Читать книгу Entfesselte Emotionen - Uschi Gassler - Страница 12
ОглавлениеBellende Hunde beißen nicht.
Weiß das denn auch jeder Wicht?
WILLY BELLT
Eine autobiografische Erzählung.
Willy bellt. Er bellt morgens um sechs, er bellt mittags um zwölf, er bellt abends um zehn. Ununterbrochen, unermüdlich, minutenlang. Seine Stimme hört sich nach stattlichen fünfzehn Jahren schon merklich heiser an, das tut seiner Bell-Euphorie allerdings keinen Abbruch.
Willy ist ein Dackel, genauer gesagt, ein Jagddackel. Sein Revier und unser Garten liegen nah beieinander, und um uns herum gibt es weitere schmucke Häuser und Gärten.
Es gibt auch andere Hunde. Zum Beispiel den betagten Boxer-Rüden, der Willy nur ab und zu Kontra gibt. Sonst schweigt er. Er kennt Willy schon sehr lange und hat es aufgegeben, mit ihm um die Wette zu bellen. Und es gibt unser Rottweiler-Mädchen Mira. Sie ist zwei Jahre alt und stört sich an Willys Energieausbrüchen überhaupt nicht. Sie respektiert den älteren Herrn.
Ich stehe im Bad, richte mich her und höre wieder einmal das Gekläff des Jagddackels durchs offene Fenster hereindringen. Das heißt, es dauert einige Minuten, bis ich es bewusst wahrnehme. Meist fällt es mir schon gar nicht mehr auf. Doch habe ich gerade den Föhn abgestellt, und es herrscht Stille, als das gleichmäßige Bellen bei mir ankommt.
»Wau, wau, wau, wau«, und immer so weiter, immer gleichmäßig, im gleichen Ton, im gleichen Tempo, heiser und rhythmisch.
»Willy bellt schon wieder«, höre ich Doreen, unsere jüngere Tochter, aus ihrem Zimmer herüberrufen. Bis in ihren Halbschlaf ist sein Gebell gedrungen. Sie kennt nichts anderes. Sie ist ja vier Jahre jünger als er.
Während ich überlege, was Willy uns diesmal alles mitzuteilen hat, denke ich an die Zeit zurück, als der Welpe Willy seinen Garten in Beschlag nahm und gut vernehmbar seine Anwesenheit anmeldete.
Damals beaufsichtigte meine Schwiegermutter regelmäßig unsere Tochter Jasmin, bevor diese in den Kindergarten kam. Gemeinsam lauschten sie beharrlich und aufmerksam Willys Darbietungen. Ich höre heute noch, wie sie zu ihrer Enkelin sagte: »Horch!« Dabei hob sie ihren Zeigefinger. »Horch, der Willy bellt.«
Es dauerte nicht lang, da ahmte Jasmin es ihr nach. »Oma, Willy bellt!«
Aufgeregt stieg sie jedes Mal auf ihren Hocker und schaute zum Fenster hinaus. Es gefiel ihr, dem kleinen Hund zuzusehen, wie er im Gras unweit seiner Haustür stand, das Schwänzchen wedelnd hin und her wippen ließ und munter in die Welt kläffte. Meine Schwiegermutter gesellte sich mit Vergnügen zu ihr, und gemeinsam amüsierten sie sich über Willy.
Noch lustiger empfanden es Oma und Jasmin, wenn unser knapp einjähriger Rottweiler-Rüde Jumbo von Remchingen zurückbellte. Er saß draußen im Zwinger und verstand vermutlich bestens, was Willy kundtat. Jasmin hätte gern gewusst, was sich Hunde so erzählen. Aber da konnte ihr sogar die Oma nicht helfen.
Nach Wochen wurde es Jumbo anscheinend zu dumm, er gab sein Gebell auf. Nicht jedoch Willy. Allmählich spielten sich gewisse Zeiten ein, vielleicht meldete er sich vom Gassigehen zurück oder wartete, bis es losging, oder er bewachte einfach nur den Garten.
Bald geschah das Unvermeidliche: Das erste Zusammentreffen zwischen Jumbo und Willy. Beide Hunde, jung, aufgeweckt und impulsiv, der eine groß und schwarz, der andere klein und braun, kannten sich bisher nur vom Bellen her. Beziehungsweise aus der Ferne, wenn wir Willy seinem Herrchen hinterhertrotten sahen.
An besagtem Abend spazierten wir mit Jumbo die Straße hinauf in Richtung der Felder, ganz vertieft in der Diskussion über eine frisch ausgehobene Baugrube, als Willy unverhofft angetrabt kam. Womöglich war er von zuhause ausgebüxt. Schon stand er Schnauze an Schnauze vor Jumbo und reckte sich nach oben. Jumbo schnüffelte nach unten.
Da begann Willy zu bellen. Das hätte er nicht tun dürfen – nicht in diesem Moment, nicht direkt vor Jumbo.
Unser Rüde, viermal so groß wie der Dackel, ließ sich nicht einfach grundlos anbellen, schon gar nicht von diesem frechen Wicht.
Aus dem Stand heraus sprang er auf Willy, begrub ihn unter sich. Nicht nur der Dackel war übertölpelt, auch wir waren überrascht von der blitzartigen Aktion.
Beiden Hunde verharrten in einer Schrecksekunde, dann kam der kleine Dackelkopf zum Vorschein. Willy entdeckte wohl eine Lücke zwischen Jumbos Pfoten, drückte sich hindurch und hüpfte mit einem Satz davon. Leider in die falsche Richtung. Schon stand er am Rand der Baugrube, konnte nicht mehr bremsen und rutschte die erdige Steilwand hinab, nahezu zwei Meter tief.
Erschrocken sahen wir ihm nach. Er saß auf seinem Hinterteil, schaute mit verwirrtem Dackelblick zu uns herauf und bellte nicht. Jumbo lag neben uns, lugte vorsichtig in die Tiefe.
Mein Mann gab mir die Leine und suchte nach einer Diele bei den herumliegenden Baumaterialien. Er fand ein passendes Brett und stellte es schräg an die Baugrubenwand.
Willys Augen folgten jeder Bewegung, die Schnauze hielt er fest geschlossen. Wir lockten ihn. Vergebens. Mein Mann legte Nascherlen aufs Brett. Willy schaute weg, bekundete demonstrativ, sich nicht angesprochen zu fühlen.
»Ich steige da nicht rein«, entschied mein Mann nach kurzer Überlegung. »Der soll sehen, wie er herauskommt.«
Ich ließ Willy nicht aus den Augen. Er wirkte einsam und verloren.
In Jumbo kam Bewegung, er erhob sich. Bellte. Kurz und lautstark. Ein volltönendes, angenehmes Bellen, wie eben nur ein Rottweiler eines besitzt.
Willy richtete sich auf, bellte zurück, kurz und schrill. Eher ein Blaffen als ein Bellen. Das brachte ihn zurück ins Leben, und er trippelte auf das Brett zu. Glaubte wohl, einfach darauf emporlaufen zu können.
Pech gehabt, er rutschte zurück.
Beim zweiten Versuch kippte er seitlich herunter. Stand aber gleich wieder auf seinen Beinen.
»So ein Tollpatsch«, sagte ich ärgerlich. »Komm, Willy, hopp, jetzt rauf mit dir.«
»Der kapiert das nicht«, meinte mein Mann. »Aber ich geh auf keinen Fall …«
Von einer Sekunde zur anderen stand Willy auf halber Höhe, schaute erst zu uns her, dann vor sich aufs Brett, um sogleich nonchalant heraufzutippeln. Als wäre dies die leichteste Übung der Welt.
Jumbo wollte ihm entgegenspringen, die Freude blitzte ihm aus den dunklen Augen, aber Willy machte einen großen Bogen um uns. Kniff sein Schwänzchen ein und rannte los. Rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, die Straße hinunter, bog ab und verschwand.
Später, auf dem Rückweg, sahen wir Willy vor der Garage seines Herrchens liegen. Er hatte es sichtlich nicht mehr gewagt, alleine auf die Pirsch zu gehen.
Meine Schwiegereltern amüsierten sich köstlich über diese Geschichte. Unserer Jasmin hingegen tat Willy leid. »Hat er sich weh getan?«, wollte sie wissen.
Nun, das konnten wir ihr nicht beantworten. Verletzungen hatten wir jedenfalls keine gesehen, beruhigten wir sie.
Das ist jetzt viele Jahre her, Willy hat sogar meine Schwiegereltern überlebt. Während seiner unermüdlichen Bellattacken haben wir umgebaut, renoviert, neue Mieter bekommen und neue Nachbarn, unsere Töchter sind keine Kinder mehr, nach Jumbo kam Fenja, später hat Mira ihren Platz eingenommen, wir haben den alten Zwinger abgerissen und einen neuen gebaut, einen Gartenpavillon errichtet und den Garten umgestaltet.
Und Willy harrt aus und bellt und bellt.
Es ist das Jahr 2004, als ich diese Anekdote schreibe, die elf Jahre in der Ablage ruhen wird, bis sie hervorgeholt, überarbeitet und zur allgemeinen Erheiterung beitragen soll.
Willy wird dann nicht mehr bellen. Die einsetzende Ruhe im Nachbarsgarten wird kaum wahrgenommen werden, bis wir irgendwann einmal fragen:
»Der Willy – was ist mit ihm? Ob er nicht mehr unter uns weilt?«
Nach Mira ist es unsere Gianna, die mit kräftigem Gebell ihr Dasein verkündet und jedem das Gefühl vermittelt: Ich pass auf eure Häuser auf.
Darüber freuen sich alle im Mai 2015.