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Gerlinde

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Es gibt Menschen, die haben stets die Augenbrauen hochgezogen. Gerlinde ist so jemand. Wenn ich sie anschaue, dann sehe ich in ihrem Gesicht immer einen Vorwurf und grüble darüber nach, was ich heute schon wieder falsch gemacht habe.

Gerlinde ist Ende 60, schlank, fast schon hager, ihre Brillengläser lassen den Blick auf die Augenbrauen frei. Die Brille ist modisch, türkis mit randlosen Gläsern, sie sitzt auf der Nasenspitze. Wenn Gerlinde die Brauen hebt, legen sich Falten wie winzige Wellen auf ihre Stirn. Ihre Mundwinkel bewegen sich dabei in die entgegengesetzte Richtung. Nein, ich habe nichts falsch gemacht, denke ich gerade und frage Gerlinde, wie es ihr geht. Sie ist auf dem Weg zur Probe des Frauenchors. Das Stöhnen, das zwischen ihren Lippen herausfließt, lässt mich meine Frage sofort bereuen.

„Frag lieber nicht. Es geht mir sehr schlecht, aber ich will dich damit nicht belasten.“

Entsetzt höre ich mich sagen: „Ach, Gerlinde, mir kannst du doch alles sagen. Erzähl!“

Gerlinde holt tief Luft, zieht die Augenbrauen noch höher und seufzt. Dann geht ein wahrer Wortschwall auf mich nieder, er beginnt mit dem Auto, das kaputt ist, und endet mit der drückenden Zahnprothese. Ich blicke sie verständnisvoll an und nicke beiläufig, aber eigentlich möchte ich jetzt lieber am Südpol sein, ohne Jacke und nur mit Flipflops. In diesem Moment frage ich mich, ob Eisbären Pinguine fressen. Ich kann an nichts anderes denken.

„… was meinst du?“

Entsetzt stelle ich fest, dass ich die Frage nicht wahrgenommen habe. Was nun? Ist es besser, zuzugeben, dass ich nicht zugehört habe oder sollte ich einfach etwas sagen, in der Hoffnung, es passt zur Frage. Gerlinde schaut mich wehleidig an. Ich zucke mit den Schultern und setzte meinen traurigsten Blick auf.

„Jaja, ihr jungen Leute interessiert euch immer nur für euch selbst. Aber das ist vielleicht gut so.“

„Gerlinde, ich muss weiter. Es tut mir leid, ich denke, es wird bald wieder.“

Sie zieht die Brauen hoch und schüttelt den Kopf.

„Wo willst du denn noch hin? Es ist doch schon spät. Musst du morgen nicht arbeiten? Na, du wirst ja selbst wissen, was du tust.“

Der Vorwurf saust um meine Ohren. Natürlich muss ich morgen arbeiten. Natürlich ist es schon spät. Natürlich weiß ich selbst, was ich tue. Trotzdem berührt mich ihr Blick und sie bringt mich tatsächlich dazu, ihr zu erklären, dass ich nochmal in den Supermarkt muss, denn ich habe heute Mittag die Milch vergessen.

„Warum schreibst du dir denn keinen Zettel? Dann vergisst du nichts. Ich mache das auch immer. Aber ihr Jungen denkt ja, ihr braucht die Ratschläge der alten Leute nicht.“

Muss ich jetzt mich und meine Generation verteidigen? In mir toben die Gefühle. Finstere, böse Antworten kommen hoch und schwimmen an der Oberfläche meines Gehirns. Ich presse die Lippen fest aufeinander, denn wenn ich jetzt sage, was ich denke, dann bedeutet das Krieg zwischen mir und Gerlinde.

Sie ist nun schon seit vielen Jahren meine Nachbarin. Ich helfe ihr manchmal mit den schweren Taschen, sie hat mir gezeigt, wie man Hefeteig macht. Wir reden öfter miteinander, aber manchmal sehe ich sie tagelang nicht, weil sie so aktiv ist. Frauenchor, Handarbeitsgruppe, Landfrauen, Vorleserin für Kindergartenkinder … es kommt einiges zusammen. Ich habe mich schon oft gefragt, wo ihre Familie ist. Niemals sehe ich bei ihr irgendwelche Besucher.

„Ja, meine Liebe, diese jungen Menschen heute wollen sich nicht mehr helfen lassen. Ich könnte dir auch gerne einmal zeigen, wie du die Ecken an der Treppe sauber bekommst, wenn du Kehrdienst hast.“

Ich schaue in Gerlindes Gesicht. Ihre Augenbrauen berühren fast den Haaransatz. Warum, zum Teufel, habe ich nicht den Mumm in den Knochen, ihr zu sagen, dass mir die Ecken der Treppe so wichtig sind wie das Wetter in Sibirien? Dass ich zu jeder Tages- und Nachtzeit draußen herumlaufen kann. Dass ich, wenn ich will, auch achtmal am Tag in den Supermarkt gehen kann. Nein, ich schweige und lächle. Dann reiche ich Gerlinde die Hand und verabschiede mich.

Ich gehe nun doch nicht mehr einkaufen, der Kaffee morgen früh vor der Arbeit geht auch mal so. Ich laufe heim und greife nach dem Putzeimer. Mit einem Liter heißen Wasser, einer alten Zahnbürste und zehn Ohrstäbchen bekomme ich die Ecken an der Treppe so sauber, dass selbst die Hausstaubmilben ihre Koffer packen und das Haus verlassen. Für morgen schreibe ich mir einen Zettel: Milch.

Menschen sind super

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