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4. WARUM?

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Mittlerweile sind wir seit sechs Jahren in Gießen, Felix bastelt seit Anfang des Jahres an seinem großen Traum, einer eigenen Jazzband. Ich habe all die Jahre viel und vergeblich versucht, als Musikerin beruflich Fuß zu fassen. Aber es brauchte gute fünf Jahre voller Absagen und Hilfsjobs, bis ich endlich „entdeckt“ wurde. Und zwar von Henry. Henry stand eines Tages nach einem kleinen Auftritt in unserer Schwestergemeinde in Frankfurt plötzlich vor mir.

„Was Gott Ihnen geschenkt hat, ist so groß, dass es mir eine Ehre wäre, Ihre Karriere begleiten zu dürfen. Ich würde gerne als Ihr Agent für Sie arbeiten“, meinte er.

Ich war so konfus, dass ich den armen Henry vor lauter Aufregung mit frommen Plattitüden wie „Wenn der Herr es will“ oder „Alles zur Ehre Gottes“ überschüttete, die ich zwar ehrlich meinte, die bei Henry allerdings einen Gesichtsausdruck hervorriefen, als hätte ich ihm vorgeschlagen, seinen Mantel zu frittieren.

Jetzt ist Henry mein Agent und hat bereits jede Menge Auftritte aus seinem Ärmel gezaubert. Connections halt.

Meine Karriere verläuft ebenso unerwartet wie steil.

Heute spiele ich in Köln. Ich sitze hoch oben auf einer großen, spiegelnden Bühne an einem ebenfalls spiegelnden Bechstein-Konzertflügel, berauscht von der Musik und der Gegenwart Gottes, die die hohe Glaskuppel über mir erfüllen. Die Menschen unten im Saal seien dem Himmel begegnet, werden sie mir nach dem Konzert sagen. Ich weiß das, denn ich habe das schon oft erlebt.

Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden. Gott hat mir meinen Herzenswunsch erfüllt. Ich darf Musik machen! Für ihn!


Die Scheinwerfer oben an der Decke schwenken auf mich, das Blau wechselt, beinahe golden blenden die Strahler. Letzter Akkord. Stille, nochmals Stille, dann Applaus.

Ich genieße diesen zerbrechlichen Moment nach dem letzten Akkord, diesen Moment von Ewigkeit, wenn die Zuhörer wie verzaubert schweigen. Ach, hätte Opa Josch das erleben können!

„Herr, gib mir immer die nötige Demut“, schießt es durch meinen Kopf, als ich die vielen Hände sehe, die sich in die Höhe recken.

Alles zur Ehre Gottes, betet es in mir und es ist mir ernst damit.

Auf dem Rückweg fahre ich laut singend über die Landstraße, noch ganz beflügelt von dem Abend, das Halleluja von Händel aus den Boxen. Was für ein Glück! Der Nachklang der Gegenwart Gottes in mir. Dem Himmel so nah!

„Mehr von dir, Herr, ich will immer mehr deine Nähe erleben. Ich lege mein Leben in deine Hand, verfüge völlig über mich, mein Gott!“, bete ich inbrünstig. Ich bin so glücklich. Was gibt es Schöneres, als von Gott gebraucht zu werden? Demnächst soll sogar meine erste CD aufgenommen werden.

Ich bin erfüllt von der Euphorie der vergangenen Stunden, während sich die Kegel der Scheinwerfer unseres kleinen, hellgelben Citroëns in die Dunkelheit bohren. Bald werde ich zu Hause sein. Heute Nacht will ich nicht im Hotel übernachten, obwohl es wieder spät geworden ist – ich will heute neben Felix liegen.

Aber es soll anders kommen.

Natürlich sehe ich den hellen Sprinter, auch den VW-Caddy, den er überholt. Und das Scheinwerferpaar, das auf mich zurast. Ganz langsam, wie abgeschossene Pfeile in Zeitlupe, suchen sie ihr Ziel. Klebrig zäh fließt die Zeit, als wolle sie mir die Frist lassen, mein Leben zu überdenken. Aber seltsam, ich denke nicht. Ich starre nur in das erschrockene Gesicht des Fahrers, seine geweiteten Augen im Licht meiner Scheinwerfer. Dann verschmilzt der Sprinter mit meinem Citroën, vorne links, aber ich habe keine Angst, ich bin einfach nur da, bestaune die Falten, die meine Motorhaube wirft.


Vielleicht sterbe ich jetzt, konstatiere ich nüchtern und betrachte das feine Netz auf meiner Windschutzscheibe, nehme die Schönheit des Gesetzes wahr, nach dem die Scheibe zersplittert, diese grandiose Choreografie der Millionen Glassplitter, die sich einer nach dem anderen in allen Tönen knisternd vor mir bilden, glitzernd wie Wassertropfen.

Keine Angst, nur – Verwunderung. Dann dreht sich der Innenraum meines Wagens. Im Dunkel draußen steht die Welt Kopf, Scheinwerferlicht in den Baumkronen. Ganz kurz nur, die Parkgroschen fallen lautlos herab – Sterntaler.

Dann sehe ich meine Linke zwischen Holm und Windschutzscheibe stecken. Eine gelbe Metallschiene ragt mitten aus meiner Hand und alles voller Blut. Ich frage mich, wo der Schmerz bleibt. Dann erst höre ich das Krachen und es wird dunkel um mich.

Irgendwann bin ich wieder zurück, weiß, dass ich nicht tot bin, denn wäre ich tot, hätte ich sicher nicht diesen Schmerz in meiner linken Hand, meinem Bein, im Gesicht, im Rücken.

Ferne Geräusche, eilige Schritte, Türen knallen, ein Ticken und auf dem Flur quietscht ein Wägelchen in a-Moll.

Als ich nach einer Ewigkeit endlich die Augen öffne, sehe ich Felix neben meinem Bett kauern, sein schiefes, verschämtes Lächeln. Er streichelt meine rechte Hand, ich lächle zurück. Ein Reflex – das dringende Bedürfnis, den unglücklichen Felix zu trösten.

Die Schwester kommt, stellt am Tropf herum, lächelt an mir vorbei, geht wortlos wieder.

Später kommt eine andere Schwester und bringt Tabletten.

„Schlucken.“ Ich frage nicht nach, gehorche.

Stundenlang sitzt Felix schweigend an meinem Bett. Felix, der Unbeschwerte. Er hat kein Register für Situationen wie diese. Das hier passt nicht in sein Weltbild. Auch in mein Weltbild passt es nicht.


Hinter meinen geschlossenen Augenlidern wechselnde Bilder. Meine Finger auf den Tasten, dann Blut, der Holm in meiner Hand, Schlussakkord, blanke Knochen.

„Ich habe Gott gebeten, dass er dich heilt und alles wieder gut wird“, sagt Felix irgendwann und er klingt wie ein Kindergartenkind. Ich nicke dankbar und fasse seine Hand. Im Moment kann ich nicht klar denken. Das liegt sicher am Schock. Oder an den Tabletten. Wer weiß. Das wahre Entsetzen wird noch kommen, nehme ich an. Noch weigert mein Gehirn sich zu verstehen. Wie ein Computer, der immer an derselben Stelle abstürzt. Systemfehler. Es muss ein Irrtum vorliegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies der Wille meines liebenden Vaters ist.

Später, als Felix weg ist, schlage ich meine Bibel auf, die er mir mitgebracht hat. Sie öffnet sich in der Mitte: Psalm 121: „Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht. Der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Der HERR behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!“

Ich verkrieche mich in den Laken.

„Der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand.“

Und was ist mit meiner Linken? Ich ringe einen Vorwurf nieder und ziehe die Bettdecke noch weiter über meinen Kopf.

„Der HERR behüte dich vor allem Übel …“

„Sie haben Glück gehabt“, behauptet Dr. Andresen tags drauf bei der ersten Visite. „Wir konnten das untere Glied des Daumens erhalten, allerdings mussten wir die beiden letzten Daumenglieder amputieren, sie waren komplett zerschmettert. Wir hoffen, die Greiffunktion langfristig wenigstens rudimentär wiederherstellen zu können. Die Mittelhandknochen des Zeigefingers und Mittelfingers haben wir gedrahtet. Leider war das Endglied des Zeigefingers nicht zu erhalten. Die gesamte Handwurzel ist stark traumatisiert. Inwiefern die völlige Funktionsfähigkeit von Sehnen, Muskeln und Nerven wiederhergestellt werden kann, Frau Lautermann, können wir zum jetzigen Moment noch nicht absehen. Er unterbricht seinen Bericht für einen schnellen Blick in den Ordner auf seinem Arm und beendet seinen Rapport mit den Worten: „Alle anderen Verletzungen wie die Prellung ihres Oberschenkels und die Abschürfungen und Schnitte in ihrem Gesicht sind vollständig reversibel und werden schnell abheilen. An der Wirbelsäule hat es allerdings Stauchungen gegeben, die Ihnen noch eine Weile Beschwerden machen werden, ansonsten haben Sie Glück gehabt.“


Dr. Andresen und seine Begleiter lächeln mich an, als hätten sie mir eine Freudenbotschaft überbracht. Vielleicht bin ich ja undankbar, aber ich finde nicht, dass ich Glück hatte.

Ich werde nie wieder Klavier spielen können.

Ich bin froh, dass sie keinen Kommentar von mir erwarten, sondern sofort wieder gehen und ich die nächsten Stunden mit meinem Kummer allein bin, um die kahle Wand gegenüber meinem Bett anzustarren.

„Darf ich?“

Leise öffnet sich die schwere weiße Tür meines Krankenzimmers.

Henry! Beinahe entschuldigend lugt sein rundes Gesicht durch den Türschlitz, dann schleicht er, als täte er etwas Verbotenes, an mein Bett und setzt sich vorsichtig auf die Kante. Dass er als mein Agent extra seinen Urlaub unterbrochen hat, um mich im Krankenhaus zu besuchen, rührt mich. Ist mir aber andererseits sehr peinlich. Er hat sich solche Mühe mit mir gemacht, so viel investiert. Er war so davon überzeugt, dass der Herr Großes mit mir vorhat.


Und nun?

Wir schweigen uns an. Ich sehe wohl, dass Henry einige Male zum Sprechen ansetzt, aber es bleibt bei seinem Schweigen. Ist mir auch lieber so, denn was soll man auch sagen? Ich will keinen billigen Trost und ich weiß, Henry versteht genauso wenig wie ich, was passiert ist.

Im Übrigen habe ich den Eindruck, als hielte er alles aus irgendeinem unerfindlichen Grund für seine Schuld. Deswegen nicke ich ihm lächelnd zu. Natürlich ist es nicht seine Schuld. Wenn schon, dann meine. Vielleicht fehlte mir die Demut oder ich habe mir etwas anderes zuschulden kommen lassen, ich weiß nicht … dass ich … irgendwie … Vielleicht war ich dessen nicht würdig …

„Ich weiß nicht …“ Ist vielleicht alles Unsinn. Dann versiegt mein Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Henry zuckt kaum merklich mit der Schulter, als verstünde er mein Gestammel.

Als er mich beim Abschied umarmt, lausche ich seinem vergeblichen Versuch, den Kloß im Hals hinunterzuschlucken.

Felix besucht mich täglich vor den Proben. Er versucht mich aufzumuntern.

„Na, mein zerkratztes Kätzchen, wie geht es heute deinem Pfötchen?“, begrüßt er mich jeden Tag und ich antworte jeden Tag „Gut!“, denn die Wahrheit kann ich ihm nicht zumuten, ich sehe ja, wie sehr er mit mir leidet. Ich lächle und erstatte Bericht, wann welcher Arzt was gesagt hat, was es zu essen gab, und Felix bestellt mir Grüße und beklagt sich über den ersten Geiger und über den Synkopenverdreher.

„Alles wird gut!“, wiederholt er dann jeden Tag zum Abschied. „Ich bete für dich.“ Und ich nicke ihm mein Abschiedslächeln hinterher.

Der Hauskreis kommt natürlich auch. Tanja sitzt wie ein Häufchen Elend am Fenster und krallt sich mit ihren Kinderfingern an ihrer Bibel fest. Sie traut sich nicht, mich anzusehen, und starrt stattdessen konzentriert auf den Metallfuß meines Tropfes. Rechts neben dem Bett stehen Natalie und Achim, ungewöhnlich vereint, ein seltsames Paar, der dürre, immer ungekämmte Achim, der sich hinter seiner fülligen Frau zu verstecken sucht. Sie haben mir Obst und Gemüse aus ihrem Garten mitgebracht.


Auf der anderen Seite des Bettes steht Jan hinter seiner Frau Sabine, die den Maxi-Cosi mit Laetizia, ihrem Töchterchen, auf dem Schoß hat. Ihr nervöses Wippen ist das einzige Anzeichen von Leben in diesem Raum. Das beeindruckende Stück Sachertorte neben der Papiertüte mit den Biokarotten stammt von Jan. Tanjas riesiger Blumenstrauß ist mit Caro schon vor Längerem hinter der Tür zum Flur verschwunden, auf der Suche nach einer Vase.

Uns allen fehlen die Worte. Wir alle waren begeistert davon, dass Gott mir endlich nach langem Harren und Beten einen Weg gebahnt hatte, dass ich endlich in meiner Berufung war. Dass ich spielen durfte, dass so viele Menschen berührt wurden. Und jetzt das. Wer soll das verstehen? Ich will noch immer nicht reden, denn ich habe Angst, dass alles über mir zusammenbricht, wenn ich die Frage laut stelle: Warum? Und ich sehe, dass es den anderen auch nicht anders geht.

Gott sehnt sich danach, verherrlicht zu werden, davon waren und sind wir zutiefst überzeugt. Was bitte ist an einer verkrüppelten Pianistenhand herrlich? Ich bin erleichtert, dass sie gehen, ohne diese offensichtliche Frage ausgesprochen zu haben. Tanja haucht mir noch einen Kuss zu, kurz bevor sie die Tür hinter allen schließt.

Nach drei Wochen darf ich nach Hause, in unsere schweigende Wohnung zu meinem verzweifelt witzelnden Mann, wo ich mir weiterhin den Kopf zermartere. Ich dachte, Gott hätte Gefallen daran gehabt, wenn ich am Klavier sitze. Oder war das alles nur ein egoistischer Trip? War es mir am Ende überhaupt nicht um Gott, sondern nur um mich gegangen?


Ich starre auf meine Finger.

„Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.

Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.“

Kleiner Finger und Ringfinger stehen spöttisch neben den Veteranen eines unfairen Krieges. Der Daumen nichts als ein Stummel.

„… Der Schatten über deiner rechten Hand …“

Wie ein schlecht zugebundener Sack hockt er neben dem geköpften Zeigefinger, mit dem er sich die bläuliche Narbe teilt, die erst in der Handinnenfläche ausläuft. Der Mittelfinger krümmt sich steif wie ein gebeugter Greis.

„Er behüte deine Seele.“

Ich brauche zurzeit viel Ruhe. Ich hoffe, Gott erklärt mir, was passiert ist. Ich durchforsche die Bibel nach Antworten und sehne mich danach, alleine zu sein. Ich freue mich auf zehn Uhr, wenn Felix zur Probe muss. Und auf die Abende, wenn er Aufführung hat. Dann höre ich Bach oder sitze am Klavier, spiele ein paar halb fertige Akkorde mit meiner rechten Hand und starre auf meine unförmige Linke, während Felix im Orchestergraben Klarinette spielt und sich über seine Kollegen ärgert.

Wenn Felix nach der Aufführung wiederkommt, stelle ich mich schlafend.

„… dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.“

Dreimal die Woche gehe ich zum Physiotherapeuten. Vor allem soll ich das Greifen wieder lernen. Auch der Zeige- und der Mittelfinger müssen trainiert werden.

„Seien Sie froh, dass es Ihre Linke erwischt hat“, versucht der Physiotherapeut mich zu trösten. Ich lache innerlich bitter auf. Zum Klavierspielen brauche ich beide Hände. Aber ich sage so was wie: „Ja, Glück im Unglück.“

Das wollen die Leute hören.

Zum Gottesdienst gehe ich erst vier Wochen nach meiner Krankenhausentlassung.

„Wir danken dir, Herr, dass du bei Joelles Unfall dabei warst“, betet Holger, nachdem er die Geburtstage bekannt gegeben und den Gottesdienst „unter den Segen gestellt“ hat. „Es hätte noch viel Schlimmeres passieren können. Danke, dass du ihr Leben bewahrt hast, Herr.“

Aber ich finde, es ist das Schlimmste passiert, was ich mir vorstellen kann. Was für ein Leben soll das sein, das da bewahrt wurde? Musik ist mein Leben! Lobpreis ist mein Atmen!

Sechs Wochen nach meiner Entlassung ruft Manuel Krieger an. Der Agent von „Blessing Music“. Er will mir den Termin für die Aufnahmen mitteilen. Stimmt, er weiß ja noch nichts.

„Ich werde nie wieder spielen“, sage ich und lege ganz schnell auf.

Die Pianistin

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