Bahnhof. Wir stiegen die Treppe hoch zur S-Bahn und fuhren gen Westen und mir fiel auf, dass die Stadt, je weiter wir kamen, desto weniger zerstört war. In Zehlendorf schließlich befand ich mich in einem wohlerhaltenen sauberen Städtchen. Im Häuschen von Lothars Eltern gab es eine Dachkammer für mich, und dort versammelte sich am Nachmittag die Gruppe. Und damit kam damals die erste Ernüchterung.

Die Gruppe bestand gerade einmal aus vier Personen, nämlich aus Lothar, dessen Freundin und dessen Freund und aus meiner Wenigkeit. Ich hatte mit so zehn, zwanzig jungen Leuten gerechnet, die der Drang nach Erneuerung Deutschlands umtrieb. Nun also vier unternehmungslustige Köpfe. Ich war nicht minder gespannt auf das, was mich in der kleinen Runde erwarten würde. Nach kurzer herzlicher Begrüßung mit Neugier auf das neue Mitglied aus der Zone, wozu eine Flasche Wein geöffnet wurde, entspann sich eine muntere Debatte über Gott und die Welt. Dabei ging es uns weniger um Gott, sondern mehr um die Verbesserung der Welt, die es nach dem verheerenden Krieg bitter nötig hatte. Als wir nach den Mitteln fragten, mit denen ein allgemeiner deutscher Gesundungsprozess in Gang gebracht werden könnte, erschien uns die Wahrheit elementar geeignet - das jederzeitige standhafte Vertreten der Wahrheit, und zwar durch Mitglieder einer „Partei der Wahrheit“, die wir noch am Nachmittag zu gründen beschlossen. Zur eigentlichen Gründung kam es jedoch nicht, weil Lothar für uns Theaterkarten besorgt hatte und die Zeit drängte. Wir entschieden, die Gründung ohne Hast ganz seriös am nächsten Vormittag vorzunehmen.

Während der S-Bahn-Fahrt zum Bahnhof Friedrichstraße traf Lothar einen Freund, den er zu meiner Überraschung – ernüchternd für mich – nicht für unsere taufrische Idee zu begeistern versuchte, sondern mit belanglosem Gerede unterhielt. Ich war zwar versucht, mich einzumischen, hielt mich jedoch lieber zurück, zumal ich den Gesprächspartner nicht kannte. Vielleicht hielt ihn Lothar für ungeeignet für unser Vorhaben. Auch war ich immer wieder abgelenkt beim Blick nach draußen; denn wir fuhren durch ein total zerstörtes Berlin. Ringsum Trümmer.

Aber die S-Bahn fuhr. Auch die vom Bahnhof Friedrichstraße unten im Tunnel in Richtung Süden. Im Hebbel-Theater dann erlebte ich eine faszinierende Aufführung der „Fliegen“ von Sartre mit Joana Maria Gorvin als Elektra. Von dem Stück verstand ich wenig, empfand mich erschreckend als ungebildet, war aber äußerst beeindruckt von der Sprechkunst der Gorvin. Auf der Rückfahrt verwickelte mich Lothar in eine Auswertung der Inszenierung, der ich mich so geschickt wie möglich entzog.

Am nächsten Vormittag sollte denn also die Gründung der Partei stattfinden. So hatte ich uns jedenfalls verstanden. Schon beim Frühstück gab es die erste Ernüchterung. Lothars Freund ließ grüßen und erschien schon einmal gar nicht. Als die Freundin kam, kam sie eigentlich nur, um mich zu verabschieden. Kein Wort zur Parteigründung. Ich ahnte, dass unsere gestrige kreative Debatte nicht mehr gewesen war als eine hübsche Luftnummer. Und ich hatte nicht die Chuzpe, die zwei an unser Vorhaben zu erinnern.

Gewiss, das Ganze damals war eine übermütige Idee gewesen, hatte aber bei mir zumindest zu einer Gewissheit geführt: Selbst die epochalsten Gedanken in Sachen gesellschaftlicher Veränderung scheitern, wenn sie nicht zu materieller Gewalt werden, wenn sich nicht Menschen finden, die sie zu wirkungsvollem Leben zu erwecken vermögen. An diese Erkenntnis von damals erinnerte ich mich jetzt. Und ich befand, dass die Gründung einer Partei für mich nicht in Frage kam. Ich beschloss notgedrungen, tapfer und zäh weiter hinzunehmen, was das Schicksal mir noch aufhalsen würde – komme es nun von der Obrigkeit oder von noch weiter oben.

Der Vorfall

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