Читать книгу Licht in dunklen Todesschatten… Ein Elternpaar verliert nacheinander drei Kinder, jedoch nicht den Lebensmut - Ursula Hesseler - Страница 8
2. Kapitel
Оглавление„Lass mich weder arm noch reich sein!
Gib mir nur soviel, wie ich zum Leben brauche.
Denn wenn ich zuviel besitze,
bestreite ich vielleicht, dass ich dich brauche.
Wenn ich aber zu arm bin,
werde ich vielleicht zum Dieb und bereite dir, meinem Gott,
damit Schande.“
(Sprüche 30,8+9)
Wenig Wohnraum und permanenter Geldmangel
Eines Tages kam eine Zigeunerin an die Haustür und prophezeite uns ein besonderes Ereignis. Ehe sie jedoch weiterreden konnte, wies meine Mutter sie ab, weil sie mit Wahrsagerei nichts zu tun haben wollte. Noch im Hinausgehen zeigte die Frau auf mich und sagte: „Die wird mal einen vermögenden Mann heiraten.“ Dann verschwand sie.
Nun, von dem besonderen Ereignis wusste Mutti ohnehin schon, denn sie war wieder schwanger. Trotz unserer beengten Räumlichkeiten freute sie sich darüber noch einmal etwas Kleines zu bekommen, denn Hans und ich waren inzwischen 14 und 15 Jahre alt.
1951 wurde Rüdiger geboren. Als die Hebamme erschien, mussten Hans und ich nachts zu Verwandten gehen, denn bei dieser Hausgeburt gab es Komplikationen. Deshalb waren wir froh, dass alles glimpflich verlief und wir am nächsten Tag unseren neuen Bruder bewundern konnten, auch wenn er noch etwas bläulich aussah. Mutti legte ihn in einen Wäschekorb, der tagsüber auf dem Ehebett und nachts auf dem Herd abgestellt wurde. Denn durch unseren Neuankömmling hatten wir alle noch weniger Platz als bisher.
Vati machte sich schon ernstlich Gedanken darüber, auszuwandern. Er beschaffte sich die dafür notwendigen Formulare und organisierte sogar das obligatorische Familienfoto für den Antrag. Aber diese Idee verlief wieder im Sande.
Hans, Mutti mit dem neugeborenen Brüderchen Rüdiger, Vati und Ursula auf nur 14 qm Wohnraum in Hattingen an der Ruhr
Ich bekam ein gebrauchtes Fahrrad geschenkt, worüber ich mich riesig freute. Hans brachte es in Ordnung. In den Ferien unternahmen wir schöne Touren durch das bergige Sauerland und radelten von einer Jugendherberge zur anderen. Jedes Mal wenn ich einen Hügel sah, machte ich schlapp. Aber Hans war so lieb und schob mich freiwillig den Berg hinauf.
Leider blieb mir dieser Drahtesel nicht lange erhalten. Einmal hatte ich mein Rad beim Austragen der Lesemappen an einer Hauswand abgestellt. Bei meiner Rückkehr stellte ich entsetzt fest, dass es die vorbeifahrende Straßenbahn leider zu Schrott gefahren hatte, und war untröstlich über diesen Verlust.
Wegen der engen Räumlichkeiten suchte uns sogar ein Reporter auf. Ich schämte mich, dass sich unsere Misere herumgesprochen hatte. Nachdem der Artikel in der Zeitung veröffentlicht worden war, stand eines Tages ein Stadtverordneter vor der Tür. Da er jedoch sehr beleibt war, konnten wir ihn nicht hereinbitten. Danach erhielten wir endlich eine etwas geräumigere Wohnung. Sie war aber immer noch nicht groß genug, sodass Hans auf dem Balkon schlief, und ich den Teil der Küche bewohnte, der mit Regalen und Vorhängen gut abgeschirmt war.
Bis dahin hatte ich mich mit Vati, den ich scherzhaft „mein Mäuschen“ nannte, hervorragend verstanden. Aber mit einem Mal, ich weiß auch nicht warum, hörte das auf. Auch zwischen Mutti und mir gab es jetzt harte Auseinandersetzungen. Oft lag es natürlich an mir, denn ich war aufsässig und pubertär. Manchmal wurden wir mit Prügel bestraft, was bei uns einige seelische Schäden hinterließ.
Durch ihre permanenten Geldsorgen waren meine Eltern oft gereizt. Vati probierte beruflich dieses und jenes aus. Schließlich machte er für mehrere kleine Firmen die Buchführung, wofür er aber meistens nur wenig und manchmal auch gar kein Geld bekam. Mutti war sehr sparsam und fleißig. Sie hatte sich das Nähen beigebracht, wodurch sie ebenfalls einen kleinen Nebenverdienst hatte. Ich musste viel im Haushalt mithelfen. Viel lieber hätte ich mich mit Hanne getroffen.
Obwohl ich keinerlei schlechten Umgang hatte, absolut anspruchslos war und schulisch gute Leistungen erbrachte, bin ich niemals von meinen Eltern gelobt worden. Wahrscheinlich ist es ihnen in ihrer Kindheit ähnlich ergangen, weil so etwas damals nicht üblich war.
Ich grübelte viel darüber nach, welche Talente wohl in mir schlummerten und welchen Plan Gott für mein Leben hatte, denn ich wollte ihm gerne dienen. Mit meinen Eltern mochte ich darüber aber nicht reden und wenn sie nachhakten, schwieg ich beharrlich, was sie wiederum ärgerte. Bei uns wurden nur selten Gespräche geführt, in denen wir gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchten, um anstehende Probleme zu beseitigen.
Vati war überhaupt im Familienkreis nicht so redselig. Weil er Sorgen hatte, saß er oft grüblerisch im Sessel, den Kopf in die Hände gestützt. Mich zermürbte meine Berufsfindung. Denn ich konnte nicht aufs Gymnasium gehen so wie Hanne, weil uns dafür das nötige Schulgeld fehlte. Schließlich fand ich einen Platz in einer Haushaltungsschule in Essen, die mir gut gefiel und zu der ich täglich drei Haltestellen mit dem Zug fahren musste. An den Nachmittagen hatten Hanne und ich meistens den kleinen Rüdiger in unserer Obhut. Er lernte bei uns das Laufen und war oft auch mit dabei, wenn wir in einer Gärtnerei aushalfen. Auf diese Weise konnte ich mir wenigstens ein kleines Taschengeld für die Fahrkarte verdienen. Ständig gab es bei uns finanzielle Engpässe, weil Vati die Selbstständigkeit inzwischen aufgegeben hatte und arbeitslos war. Einmal konnte ich den Stoff für ein Nachthemd nicht bezahlen, das wir uns im Unterricht nähen sollten. Doch zum Glück hatte die Klassenlehrerin so viel Verständnis für meine häusliche Situation, dass sie ihn mir schließlich schenkte. Es fiel mir nicht leicht, das anzunehmen, weil ich zu stolz war.
Hans besuchte seit einiger Zeit den CVJM. Ab und zu begleiteten Hanne und ich ihn dorthin. Dann nahmen wir unsere Gitarren mit, um mit den anderen jungen Leuten zu singen und gute Gemeinschaft zu haben. Wir hatten auch ohne Alkohol unseren Spaß. Manchmal konnten wir uns kaum voneinander trennen und spazierten nachts durch den Wald bis zum Bismarckturm, von wo aus man einen Überblick über ganz Hattingen hatte. Einmal blieben wir sogar bis nach Mitternacht dort, um einem Freund von Hans zum Geburtstag zu gratulieren und um später noch den Sonnenaufgang dort oben zu erleben.
Hans hatte einen Ausbildungsplatz als Schriftsetzer in einer Druckerei gefunden und Vati schaffte sich sein erstes, gebrauchtes Auto an: Einen Lloyd, der im Volksmund spöttisch „Leukoplastbomber“ genannt wurde, weil er aussah, als bestünde er nicht aus Metall, sondern aus Plastik. Unser Vater fuhr ausgesprochen gerne und sicher, eine Leidenschaft, die sich später auch auf uns Kinder übertragen hat. Von jeher packt mich, sobald die Sonne scheint, das Fernweh, und keine Fahrt ist mir zu weit.
Zum Gottesdienst brauchte man mich nie anzutreiben, denn ich ging gern in die Kirche. Mir tat Hans leid, weil er dazu keine Lust hatte. Einmal machten er und Werner, meine Jugendliebe, in den Ferien eine christliche Freizeit mit. Dort trafen zwar beide eine Entscheidung für ein Leben mit Jesus, aber leider war das nicht von langer Dauer.
Bei mir war es so, dass ich oft Zweifel hegte, ob ich tatsächlich eine von ihren Sünden überführte Christin war. Denn ich konnte von keiner großartigen 180-Grad-Kehrtwendung (Vorher/Nachher) berichten. Deshalb bekehrte ich mich gleich mehrere Male. Daraufhin meinte meine Mutter verwundert: „Ich dachte, du bist bereits das Eigentum Jesu.“
„Ach, weißt du, das war noch nicht echt“, erklärte ich ihr dann.
Mit 15 Jahren jedoch beschlossen Hanne und ich, unseren Glauben öffentlich zu bekennen und uns taufen zu lassen. Diese Taufe war für mich ein Schlüsselerlebnis. Seitdem hatte ich die innere Gewissheit, wirklich und wahrhaftig ein Kind Gottes zu sein. Diese Gewissheit und eine bleibende Freude tief in mir haben bis heute angehalten. Es war bestimmt kein Zufall, sondern göttliche Fügung, dass man für mich den Taufspruch aussuchte:
„Habe deine Lust am Herrn, er wird dir geben, was dein Herz wünscht.“
Genau diesen Vers hatte meine Mutter mir bereits Jahre zuvor ins Poesiealbum geschrieben, und er wurde zum Leitmotiv für mein weiteres Leben!
Werner bedeutete mir inzwischen sehr viel, obwohl wir gar nicht fest zusammen waren. Als ich 16 war, begleitete er mich zum ersten Mal auf dem Heimweg. Wir unterhielten uns noch lange vor der Haustür. Das war schön und einerseits war ich überglücklich, andererseits ließ ich ihn wissen, dass zwischen uns nichts weiter laufen könne, solange er keine ernsthafte Beziehung zu Jesus Christus habe. Diese Worte brachte ich nur sehr schwer über meine Lippen, und danach ging es mir auch ziemlich schlecht, denn Werner war mir wirklich wichtig. Doch nachdem ich von seiner Schwester Rita erfahren hatte, dass er einmal den Satz gesagt hatte: „Von Christen und Proletariern soll man sich fernhalten“, war ich unsicher geworden. Seitdem hoffte ich aber lange Zeit auf einen Sinneswandel bei ihm.
Nachdem ich die Haushaltungsschule in Essen beendet hatte, hätte ich am liebsten noch die dortige Frauenfachschule absolviert. Als ich endlich den Mut aufbrachte, mit Vati darüber zu reden, verblüffte mich seine Reaktion. Zwar machte er mir wegen des Schulgeldes seine missliche, finanzielle Lage deutlich, dennoch gab er mir ohne zu zögern seine Zustimmung, weil ich ansonsten ja keine unnötigen Ausgaben für Kleidung, Schmuck und Kosmetik hätte. Nach dieser Unterredung war ich heilfroh und zufrieden.