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3. FREUNDE
ОглавлениеSeit Stunden sitze ich ins Spiel versunken am Flügel, diesem Tor zu einem anderen Universum. Eigentlich ist unser Wohnzimmer viel zu klein für den alten Steinway aus dem Wintergarten meiner Eltern.
Mit geschlossenen Augen lausche ich dem Raum um mich herum, der sich längst verflüssigt hat und seiner Schwester, der Zeit, gefolgt ist.
Irgendwann habe auch ich mich aufgelöst, bin eingetaucht in diesen Ozean voller rätselhafter Geschöpfe eines ungezügelten Schöpfers. Meist tauche ich erst nach Stunden langsam wieder auf, dann gerinnt der Raum, das Klavier vor mir gewinnt Gestalt und es ist meinetwegen Dienstagnachmittag oder Samstagfrüh oder was weiß ich.
Dann brauche ich eine ganze Weile, um wieder in der Welt anzukommen, wie ein Taucher, der beim Aufsteigen darauf achten muss, dass seine Lungen nicht explodieren. Ich lese in der Bibel, sehe aus dem Fenster oder lausche in die Stille.
Mehr als alles will ich spielen, um von Gottes Schönheit zu erzählen. Und ich weiß, dass Musik ein wunderbares Mittel dazu ist, denn wie Wasser findet Musik den Weg selbst durch die kleinsten Ritzen verriegelter Räume und durchfeuchtet jeden noch so ausgedörrten Wüstenboden.
„Die erste Geige ist so ein Arsch!“
Felix steht mit Empörung im Gesicht und einer Brötchentüte in der Hand in unserer Küche. Offensichtlich hat sein Kollege Dittrich ihn schon wieder zur Weißglut gebracht.
„Irgendwann hau ich in’ Sack, gründe meine eigene Jazzband und muss mich nicht mehr mit diesen Beamtenmusikern rumärgern.“
„Hallo Liebling“, sage ich und werfe ihm einen Kuss zu, während ich die beiden Tassen für unsere tägliche Kaffeezeremonie auf den Küchentisch stelle.
Seitdem der neue Dirigent die Symphoniker leitet, kommt Felix fast jeden Tag schlecht gelaunt von der Arbeit.
„Der Mann hat einfach keine Ahnung von Musik“, meint er. „Ein Notenverwalter und Synkopenverdreher“, vervollständigt Felix seine täglich ähnlich lautende Diagnose.
Just in dem Moment klingelt das Telefon. Es klingelt fast täglich um diese Zeit; immer genau dann, wenn Felix gerade von den Proben zurückkommt und wir uns die Rosinenschnecke von Bäcker Bährhannes teilen wollen. Genau dann hat Tanja nämlich Feierabend und kaum ist sie durch die Hintertür der Apotheke raus, ruft sie mich an. Diese Apothekentür ist für Tanja nämlich so was wie die Pforte der Hölle.
Felix reagiert mittlerweile ziemlich sauer auf ihre ständigen Anrufe und auch jetzt wirft er mir grimmige Blicke zu und sieht aus, als wolle er die Rosinenschnecke in der Tüte erwürgen. Ich verstehe seinen Unmut, zucke entschuldigend mit den Schultern und nehme den Hörer trotzdem ab.
Tanjas Stimme ist kaum zu verstehen. Sie stammelt irgendwas von „Katastrophe“, „lebensgefährlich“ und „unverzeihlich“ und bettelt schließlich atemlos:
„Joelle, können wir uns treffen? Bitte!“
„Wann?“
„Jetzt. Sofort. Kannst du kommen? Bitte! Es war ganz furchtbar …“
Ich schiele zu Felix rüber, der drohend mit den Fingerkuppen auf den Tisch trommelt, zögere, zucke wieder mit den Schultern, komme mir ziemlich blöd vor und murmele in den Hörer: „Okay, ich komme. Warte an der Ecke“, lege auf und gebe Felix, der als einzigen Trost nun auch meine Hälfte der Rosinenschnecke essen darf, einen entschuldigenden Kuss auf die Stirn.
„Mich nerven Tanja und ihre Katastrophen total!“, murrt er. „Du kennst das doch, am Ende löst sich eh alles in Wohlgefallen auf.“
„Ja“, rufe ich vom Flur aus, „aber für Tanja sind es eben erst mal Desaster.“
Das meiste von dem, was Tanja erschüttert, sind auch in meinen Augen Bagatellen, aber meine Augen sind ja nicht der Maßstab für das Leben der anderen.
„Fahr langsam!“, höre ich Felix noch rufen, als die Wohnungstür hinter mir zufällt.
Ich erkenne Tanjas kleine, dünne Gestalt schon von Weitem an ihren hängenden Schultern und komme mit aufmunterndem Lächeln auf sie zu. Ihr Make-up ist tränenverlaufen, aber warum ihre Haarspange über das Ohr gerutscht und ihre Frisur völlig wirr ist, kann ich mir nicht erklären. Kaum stehe ich vor ihr, bricht sie wieder stammelnd in Tränen aus.
Nach und nach begreife ich, was sie mir erzählen will: Sie hat heute einer Kundin das falsche Medikament ausgehändigt.
„Verstehst du, so was darf nie, nie, nie passieren, Joelle! Niemals!“
„Bestimmt ist das so was wie das oberste Apothekergebot, aber es passiert halt und da muss man …“, versuche ich zu trösten, aber Tanja hört nicht zu und klagt weiter:
„Ich schaffe das alles nicht“, schluchzt sie. „Ich gebe mir wirklich Mühe, alles richtig zu machen, aber … Die Schachteln sehen fast gleich aus, weißt du, so ein grüner Streifen und blaue Schrift … und in der Aufregung …“
„Tanja, beruhige dich“, versuche ich zu Wort zu kommen und erkläre ihr, dass sie sich bei allem, was sie tut, auf Gottes Hilfe verlassen könne und dass kein Grund zum Verzweifeln bestehe. Aber Tanja lässt sich nicht stoppen.
„Joelle, ich werde das nie hinkriegen, da hilft nichts. Es ist manchmal so eine Hektik im Laden, wenn da mehrere Kunden auf einmal … und dann Dr. Schädelkern, der hinter mir steht, dann … dann bin ich wie … als hätte ich alles vergessen … Diese vielen Namen, Bototaxin, Sulphumegur, Irigen …“
In dem Moment schlage ich mir mit gespieltem Schrecken mit der flachen Hand gegen die Stirn und rufe, als wäre mir etwas Entscheidendes eingefallen: „Oh, Tanja, tut mir leid! Wie konnte ich nur! Natürlich, du hast recht. Wie dumm von mir. Gott kann dir in deiner Situation natürlich nicht helfen.“
Tanjas große dunkle Augen starren mich fassungslos an, aber immerhin hört sie mir jetzt zu.
„Na“, erkläre ich und packe sie an den Schultern, „die pharmazeutische Branche, wie soll Gott dir da helfen? Er verfügt ja gar nicht über die entsprechende Ausbildung.“
Ich sehe es hinter ihrer blassen Stirn denken, bis sich ihre Bestürzung lichtet. Mit einem Mal entspannt sich ihr kleiner Körper.
„Du hast recht, Joelle. Ich sollte Gott mehr vertrauen“, sagt sie mit ihrem Kinderlächeln und seufzt. „Ach, Joelle, ich hätte gerne dein Gottvertrauen, bei dir scheint alles so leicht.“
Ehrlich gesagt: Dieses Gottvertrauen ist mir einfach gegeben. Ich glaube, das liegt daran, dass ich nicht empfänglich bin für die Ausgeburten der Fantasie, die den Menschen Unglücke vorgaukeln, die höchstwahrscheinlich nie eintreffen werden. Die meisten Menschen haben nämlich nicht vor allem Angst vor dem, was ist, sondern vor dem, was kommen könnte. Doch für diesen Konjunktiv hat mein Gehirn einfach keinen Arbeitsspeicher.
Ich lade Tanja schließlich ins Café ein, spendiere ihr wie immer Windbeutel und heißen Tee. Windbeutel ist so was wie unser Running Gag, Windbeutel gibt’s immer, wenn es bei Tanja mal wieder stürmisch zugeht und sich später höchstwahrscheinlich eh alles in Luft auflösen wird.
Ich habe zwar irgendwie ein schlechtes Gefühl Felix gegenüber, aber ich weiß, dass Tanja mich zurzeit als Begleiterin braucht. Doch ich hoffe, dass es ihr eines Tages gelingt, sich von mir zu lösen und eigenständig zu leben und zu glauben.
Tanja ist oft in alltäglichen Situationen völlig hilflos. Ihre größte Not ist allerdings, dass sie und Fred sich seit Jahren vergeblich eine kleine Familie wünschen, aber obwohl medizinisch alles okay ist, wird sie nicht schwanger. Tanja ist in derselben Gemeinde wie Felix und ich und sie geht auch in den Hauskreis, den Felix und ich mittlerweile leiten.
Unser Hauskreis. Ich mag sie, all die unterschiedlichen Menschen, die uns, als wir ganz neu hier in Gießen waren, so herzlich aufgenommen haben. Jeder hat uns nach seinen Möglichkeiten unterstützt.
Sabine zum Beispiel hat während des Umzugs dank ihres organisatorischen Talents, über das sie als Office-Managerin mehr verfügt, als wir Künstler uns das überhaupt vorstellen können, den ganzen Verwaltungskram für uns gemacht, anmelden, Wohnung suchen, Telefonanschluss und so. Sabine ist eine hübsche blonde Frau, die durch ihr Auftreten und ihre Intelligenz alle Blondinenwitze dieser Welt Lügen straft. Sie bringt ihre Aufgaben als zweifache Mutter beneidenswert mühelos mit ihrer Berufstätigkeit in Einklang und sieht trotz allem stets so aus, als wäre die Wartung ihrer langen Fingernägel ihre einzige Verpflichtung. Ehrlich gesagt, ist mir Sabine etwas unheimlich, allein schon weil ihr weißer Hosenanzug abends noch so tadellos aussieht wie meiner nicht einmal morgens. Sabine ist mit Jan verheiratet, dem letzten „echten“ Konditor, wie Sabine gern betont. Jan ist Perfektionist und liebt das Vollkommene, wahrscheinlich der Grund, weshalb er einerseits Sabine so vergöttert und andererseits dauernd Konditoren-Pokale einheimst, die in dem perfekten Wohnzimmer der beiden auf Regalen aufgereiht stehen.
Richarda wiederum ist Sabines Antipode. Sie ist in Auftreten und Ausdruck eher rustikal und kennt unzählige Witze. Mit ihrer blauen Lieblingslatzhose und den großen Händen könnte man sie für eine Gas- und Wasserinstallateurin halten, in Wahrheit arbeitet sie jedoch bei der Stadtverwaltung.
Christian hingegen ist freischaffender Bauingenieur und außerdem Ältester in der Gemeinde. Er kommt eher unregelmäßig zum Hauskreis; schließlich hat er ziemlich viel um die Ohren.
Dann ist da noch Caroline, eine tolle Frau, deren großer Kummer die Tatsache ist, dass ihr Mann Thomas dem Glauben nicht das Geringste abgewinnen kann.
Last, but not least Natalie und Achim, bei denen wir uns meistens zum Hauskreis treffen. Sie haben vor zehn Jahren einen verfallenen Hof erworben und im Laufe der Jahre mit viel Liebe renoviert, sind aber noch immer weit vom durchschnittlichen nordeuropäischen Wohnkomfort entfernt. Seit drei Jahren ziehen sie auf ihrem Grundstück Biogemüse, um es auf dem Wochenmarkt zu verkaufen. Natalie ist mit ihren knalligen Pluderhosen und den rotblonden Dreadlocks in der Gegend bekannt wie ein bunter Hund.
Achim ist spirituell äußerst aktiv, um unseren Hauskreis macht er in der Regel jedoch einen weiten Bogen. Maha-Atman, Shunyata, Prajna, Maha-Purusha, Sugmad könnte man für den Auszug aus der Speisekarte eines indonesischen Schnellimbisses halten, tatsächlich jedoch ist es der kurze Abriss der von Achim schon betretenen Heilswege. Im Moment ist er eher „geomantisch“ unterwegs. So hat er diesen Sommer zum Beispiel an der Hoflinde einen Baumaltar errichtet, von dem er sich eine „energetische Aufladung des Umfeldes“ erhoffte, was auch ziemlich gut funktioniert hat, denn Natalie war äußerst geladen, als sie diesen „Götzenaltar“ entdeckte.
Tagelang lief unser Telefon heiß. Tagelang wetterte, weinte, klagte sie über Achims esoterische Eskapaden.
Überhaupt knallt es zwischen den beiden ziemlich häufig. Sie sind manches Mal kurz vor einer Trennung und nicht selten ruft Natalie mitten in der Nacht bei mir an, weil sie es nicht mehr aushält.
Heute Abend ist wieder Alarmstimmung bei den beiden. Wir hocken alle bei Natalie und Achim auf dem Dielenboden in der ausgeräumten Wohndiele. Achim hat nämlich spontan die Sofagarnitur entsorgt – Sessel, Zweier- und Dreier-Couchkombination. Alles Giftmüll, hatte er gemeint, Giftmüll, den er seiner Familie nicht länger zumuten könne. Vor wenigen Minuten hat er, empört über das mangelnde ökologische Verständnis seiner Frau und ihrer „Bet-Hansel“ den Hof verlassen, wahrscheinlich um mit seinem Kumpel Gerold die Planungen zur Rettung der Welt abzuschließen, während Natalie verheult auf einem Widderfell sitzt, getrocknete Datteln in sich hineinstopft und den Verlust ihrer Wohnzimmergarnitur betrauert.
„Dabei fing der Tag heute so super an“, schluchzt sie und sortiert die Falten ihrer Pluderhose. „Ich durfte heute Morgen nämlich richtig krass Zeugnis geben. Auf dem Wochenmarkt …“ und ihre Stimme klingt deutlich weniger betrübt, als sie berichtet: „… habe ich mich bei mir am Stand lange mit der Sandra über den Glauben unterhalten. Die Sandra kommt schon ganz lange bei mir einkaufen. Die Chemie zwischen uns stimmt einfach, ihr versteht, was ich meine? Gleiche Schwingungen und so.“
Wir nicken, froh, dass Natalie den Verlust ihrer Sofagarnitur schneller zu verkraften scheint als erwartet.
„Ich habe der Sandra von unserem Kreis erzählt. Hab sie eingeladen, auch mal vorbeizuschauen.“
In diesem Moment fange ich einen vielsagenden Blick von Caroline auf.
Ich bewundere Caro. Ihr Mann besitzt eine gut gehende Firma, die medizintechnisches Gerät entwickelt. Die beiden sind ziemlich gut situiert, moderne Villa am Südhang, Ferienhaus auf Mallorca und so weiter. Trotzdem stellt sie ihren sonderlackierten Chevrolet Corvette Sportwagen in das Schlammloch dieser Hippie-Farm, direkt neben den handbemalten Siebzigerjahre-Bulli von Natalie und Achim, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Sie, die zu Hause in jedem Zimmer eine Rolf-Benz-Garnitur stehen hat, setzt sich klaglos auf Achims Hanfkissen.
Dass sie aber Probleme damit hat, dieses bewusstseinserweiterte Paradies Fremden zuzumuten, kann ich gut verstehen. Auch ich bin der Meinung, wir sollten Natalies Neuzugänge lieber auf ein Benz-Sofa setzen. Oder wenigstens auf eines von Ikea.
Das eine muss man Natalie allerdings lassen: Sie ist ein Evangelisationsgenie. Ich weiß gar nicht, wie sie das schafft, so unterschiedliche Menschen quasi „auf der Straße“ anzusprechen und ihnen stressfrei von Jesus zu erzählen. Wenn Natalie im Supermarkt jemanden zwischen den Regalen erspäht, stürmt sie freudig auf ihn zu, sei es die Nachbarin, ihr Gynäkologe oder eine Teilnehmerin aus dem VHS-Töpferkurs vor acht Jahren. Die Gemeinde verdankt ihr fast ihren kompletten Zuwachs.
Unser Hauskreis ist also ein bunter Haufen und ich schätze unsere Unterschiedlichkeit sehr. Ich glaube, im Grunde habe ich einen Faible für schräge Vögel. Schätze, das habe ich von Mama geerbt.