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Kapitel 2

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Vera war mit dem Fahrrad schon sehr früh in ihren Krämerladen gefahren.

Das machte den Kopf frei und sie hatte Zeit zum Nachdenken. Sie hoffte, dass Werner nicht rückfällig werden würde und überlegte, ob sie ihn bei Doktor Hagen verpetzen sollte.

In diesem Interessenskonflikt entschied sie, erstmal abzuwarten.

Vera war eine eher hagere Person mit kurzen aschblonden Haaren. Keinen Arsch in der Hose, nix in der Bluse – selbst ihr Mann hatte mehr Busen als sie.

Ihre fahle Haut zeigte schon einige tiefere Falten auf der Stirn und rund um die Augen.

Auch sie sah älter aus, als sie war. Vielleicht lag das in ihrem Fall nicht nur am Wetter oder an minderwertigen Genen, sondern daran, dass sie viele Jahre geraucht hatte. Bei den Giften in einer Zigarette war es kein Wunder, dass die Haut welk wurde.

Veras kleiner Laden, mitten im Ortskern gelegen, war eine logistische Herausforderung. Trotz der stark reduzierten Grundfläche gab es eine bunte Palette sämtlicher gängiger Produkte.

Brot und Brötchen gleich im Eingangsbereich, gleich daneben Zeitungen und Zeitschriften. Drehte sich der Kunde um, stand er auch schon in der Obst- und Gemüseabteilung. Danach kam die Frischetheke mit Milchprodukten, Wurst und Käse. Weiter hinten Spirituosen und ganz am Ende alles für die Hygiene. Auch Hunde- und Katzenfutter führte sie im Programm.

Neuerdings hatte sie ihr umfangreiches Laden-Sortiment um einen kleinen Kaffeeausschank erweitert. Das wurde vor allem von den Dorfbewohnerinnen sehr positiv angenommen. Ein kleines, selbst kreiertes Schild an der Glastür wies auf Coffee to go hin.

Selbstverständlich hätte sie auch Kaffee zum Mitnehmen schreiben können, doch ein wenig internationaler Flair stand dem Laden ganz gut zu Gesicht. Sie musste eben mit der Zeit gehen. Vera überlegte sogar schon, einen großen Flachbildschirm über dem Wursttresen installieren zu lassen. Ihre Kundschaft könnte mittags schon ›Rote Rosen‹ und nachmittags dann ›Shopping Queen‹ sehen. Die Serie ›Rote Rosen‹ war ihre Lieblingsserie. Seit der ersten Folge schwärmte sie für Lüneburg und teilte allen mit, dass das die – sie betonte das Wörtchen immer – Alternative zu Tottenbüttel wäre. Dort könnte sie sich vorstellen, irgendwann mal hinzuziehen. Böse Zungen behaupteten, jeder Ort wäre eine ernst zu nehmende Alternative zu Tottenbüttel. Nur ihr Mann Werner konnte mit der ›Großstadt‹ überhaupt nichts anfangen.

Der Duft von frischen Brötchen, Croissants und Milchhörnchen legte sich über frisches Obst und Gemüse. Dieser leckere Geruch waberte bis nach draußen auf den Bürgersteig und lockte so manchen Frühaufsteher auf dem Weg zur Arbeit oder beim Gassi-Gehen in ihren Laden.

Angeliefert wurde von einer Bäckerei in der Nähe, die auch alle Nachbarorte versorgte.

Schnell entstand hier eine illustre Frauenrunde, die sich bei einem Käffchen und einem Schwätzchen traf. Manchmal war auch ein Sektchen dabei. Zwar hatte Vera keine Lizenz für einen Alkoholausschank, aber wo kein Kläger, da kein Richter … oder so.

Hier gab es immer viel zu schwatzen, zu lästern und zu schludern.

Der Morgen verlief relativ ruhig. Erst gegen Mittag füllte sich der Verkaufsraum, und der kleine Stehtisch wurde sozusagen nach dem Rotationsprinzip von einigen Frauen besetzt.

Im Moment anwesend: Die Yoga-affine Frauke Puttfarken in einem knallroten, undefinierbaren Irgendwas mit bunten Knöpfen auf der Brust. Es sah aus wie ein Overall, unterschied sich aber darin, dass er hinten zweigeteilt war. Man wusste nicht so recht, ob die hintere Öffnung so gewollt war. Über dem Clowns-Ding trug sie eine blaue Stola im Batik-Look. Colour-Blocking nannte sie das. Niemand hatte auch nur ansatzweise eine Idee, wo man solche Geschmacklosigkeiten kaufen konnte. Wurde auch nirgendwo gekauft – war selbst genäht, wie sie immer wieder stolz betonte. Die grauen Haare waren echt grau, nicht gefärbt, wie es momentan hip war. Halblang, struppig und widerspenstig wucherte es auf ihrem Kopf. Auch ihre Augenbrauen wucherten, und zwar buschig. Aus den Borsten hätte man zum Beispiel ein Haarteil für schuldlos an Haarausfall leidende Frettchen knüpfen können. Zupfen kam für sie nicht in Frage. Auch die Haare an Beinen und unter den Achseln wucherten augenscheinlich unkontrolliert. Ihrer Meinung nach hatte sich die Natur etwas dabei gedacht, nämlich die Haut mit Haaren zu schützen. Aber wovor? Vor freien Radikalen?

Vor einiger Zeit hatte sich Fraukes gesamte Lebenseinstellung geändert. Sie war zum Veganismus übergetreten. Nicht etwa, weil es modern war, sondern aus voller Überzeugung. Von einem Tag auf den anderen verweigerte sie sich den Tieren. Aber auch die Tiere wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben. Immer mehr Hunde auf der Straße bellten sie an.

Manchmal war es so krass, dass sie sogar von wildfremden Hunden angepinkelt wurde, wenn sie irgendwo zu lange stehen blieb und die Vierbeiner ihren Weg kreuzten.

Vor einiger Zeit musste sie sich sogar vor Gericht verantwortlichen, weil sie sich lebensmüde vor einen Schweinetransporter geworfen und den Fahrer zum Anhalten genötigt hatte. Sie kettete sich mit Handschellen an die hintere Tür des LKW und schrie Anti-Massentierhaltungs-Parolen.

Nicht nur der Fahrer, auch die Schweine waren damals erleichtert, als man sie endlich von der bunten Frau befreite.

Dann war noch Birgit Schneider anwesend, Beamtenfrau und Mutter, die aber gleich wieder losmusste, um ihre Gören von der Schule abzuholen. Die zehnjährigen ›Terroristen-Zwillinge‹ Tim und Tom hatten mal wieder früher schulfrei als ihre Klassenkameraden.

Das Terror-Duo hatte sich an der Wand der Sporthalle künstlerisch betätigt und die Graffiti-Malerei für sich entdeckt. Ein riesiges Hinterteil in Knallrot und die Weltkugel in Blau-grün, irgend so etwas ließ sich ausmachen. Dieses Bilderrätsel wurde von der Kunstlehrerin Frau Anneliese Hoppe als eigenwillig, aber kreativ umgesetzt bewertet.

In letzter Zeit wurde Doppelmutter Schneider ziemlich häufig von der Klassenlehrerin vorgeladen. Einen Schulwechsel hatten die beiden Jungs schon hinter sich. Birgit Schneider hätte die Erziehungsberechtigung nur zu gerne abgegeben, an Gandalf, Gollum oder Lord Voldemort beispielsweise. Auch gegen Freddy Krüger hätte sie nichts einzuwenden gehabt.

Bevor sie zwecks Wiederaufnahme der Erziehungsverantwortung verschwand, ließ sie noch ihre perfekt manikürten Fingernägel bewundern.

»Das ist der letzte Schrei aus London«, sagte sie und hielt den Frauen ihre Krallen vor die Nase, »Rubinrot mit Strass. Passt eigentlich zu allem.«

Die dritte im Bunde war Physiotherapeutin Anke Hoyer-Schmidt, eine junge, hübsche Zugereiste mit Rehaugen. Ihr langes blondes Haar trug sie fast immer zu einem Zopf gebunden. Eigentlich war sie `n büschen zu attraktiv für hier. Die Männer im Dorf liebten ihre roten High-Heels, die sie häufig zum Schützenfest trug und damit den Rasen vertikutierte. Sie gönnte sich bei Vera erst einmal eine Erholungspause. Ihr letzter Patient hatte sie ziemlich in Anspruch genommen. Herr Tegen klagte schon länger über Rückenprobleme und war von Doktor Hagen an Ankes Praxis überwiesen worden. Herr Tegen, zirka einhundert Kilo schwer, war eine Belastung für ihren eigenen Rücken gewesen. Darum begnügte sie sich auch nicht nur mit Kaffee, sondern orderte ein Piccolöchen.

»War das nicht schon in der letzten Saison modern?«, fragte Anke vorsichtig, während sie am Sektglas nippte.

»Nee, nicht mit Glitzer«, sagte Frau Schneider.

»Das ist mir viel zu bunt«, teilte Frau Puttfarken mit und erntete einen spöttischen Das-sagt-die-Richtige-Blick der anderen Damen.

Ja, der Tante-Emma-Laden erinnerte im Moment an das, was er öfter war: Boulevard-Theater mit Laiendarstellern.

Bevor Frau Schneider losfuhr, berichtete sie den anderen noch einmal die Geschichte von den dunklen Gestalten, die sie beobachtet hatte.

»Die waren eindeutig nicht von hier«, sagte sie geheimnisvoll. »Die haben durch die Fenster von Knuths Laden geguckt und sprachen in so `nem komischen Slang miteinander … ich glaub, das war Italienisch. Ich traue solchen Typen ja nicht, wisst ihr? Ruckzuck haben die alles ausbaldowert und wenn die Zeit günstig ist … peng«, sie schnipste mit den Fingern, » … steigen die da ein. Ich mach gar nicht daran denken, wenn die bei uns mal einbrechen … das sind ja nicht nur die materiellen Dinge, sondern das Schlimmste ist ja, wenn die ideellen Werte weg sind. Also so … Andenken von den Eltern, Großeltern oder Geschenke von den Kindern.« Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und die anderen nickten. Obwohl sie beim Verlust einiger Geschenke der Kinder – einer sprechenden Klopapierrolle, dem ›Clubausweis für alte Schachteln‹ oder dem kriechenden Zombie-Gartenzwerg – schon ein Auge zugedrückt hätte. Ihre Jungs waren nämlich sehr kreativ.

Vera Jensen hatte dasselbe Thema, allerdings auf ihren Mann gemünzt. »Ich hab Werner gestern Abend von den Männern erzählt, aber das hat ihn überhaupt nicht interessiert.« Das mit dem Alkohol behielt sie erst mal für sich. Sie wollte nicht so viel Diskussionsstoff bieten. Sofort würde das im Dorf die Runde machen.

»Is so, Kerle, halt. Aber niemand soll sagen, dass wir sie nicht gewarnt hätten.«

»Ich habe neulich in einer Zeitschrift gelesen, dass laut Kriminalitätsstatistik nur ein Viertel aller Straftaten von Frauen begangen werden«, meldete sich Anke zu Wort, »Frage: Sind Frauen nun weniger kriminell oder lassen sie sich einfach nicht erwischen?«

»Sie lassen sich einfach nicht erwischen!«, tönte es laut im Chor und die Damen klatschten sich lachend ab.

Frau Schneider wollte gerade zum dritten Mal aufbrechen, als zwei Männer den Tante-Emma-Laden betraten. Alle anwesenden Frauen drehten sich um und es wurde ganz still. Jetzt wurden die Fremden erst einmal von oben bis unten begutachtet.

Birgit Schneider erkannte die Typen sofort wieder.

Schwarze Haare, dunkle Augen, kantiges Gesicht; ungefähr fünfzehn Zentimeter Größenunterschied trennten die beiden Männer voneinander. Der Größere trug einen Dreitagebart, mit dem er ziemlich verwegen aussah und Birgit Schneider ein wenig wuschig machte. Sie zupfte an ihrem linken Ohrläppchen und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ohne den Mann dabei aus den Augen zu lassen. Endlich mal ein richtiger Kerl, dachte sie und leckte ihre Lippen.

Ihr Unterbewusstsein dachte: wow – ihr Verstand ebenso.

Beide Männer hatten sich in lange und natürlich auch dunkle Mäntel gehüllt, unter denen alles vermutet werden konnte – auch Waffen.

Bis auf eine schlecht verheilte Narbe auf der Wange, wirkte der kleinere Mann eher unscheinbar. Frau Schneider stachen sofort die gepflegten Hände der Italiener ins Auge. Dafür hatte sie einen Blick. Doch das war ja auch kein Wunder, denn die Mafia hatte garantiert andere, die die schmutzige Arbeit für sie erledigten.

»Buon giorno! Come sta? Mein Name ist Toni Mazzarelli, das ist mein Bruder Stefano.«

Er selbst verbeugte sich kurz und zeigte dann auf seinen Bruder. »Scusi, meine Damen. Können Sie uns helfen? Wir suchen Ihren Padre.«

Frau Puttfarken blieb ihr veganes Dinkelhörnchen im Halse stecken und füllte ihren Mund komplett aus. Sie hustete einmal, dabei flogen einige Brocken quer über den Stehtisch und blieben am Spuckschutz der Wursttheke kleben. Die weiche Dinkelpampe hatte sich zusätzlich an ihre Zähne geheftet. Sie sah aus wie ein Backenhörnchen, das sich jetzt schon für den Winter mit Fressen versorgte. Gut, dass sie schon am Morgen die Farbe Rot ihres Anzug-Dingens als Warnung vor Fressfeinden gewählt hatte.

Frau Hoyer-Schmidt verschüttete spontan ihr Prickelwasser und fluchte.

»Oh, Sie sind wie Italiani. un Prosecco verso mezzogiorno!« Ein Prosecco am Mittag also.

Der Mann wendete sich jetzt Vera Jensen zu, fummelte nebenbei ein paar Euro aus der Manteltasche und orderte: »Signora, einen neuen Prosecco für la bella Signorina.«

»Können wir Ihnen helfen?«, fragte Vera, während sie tatsächlich neuen Sekt eingoss.

»Wir suchen Ihren Padre«, wiederholte der Mann.

»Mein Vater ist schon lange tot. Das muss sich um ein Missverständnis handeln.«

Missverständnis? No. Wieso tot!?«

»Na, mein Vater halt. Er ist tot … my father … dead.« Vera versuchte es nun international.

»Ah so, no, ich meine den Padre von Ihrer Kirche«, lachte der Italiener.

Vera Jensen begriff nichts.

Aber dafür hatte sie ja die weltgewandte, im London-Style manikürte Frau Schneider an ihrer Seite, die sich nun in den Vordergrund drängelte und für Aufklärung sorgte.

»Ich glaube, die suchen nach Knuth«, sagte sie leise und lächelte unnatürlich. Nachdem das geklärt war, schickte man die beiden Männer weiter zur Kirche.

Birgit Schneider, die ja sowieso schon seit mindestens zehn Minuten weg sein wollte, griff sich ihren Mantel und folgte den Männern nach draußen vor die Tür. Dort zeigte sie noch schnell die Richtung an, bevor sie selbst in ihr Auto stieg, sich bekreuzigte und nach einem letzten Blick in den Rückspiegel losbretterte.

Frau Puttfarken kaute nun endlich zu Ende, löste mit der Zunge die restliche Dinkelmischung von ihren Zähnen und hinterfragte den Auftritt der Männer.

»Was war das denn!?«

»Das war … unheimlich«, antwortete Frau Jensen und schenkte sich erstmal einen Schnaps ein.

»Für mich auch.« Frau Hoyer-Schmidt hatte sich die ganze Zeit mit dem Sprechen zurückgehalten – nicht aber mit dem Alkohol.

»Du hattest schon ein Sekt«, bemerkte Vera Jensen streng. »Nee, eigentlich zwei«, berichtigte sie sich.

»Was bist du … meine Mutter? Ein-schen-ken!«, forderte Anke mit Nachdruck und ihr entglitt ein kleiner Rülpser.

Frauke brauchte noch ein weiteres inhaltsloses Brötchen hinterher – für die Nerven. In diesem Moment, als der erste Bissen des zweiten Frühstücks gerade in ihrem Mund versenkt wurde, standen die beiden Männer wieder in der Tür.

»Sie sind sehr hungrig, Signora«, bewunderte Toni Mazzarelli die Nahrungsaufnahme der veganen, farbenfrohen Frau. Frau Puttfarken nickte kurz und versuchte zu lächeln. Dabei lugte etwas Pampe zwischen ihren Lefzen hervor.

»Padre war nicht da.« Die Stimme des Mannes klang enttäuscht.

Jetzt fiel Vera Jensen ein, dass ja heute Freitag war und der Pastor im Sex-Shop seinem Hobby nachging. Dort trank er gerne mal einen – auch gerne mal zwei, drei.

Hunoldt war ein guter Pastor. Immer fand er die richtigen Worte. Selbst wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, blieb er ruhig und besonnen. Wie damals, als jemand während einer Hochzeit spontan verstarb. Das war gar nicht gut und einige sprachen schon von einem schlechten Omen. Gemeinschaftlich rollte man den Toten kurz zur Seite und Hunoldt fuhr mit den Segenssprüchen fort. Erst nachdem sich die Brautleute ihr Ehegelöbnis versprachen und Ja sagten, sich die Ringe ansteckten und … bla, bla, bla, legte man den Verstorbenen zur kurzfristigen Aufbewahrung auf eine der hinteren Bänke, bis sich der Pastor zum Bestatter verwandelte und die Leiche zur Begutachtung der Todesursache abholen ließ.

Trotz dieser Misere trübte das die Stimmung nicht im Geringsten. Im Gegenteil, diese Hochzeit wurde zu einem Event, das niemand so schnell vergaß und in die Chronik Tottenbüttels einging.

Vor allem, weil die Braut nach nur einem Ehejahr mit einem anderen Mann, von heute auf Morgen verduftete, und der Bräutigam sich kurz danach erhängte. Und zwar in der Kirche.

Vielleicht war der Spontantod des Hochzeitsgastes damals während der Hochzeit tatsächlich schlechtes Karma.

Knuth Hunoldt war aber nicht nur Pastor, sondern auch der Bestatter im Ort. Alles fing mit einem Nebenjob an, einer AB-Maßnahme, der aber schnell zu einer Passion wurde. Das machte auch irgendwie Sinn. Trauerrede ausarbeiten, Grube ausheben – alles blieb in einer Hand. Nach dem Tod eines Dorfbewohners konnte er sofort die Maße des Verblichenen nehmen, jedenfalls so Pi mal Daumen, und in seinem Showroom schon mal ganz in Ruhe eine Vorauswahl geeigneter Endlagerungen treffen. Eiche rustikal, Kiefer oder Birke neutral, manchmal auch Furnier, scheißegal – er liebte den Geruch von Holz. Regelmäßig wurden seine selbst kreierten Werbe-Flyer verteilt. Das übernahm er meistens in Eigenregie. Sein Slogan: Wie bei einer Immobilie ist nicht der Preis entscheidend, sondern die Lage.

Peng - das war auf den Punkt gebracht. Er war stolz auf diesen Satz.

Diese formschönen Flyer, aus fester Pappe und in Sargform liebevoll ausgeschnitten, wanderten in die Briefkästen. Laubsägearbeiten aus Holz wären natürlich noch realistischer gewesen, doch er wollte es auch nicht übertreiben. Die Pappe sollte trotzdem die Stabilität seiner Holzkisten suggerieren. Ein Tischler aus Polen, von dem er die Särge bezog, räumte ihm immer einen Rabatt ein – drei für zwei zum Beispiel. Manchmal war auch Sale.

Wegen Hunoldts zufriedenen Grinsens und seiner beruhigenden Alltagsintelligenz, die nicht zu hohe Anforderungen an die seiner Mitmenschen stellte, war er allgemein beliebt.

Es war schon lange kein Geheimnis mehr, dass Knuth Hunoldt vom anderen Ufer war – und damit war nicht das andere Ufer des Nord-Ostsee-Kanals gemeint.

Hunoldts Interesse an dem sündigen Laden wurde schon früh geweckt.

Gleich nach Eröffnung, beim Glücksraddrehen, sahnte er als Hauptgewinn einen schwarzen Dildo ab. Er freute sich wie ein kleines Kind über Süßigkeiten, denn schwarz passte eigentlich zu allem.

Der damalige Eigentümer des Sex-Shops war ein gewisser Kalle Holtzapfel, ein aalglatter Typ aus dem Hamburger Rotlicht-Milieu.

Doch der Sex-Bunker passte einfach nicht ins Dorf und wurde damals von den Dorffrauen massiv attackiert ... mit einem Bombardement aus Obst und Gemüse aus Veras Laden.

Aber auch Eier und sogar Melonen mischten sich unter das vegane Zeugs. Das Werfen mit Melonen stellte allerdings Probleme dar, die Frauen kamen damit nicht so weit. Die Melonen zerplatzten häufig schon direkt vor ihren Füßen und beschmutzten Hose, Rock und Schuhe ... und den Bürgersteig.

Wie das Leben so spielt … es gibt Verlierer und Gewinner. Verlierer war damals Kalle, denn der verlor sein Leben nach einem vorsätzlichen Giftanschlag.

Gewinner war in diesem Fall Knuth. Da der Vorbesitzer keine Erben hatte, ging der Sex-Shop nach einer Versteigerung in den Besitz des Pastors über. Er erhielt den Zuschlag zu einem Schnäppchen-Preis. Für ihn ein Glücksgriff. Ganz besonders viel Umsatz machte er neuerdings mit dem Online-Handel, mit dem er auch die umliegenden Dörfer versorgte. Diskret und anonym – das war sein Anspruch.

Auch Frau Hoyer-Schmidt zeigte seit Kurzem Interesse am Sortiment.

Sie hatte die Massagestäbe für sich und ihre Praxis entdeckt. Die sollten nun hartnäckige Blockaden im Rücken und Nacken lösen. Seitdem sie diese einsetzte, konnte sie sich vor Überweisungen an ihre Praxis nicht mehr retten. In der Fantasie einiger Männer wurden die Massagestäbe mit ihren roten High Heels verknüpft, und führten nicht selten dazu, dass Doktor Hagen gerufen werden musste, weil ein Patient auf Hoyer-Schmidts Liege wegen übermäßiger Erregung zusammenbrach.

Es hatte sogar schon einen Toten gegeben, ein Bluthochdruck-Patient. Da kann einem schon mal der Kopf explodieren wie bei einem Druckkessel das Ventil. Tja, dahingerafft durch ein zirka fünfundzwanzig Zentimeter großes Ding aus hochentwickeltem Silikon wie Polyurethan.

»Auch wenn alles homoapathisch ist, ich hab keinen Bock«, kommentierte Bauer Jensen die für ihn etwas anrüchige Massage, die er laut Doktor Hagen zur Entspannung ausprobieren sollte.

»Homöopathisch«, berichtigte Hagen. »Rückengymnastik ist kein Hexenwerk.« Trotz dieser Worte konnte Doktor Hagen den Bauern nicht überreden, wenigsten an einer Session-Sitzung teilzunehmen.

Mittlerweile hatte sich der Erotik-Laden im Dorf etabliert. Auch die Frauen genossen die Happy-Hour ab siebzehn Uhr und andere Amüsements wie Flatrate-Einkäufe.

Knuth Hunoldt staunte nicht schlecht, als er von zwei Männern, die er vorher noch nie gesehen hatte, besucht wurde. Ihm wurde etwas mulmig, da ihr Auftreten für seinen Geschmack sehr progressiv war und zusätzlich noch ein fremder Dialekt gesprochen wurde.

»Sie sind der Padre? Der Chef von dieses Milieu?«, fragte einer der Männer.

»Si. Ähm … ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir haben gehört, der Kalle ist tot?«

Der Pastor nickte nur.

Die beiden Italiener lächelten sich an, während sie den Pastor darüber in Kenntnis setzten, dass ab sofort gewisse Anteile an dem Laden in den Besitz der Männer übergehen würden.

»Wie jetzt!? Was für Anteile. Ich habe den Laden ordnungsgemäß ersteigert.« Hunoldt war sichtlich verdutzt.

»No, Signore Hunoldt. Per favore, Kalle schuldet uns noch fünftausend Euro.

Die kriegen wir nun von Ihnen. Wenn nicht, übernehmen wir. Sie verstehen?«

Knuth Hunoldt wusste nicht, wie ihm geschah. Da könnte ja jeder kommen und Forderungen stellen. Außerdem, wo sollte er fünftausend Euro hernehmen. Die Gewinne aus dem Laden flossen zu einhundert Prozent in die Kirche. Sein Job als Bestatter warf nun auch nicht so viel ab – im Moment starb einfach niemand. Der Lohn als Pastor war auch nicht so üppig. Die Kirche war knauserig.

»Nur über meine Leiche!«, schnauzte er.

Beide Männer grinsten sich an: »Va bene. Wenn es weiter nichts ist.«

Auch der Pastor vermutete unter den langen Mänteln der Italiener Waffen.

Und tatsächlich. Einer der beiden knöpfte seinen Mantel auf und legte das Macho-Teil frei. Bevor hier falsche Schlüsse gezogen werden, er legte den Blick auf die Waffe frei.

Der Pastor war schockiert. Er wurde blass und Schweißperlen machten sich auf seinem Gesicht breit. Sie verteilten sich großzügig auf der Stirn und der großporigen Nase und bildeten kleine Seen. Es ist anzunehmen, dass auch Brust, Bauch und Rücken betroffen waren. Es wäre nur eine Frage der Zeit, wann sich die Flecken von der Haut durch sein Hemd genässt hätten.

Auch zwischen den Beinen und vor allem in der Po-Ritze quoll gerne mal der Schweiß nach außen. Man könnte behaupten, der gesamte Körper hätte seinen Jahresbedarf an Feuchtigkeit spontan ausgeschüttet.

In diesem Moment betrat Polizeimeister Dirk Schwartz den Sex-Shop.

Angesichts seiner Uniform verschwanden die Männer rasch.

PM Schwartz schaute neugierig hinterher.

»Was war hier los? Vera und Anke haben mich angerufen, ich soll mal zu dir rüber gehen … Gefahr in Verzug!«

Der Pastor atmete tief durch. »Ich war noch nie so froh, dich zu sehen«, keuchte er.

»Wer war das denn!? Du bist ja ganz blass.«

»Die Mafia.« Hunoldt bekam weiche Knie und musste sich erst einmal setzen.

Polizeimeister Schwartz holte ihm einen Schluck Wasser aus der Küche und fragte noch mal nach: »Welche Mafia? Was wollten die denn ausgerechnet von dir? Waren die bewaffnet? Haben die dich bedroht?« Dirk Schwartz setzte dem Pastor mit seiner Fragerei ziemlich zu.

»Na logisch haben die mich bedroht! Wie sah das denn für dich aus, hä?«

»Womit denn?«, fragte der Polizist weiter und machte sich jetzt Notizen in sein kleines Büchlein, das er umständlich aus der Jackentasche gefummelt hatte.

»Mit handelsüblichen Kalaschnikows.«

Jetzt musste sich auch Polizeimeister Schwartz setzen und trank den letzten Schluck Wasser aus Hunoldts Glas auf ex.

»Die haben mich damit bedroht und wollen fünftausend Euro haben, sonst würden sie sich meinen Laden unter den Nagel reißen.«

»Eine feindliche Übernahme also …«, sagte Schwartz leise, mehr zu sich selbst. Dabei machte er sich weitere Notizen in sein Büchlein.

»Ich halte die beiden Typen für sehr gefährlich. Die wollen mir was antun, das spüre ich. Ich brauch Polizeischutz!«

PM Schwartz machte ihm klar, dass er kein Recht auf Polizeischutz hätte, es wären erstmal nur Vermutungen und schließlich wäre ja noch nichts passiert. Knuth solle die Typen nicht provozieren. Unverständnis bei Hunoldt. »Merkst du selber, ne? Die haben mich provoziert.« Jetzt wurde er laut. »Muss erst was passieren!? Du bist schuld, wenn ich irgendwann hier tot in meinem Laden liege und ausblute!«

»Ich kann sie aber im Auge behalten.« Schwartz signalisierte dem Pastor damit seine Anteilnahme und bestätigte Hunoldt, dass er ihn ernst nahm.

Sodom und Camorra

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