Читать книгу Menschen sind super - Ute Dombrowski - Страница 8
Henning
ОглавлениеEr streicht mit dem weichen Tuch noch einmal zärtlich über die chromglänzenden Spiegel, als Lutz mit seinem Dackel in der Einfahrt ankommt.
„Rufus, Platz!“, bellt er den kleinen Hund an, der sich sofort auf die warmen Naturstein-Platten legt.
Fasziniert nickend umrundet Lutz die sportliche Maschine.
„Vier Ventile?“
Henning nickt stolz und ergänzt: „Sechsganggetriebe, siebzig kW, meergrüne Metalic-Lackierung, Zugstufendämpfung, liegt auf der Straße wie geschmiert.“
„Na, dann viel Spaß beim Fahren.“
„Komm doch mit! Wir drehen eine Runde.“
Lutz winkt ab und zeigt hinter sich.
„Nee, lass mal, ich habe Rücken. Die Zugluft, die Zugluft … Auf, Rufus, bei Fuß!“
Sie verschwinden hinter der akkurat geschnittenen Hecke. Henning wirft das Tuch auf den Rasen, setzt sich auf den glänzenden Ledersitz und fühlt im selben Moment den Hauch von Freiheit in seinem Nacken. Jahrelang hat er davon geträumt, mit dem Motorrad durch das weite Land zu fahren. Die lässige Lederkombi hängt im Schrank in der Garage. Als er sie gestern anprobiert hatte und sich im Spiegel betrachtete, sah er zehn Jahre jünger aus.
Er steigt ab und läuft ins Haus.
„Elke? Elke, wo bist du?“
Aus dem Keller hört Henning Geräusche und steigt mit den schweren Motorradstiefeln die Treppe hinunter. Es ist Samstag, zehn Uhr, also ist Elke unten, um die Wäsche zu sortieren und zu waschen. Eben stopft sie die Arbeitshosen in die gähnende Öffnung der Waschmaschine und schlägt die Tür zu.
„Ach, hier bist du. Wenn das Ding läuft, drehen wir eine Runde, Schatz.“
Elke richtet sich stöhnend auf und starrt Henning an. Wie in Zeitlupe beginnt ihr Kopfschütteln und beschleunigt von Null auf Hundert in sieben Sekunden.
„Weißt du, was ich heute noch alles erledigen muss? Erst die Wäsche, dann den Nudelsalat vorbereiten, das Grillfleisch einlegen, die Terrasse schrubben und … ich habe keine Zeit, es ist DEIN neues Hobby, also sieh zu, dass du selbst Spaß hast.“
Mit dem Wäschekorb, in der sich die schon gewaschene Unterwäsche befindet, eilt sie die Treppe hinauf und verschwindet im Garten.
Henning folgt ihr nach oben und klopft an die Tür des linken Zimmers, in dem Eric mit seinem besten Freund vor dem Computer hockt.
„Komm, mein Sohn, wir drehen eine Runde mit meiner Maschine.“
Eric dreht sich nicht einmal um, als er mit dem Tippen innehält und schluckt.
„Ey, Papa, spinnst du? Ich kann doch hier nicht weg! Oder denkst du, ich lasse Gerry hier sitzen und hau mit dir ab?“
„Ich dachte, du magst das Motorrad?“
„Geht so, damit kann man halt nur maximal zu zweit fahren und außerdem hockt man da hintereinander und reden geht auch nicht.“
Mit hängenden Schultern verlässt Henning das Zimmer seines Sohnes. Nebenan wohnt Jana, die gerade mit ihrer besten Freundin Nicky telefoniert. Eigentlich tut sie das immer. Den ganzen Tag. Als sie ihren Vater vor ihrem Zimmer entdeckt, rutscht sie vom pinkfarbenen Bett und will mit Schwung die Tür schließen. Henning stellt einen Fuß dazwischen und drückt sie wieder auf.
„Komm, meine Süße, wir drehen eine Runde?“
Jana schaut, als hätte ihr Vater soeben gesagt, dass Weihnachten ausfällt.
„Oh mein Gott, nein! Ich steige doch nicht auf das Ding, nur weil du Schiss vor deinem Geburtstag nächste Woche hast. Irgendwann wird jeder mal fünfzig. Außerdem, weißt du, wie dann meine Haare aussehen? Vergiss es!“
Henning nimmt den Fuß aus der Tür und geht hinaus auf die Einfahrt, wo seine glänzende Maschine steht. Er streichelt sie sanft und seufzt.
„Oh Baby, sie sind alle gegen dich. Es tut mir leid, aber sei unbesorgt, ich lasse dich nicht im Stich.“
Jetzt fällt ihm Gunnar ein. Der Fußballkumpel hat auch ein Motorrad und Henning zückt sein Handy.
„He, alter Kumpel, ich bin es, Henning.“
„Schön, dass du anrufst, aber ich kann nicht lange reden. Ich habe mein Motorrad verkauft und jetzt fahren wir alle zusammen an den See. Das ist viel schöner als immer nur zu zweit. Meine Familie ist viel besser drauf und meine Frau und ich … holla, ich kann dir sagen.“
„Schade, ich dachte, wir drehen eine Runde.“
„Nein, lass mal, die Zeiten sind vorbei. Ich muss auflegen. Schönen Samstag.“
Henning steckt das Handy ein, betritt entschlossen die Garage und schlüpft in die kühle Lederkombi. Er setzt den Helm auf, zieht die Verschlüsse seiner Motorradstiefel fest zu und lässt die Maschine an. Grollend füllt ihr Klang die Luft, als er langsam auf die Straße rollt.
Seine Gedanken drehen sich im Kreis, während er Kilometer um Kilometer die schönen Landstraßen entlanggleitet. Sie hatten alle gesagt, er solle sich ein Hobby suchen, also hatte er mit den Kumpels und Kollegen über das Motorrad geredet.
„Kauf dir das Ding“, hatten sie gesagt. „Ein Mann wie du braucht etwas Großes und Starkes.“
Warum will denn jetzt niemand seine Begeisterung teilen? Er ist nun in der Stadt angekommen, die vor Aktivität nur so brodelt. In der Ringstraße fährt er an einem Laden vorbei, in dem man Anzeigen aufgeben kann. Plötzlich bremst er, wendet und fährt vor dem Schaufenster auf den Gehweg. Auch ein Vorteil der Maschine: Man muss nicht ewig nach einem Parkplatz suchen. Er steigt ab, legt den Helm auf den Sitz und geht hinein.
Mit einem Seitenblick auf das Motorrad flüstert er: „Verzeih mir, Baby.“
Eine junge Frau lächelt ein einstudiertes Kundenfang-Lächeln. Henning grinst unbeholfen zurück.
„Kann man hier Anzeigen aufgeben?“
„Aber klar doch.“
„Wie macht man das?“
„Füllen Sie das hier aus.“
Sie schiebt ihm ein Formular über den Tresen. Henning beginnt zu schreiben.
„Tausche Motorrad mit kompletter Ausrüstung gegen Kleinbus.“
Er lächelt zufrieden.