Читать книгу Nelly - Das einsame Pony - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 5
Eine Spinne im Karton
ОглавлениеEs war mein Bruder Daniel, der das einsame Pony entdeckte.
Er sah es an einem Sonntag auf einem seiner Streifzüge. Eigentlich suchte er ja nicht nach Ponys, sondern nach Spinnen. Spinnen sind Danis neueste Leidenschaft.
Fast jeden Abend erzählt er uns etwas über sie. Er redet von Dornfingerspinnen und Listspinnen, von Wolfsspinnen und Zebraspringspinnen, von Radnetzspinnen und Wasserspinnen.
Emma, unsere jüngere Schwester, findet die Spinnenvorträge ätzend. „Du spinnst ja mit deinen Spinnen!“, sagt sie. „Du hast doch eine Spinne im Karton!“
Dani ist nicht so leicht zu beleidigen. Ich höre ganz gern zu, wenn er erzählt, was er von Spinnen und anderen Insekten weiß. Gerade mit kleinen Tieren kennt er sich besser aus als die meisten Erwachsenen. In jeder freien Minute kriecht er auf den Wiesen, in den Wäldern und im Gestrüpp herum und beobachtet sie. Das, was er beobachtet hat, schreibt er auf. Er macht auch tolle Fotos.
„Spinnen sind ekelhaft“, behauptet Emma.
„Sind sie nicht! Sieh dir bloß mal ihre Netze an! Das sind echte Kunstwerke, die wir Menschen nie nachmachen könnten. Die feinen Fäden sind stärker als Seile.“
Jedenfalls, Spinnen hin oder her, an diesem ersten Sonntag im Mai fand Daniel das Pony.
Er kurvte mit seinem Rad durch den Bärentalwald. Und als er nach ungefähr einer Stunde über einen Bach kam, sah er auf einer Wiese ein braunweiß geschecktes Shetlandpony stehen.
„Es war total allein“, erzählt er. „Und es hat mir echt Leid getan. Es stand da so traurig herum, hat nicht mal den Kopf gehoben, als ich zum Zaun ging und mit ihm redete. So ein einsames Pferd irgendwo in der Landschaft, das ist doch auch Tierquälerei. Man muss sich mal vorstellen, wie wir uns fühlen würden, wenn wir mutterseelenallein in der Pampa leben müssten, ganz ohne andere Menschen oder Tiere.“
Unser Vater hebt den Kopf von seiner Fachzeitschrift. „Lasst euch nur nicht einfallen, noch ein Pferd auf den Hof zu bringen!“, sagt er.
Wir haben schon fünf Pferde auf unserem Rösslehof. Nur eins davon gehört uns, nämlich Lady, die graue Stute. Bessie, die große alte Schwarzwälder Fuchsstute, haben Nachbarn bei uns untergestellt.
Dann sind da noch das knubblige Pony Franzi und die Norwegerstute Sammeli mit ihrem Fohlen Sammy. Die drei gehören den Pflaumers, einer Familie, die in unserer Nähe wohnt und ihre Pferde selbst versorgt.
„Fünf Pferde sind mehr als genug!“, verkündet jetzt auch Kathi, unsere Mutter.
Heimlich mache ich Dani ein Zeichen. Wir gehen zusammen in die Küche. „Wo war das genau?“, frage ich leise. „Die Weide, auf der das Pony stand, meine ich.“
Er erklärt es mir. „Es hat mir so Leid getan“, wiederholt er. „Du hättest es mal sehen sollen! Es war so schrecklich gleichgültig, als wäre ihm alles egal. Es stand nur da und ließ den Kopf hängen. Seine Augen waren ganz trüb.“
„War es vernachlässigt?“, frage ich. „Mager und elend?“
„Nein, das nicht. Es hatte einen ziemlichen Kugelbauch – vielleicht hat es ja zu viel frisches Gras oder Klee gefressen. Das Fell sah struppig aus. Aber es war eben völlig vereinsamt, verstehst du? Da gab’s weit und breit keinen, der mit ihm geredet hätte, und vor allem kein anderes Pferd … Wer weiß, wie lange es da schon abgestellt ist …“
Mein Herz schmilzt vor Mitleid. Das ist so bei mir, wenn ich höre, dass es einem Tier schlecht geht. „Ist ein Haus in der Nähe?“
Dani schüttelt den Kopf. „Ich hab keins gesehen.“
„Wir sollten mal nachschauen“, flüstere ich. „Pass auf, wir radeln morgen hin und bringen ihm was Gutes. Vielleicht finden wir auch heraus, wem es gehört, und können mit den Besitzern reden, damit das Shetty nicht mehr so allein bleiben muss.“
Jetzt kommt Emma in die Küche. Sie hat ihren neugierigen Glitzerblick. „Was flüstert ihr da?“, fragt sie.
„Wir flüstern nicht“, sage ich kühl. „Wir besprechen nur etwas.“
„Was denn?“
„Das ist Geheimsache.“
Emma macht ein Geräusch wie die Stute Bessie, wenn sie schnaubt. Sie hasst es, wenn man Geheimnisse vor ihr hat. Aber im Grund ist sie selbst schuld. Keiner vertraut ihr mehr etwas an, weil sie den Schnabel nicht halten kann.
Kaum hat man ihr etwas erzählt, weiß es schon der halbe Schwarzwald.
„Mann, seid ihr ätzend! Richtig gemein!“, jammert sie.
„Ist mir doch egal“, sage ich.