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5. LATERNENFISCHE

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Ziemlich genau vier Monate nach meinem Unfall sitze ich bei Pastor Lolling zu Hause am Holzimitatküchentisch, der bei jeder Bewegung in einer quietschenden Terz auf seinen Gummibekappten Metallrohren hin- und herwackelt. Pastor Lollings Einbauküche stammt noch aus den Sechzigern, weiße Resopalschränke mit Metallgriffschienen. Auf der grau gesprenkelten Arbeitsplatte steht ein aus Metalldraht geflochtener Obstkorb mit zwei Apfelsinen und einem schrumpeligen Apfel. Über der Tür ein Holzkreuz, der Abreißkalender neben dem Lichtschalter. Die Kaffeetasse mit orangefarbenem Prilblumendekor vor mir ruht auf einer Untertasse mit ausgeblichenen hellblauen und türkisfarbenen Ringen.

Die pastellblaue Küchenuhr tickt hinkend.

Es ist, als sei die Zeit bei Pastor Lolling stehen geblieben. Soweit ich weiß, hat er seine Frau schon früh verloren. Bei der Geburt des ersten Kindes seien Mutter und Kind gestorben. Dann war halt niemand mehr da, der neues Geschirr oder neue Gardinen gekauft hätte.

Er scheint meine Gedanken zu lesen.

„Ist noch einwandfrei und mir gefällt es“, lächelt er. „Hat mir damals gefallen, wieso sollte ich es jetzt nicht mehr mögen?“, meint er, während er die Tasse in seiner Hand dreht.

„Die Sechziger sind ja mittlerweile wieder modern“, gebe ich zu.

Er zuckt mit den Schultern, stellt die Tasse klirrend auf die Untertasse, verschränkt seine faltigen Hände und schaut mich an.

„Ach, Kind!“, sagt er und es stört mich nicht, dass er mich so anredet. „Der Herr geht manchmal sehr verstörende Wege mit uns.

Dann schweigt er lange, aber er sieht mir direkt ins Gesicht, nicht so wie die meisten anderen, die sich nicht mehr trauen, mir in die Augen zu sehen. Ein freundlicher, ernster Blick, ohne Lächeln.

„Manchmal gibt es Situationen im Leben, da könnte man fast glauben, dem Herrn wäre ein Irrtum unterlaufen. Aber glaube mir“ – er legt seine kühle Pergamenthauthand auf meine Narben – „Gott macht keine Fehler. Er weiß, was er tut.“

Wenn Pastor Lolling mich damit hat trösten wollen, ist das gehörig schiefgegangen. Wenn, wie er meint, der Unfall kein Fehler war, muss es ja wohl Absicht gewesen sein, was die Sache wirklich nicht besser macht. Wenn Gott mir Sünde hat zeigen wollen, hätte er das nicht anders tun können?

Vor zwei Tagen habe ich Pastor Lolling nach über zehn Jahren in Moers wiedergetroffen. Damals hatte er Opa Joschka beerdigt und vorgestern meine Tante Luise. Beim sogenannten Leichenschmaus habe ich ihm von meinem Unfall erzählt und davon, dass ich Gott nicht verstehe. Daraufhin hat er mich gefragt: „Liebes, willst du mich alten Mann nicht mal besuchen kommen, solange du noch hier bist? Ich würde mich jedenfalls über deinen Besuch sehr freuen.“

Ich habe die Einladung angenommen und drehe nun nervös die Tasse zwischen meinen Fingern.

„Es ist keine Strafe Gottes“, sagt er unvermittelt. „Es geht nicht um Sünde.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, frage ich zurück, überrumpelt von seiner Direktheit. „Gott handelt nicht grundlos. Haben Sie gerade selber gesagt. Was macht Sie also so sicher, dass nicht Sünde der Grund ist?“

Er lächelt vielsagend, beinahe verschmitzt.

„Weil unsere Sünde am Kreuz ist.“ Behutsam fährt Pastor Lolling mit seinem Mittelfinger den abgewetzten Goldschnitt seiner Bibel entlang und murmelt: „Genau das ist doch das Evangelium, dass wir vollkommen und gerecht sind – allein durch das Opferlamm Christus. Geliebt, gesegnet, gehalten. Wir sind Eigentum des Allmächtigen.“


Ruhig, unaufgeregt sind seine Worte, fast so, als wären sie sein Vermächtnis an mich, aber ich finde, die Worte passen nicht zu meiner verkrüppelten Hand. Sie passen nicht zu dem, was ich erlebt habe.

„Viele verstehen das Evangelium nicht“, fährt er fort. „Viele glauben zwar, mit ihrer Bekehrung werden alte Sünden fortgenommen, meinen aber, jede Sünde, die dann geschieht, muss neu vor das Kreuz gebracht werden, um Gottes Zorn abzuwenden.“

Er schaut mir direkt ins störrische Gesicht.

„Dabei ist der alte Mensch der Sünde nicht mehr von Belang.“

Noch immer wächst die Revolte in mir. Wovon redet er? Ich bin doch nicht hier, um mir die Predigten anzuhören, die er vor seiner Pensionierung noch loswerden will. Starre in meine leere Tasse.

„Es ist schlimm“, fährt er fort, „dass das Evangelium so falsch verstanden wird. Es geht doch in erster Linie nicht um unser Tun, sondern um die Wirklichkeit Christi in uns durch seine Erlösungstat. Sein versöhnendes Blut reinigt und schützt uns.“

Versteht der Alte denn nicht? Hat er keine Augen im Kopf? Wenn das Blut mich wirklich geschützt hätte, wäre ich jetzt kein Krüppel.

Unbeirrt redet er weiter: „Diese Lehre, die unsere Schuld in den Vordergrund stellt und nicht die Erlösungstat unseres Herrn Jesus, ist falsch.“

Das weiß ich doch alles selber, denke ich und bereue, gekommen zu sein. Ich hatte gehofft, der Alte hätte ein Wort des Trostes für mich, einen Hinweis, was es war, das mich meine Berufung gekostet hat. Das hier muss ich mir nicht antun.

Ich suche nach nicht zu unfreundlichen Abschiedsworten, so was wie: „Vielen Dank, aber ich muss jetzt wirklich gehen …“, als er ergänzt: „Ganz davon abgesehen, können wir getrost davon ausgehen, dass die Ahndung von Sünde ganz sicher nicht die Lieblingsbeschäftigung eines Schöpfers ist, der sich Laternenfische, Paradiesvögel und Erdmännchen ausdenkt.“


Komisch. Manchmal gibt es Sätze, die sind wie Lichtschalter. Manchmal sind diese Sätze gar nicht besonders. Aber sie schalten etwas um.

Der Laternenfischsatz ist so ein Satz. Mit einem Mal höre ich zu. Die Laternenfische haben mich überzeugt: Ein Gott, der so was erschafft, dem muss es im Wesentlichen um Schöneres, Leichteres gehen als um unsere Sünde. Gott ist Künstler. Auch er ist Musiker, ein Komponist, dessen Instrumente das Knistern von Feuer, das Gurgeln von Wasser, das Platschen nackter Füße sind.

Als hätte sich mein Hirn auf Empfang geschaltet, lauscht es, was Pastor Lolling erklärt: „Paulus sagt in Philipper 3, Vers 6, er sei nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen. Ist schon seltsam, nicht wahr? Derselbe Mann, der an anderer Stelle meinte, es sei an sich unmöglich, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig zu sein, genau dieser Mann behauptet hier von sich das Gegenteil. Da widerspricht sich unser lieber, unbequemer Bruder doch, oder?“

Pastor Lollings Augen funkeln. Offensichtlich macht ihm die Sache hier Spaß.

„Dann aber kommt Bruder Paulus erst richtig in Fahrt. Alles Dreck, Müll, die ganze Frömmigkeit, die Tugend, das Gesetz, Mistzeug nennt er es, je nach Derbheit des Übersetzers. Lies ruhig nach“, sagt er und blickt mich eindringlich an. „Paulus erachtet also genau das für schädlich, wonach sich die meisten Christen verzweifelt ausstrecken: die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, zu erfüllen. Sie mühen sich ab, und wenn sie scheitern, zücken sie ihr Notpaket ‚Vergebung durch das Kreuz‘.“

Mittlerweile hänge ich begierig an jedem Wort, erfasst von der Vehemenz, mit der der alte Mann spricht.


„Unser Bruder Paulus ekelte sich vor genau dieser Art der Gerechtigkeit, die die meisten Christen so eifrig anstreben“, fährt er fort. „Er wollte stets nur das eine: Christus erkennen, ihn groß machen, die eigene Gerechtigkeit loslassen um Christi willen.“

Plötzlich, hier am Küchentisch, ahne ich, dass ich im Grunde das Evangelium nicht verstanden habe, obwohl ich selber es unzählige Male gesagt habe: Nicht Sünde ist das Thema des Evangeliums, noch nicht einmal Vergebung oder Gerechtigkeit, sondern Christus selbst. Habe ich es damals nicht schon geahnt, als ich mich bekehrte? Christus ist Anfang und Ende, in ihm ist alles geschaffen, auf ihn alles ausgerichtet. Wann habe ich das vergessen?

„Und deswegen, mein Kind, bin ich so sicher, dass der Unfall keine Strafe Gottes war.“

Pastor Lolling steht umständlich auf, geht zur Kaffeemaschine, um uns noch von dem Gebräu in unsere Tassen zu füllen. Dann setzt er sich und erneut rührt er in seiner Tasse, legt den Löffel auf die Untertasse, alles ganz langsam, als handele es sich um eine tausend Jahre alte Zeremonie.

„Aber warum hatte ich dann diesen Unfall?“, frage ich frei heraus. „Wieso hat Gott mich nicht bewahrt? Er hatte mich doch gerade erst in meine Berufung geführt … Das macht doch keinen Sinn. Er hat mir genau das genommen, was mir wirklich wichtig war.“ Fast heule ich wieder.

„Du kennst doch die Geschichte von Abraham.“ Pastor Lolling lehnt sich zurück, die Tasse noch immer in seiner Hand. „Gott befahl ihm, Isaak, den Sohn der Verheißung, zu opfern.“

Er setzt die Tasse ab und hebt seine Hände gestikulierend vor die Brust.

„Das muss man sich mal klarmachen: Gott verlangte nicht nur den Tod des Sohnes – Kindesopfer waren dazumal keine Seltenheit –, das Besondere an der Sache war: Gott forderte von Abraham, den Träger der Verheißung zu töten, also genau den Sohn, durch den sich Gottes Verheißungen an Abraham erfüllen sollten.“


Pastor Lolling faltet seine Hände und schließt die Augen. Fast glaube ich, er sei eingeschlafen. Doch dann schlägt er die Augen wieder auf und sagt:

„Erst als Abraham dazu bereit war, das Wahrwerden der Verheißung völlig in Gottes Hand zu geben, obwohl es dem gesunden Menschenverstand, den Erwartungen, allem, was Gott vorher getan hatte, komplett zu widersprechen schien, erst da erwies Abraham sich als würdig, Vater der Glaubenden genannt zu werden.“

Ich schlucke. Es läuft mir heiß den Rücken runter, als ich die Parallelen begreife: Gott hatte von Abraham tatsächlich das Widersinnigste verlangt: das, was er ihm zuvor geschenkt hatte, zu töten.

„Wir können Gott nicht verstehen, Kleines. Wir können ihm nur vertrauen, der Rest ist sein Problem. Er will unser Bestes, und wenn wir ihn machen lassen, kommt er mit uns zum Ziel.“

„Ich will Gott vertrauen, Pastor Lolling“, flüstere ich und es klingt irgendwie feierlich. „Ich will mich seiner Hand fügen. Was immer er will, will auch ich, koste es, was es wolle.“

Das Lächeln des Alten hat etwas Beglücktes und Trauriges zugleich und ich spüre Entschlossenheit in mir aufsteigen. Mut, Gottes Wegen zu vertrauen, eine beinahe zornige Unerschrockenheit.

Im selben Moment entschließe ich mich, Gott meine Berufung zur freien Verfügung auszuhändigen. Sie kommt von ihm. Er darf geben und nehmen.

„Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen …“, flüstere ich und kribbelnde Wärme, Trost und Frieden durchfluten mich.

Pastor Lolling streicht mir über die Wange: „Ich werde für dich beten.“

Der Alte und ich sitzen dann noch ziemlich lange da und lauschen der Küchenuhr.


„Ich glaube, ich muss jetzt gehen“, sage ich, als sie sechsmal schlägt. Mühevoll rappelt er sich auf, um mich zur Tür zu begleiten.

„Vielen Dank, ganz herzlichen Dank!“, stammele ich und werfe mich dem kleinen Alten unvermittelt an die Brust. Er schwankt bedenklich und lächelt mich dann schüchtern an.

„Gott befohlen.“ Er winkt unbeholfen, als er beim Abschied in seiner Wohnungstür steht.

Die Pianistin

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