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Kapitel 3
ОглавлениеIhre Familie wohnte etwa 40 Kilometer außerhalb der Stadt in einem zauberhaften Tal unweit einer Talsperre. Dort lag das Hotel „Der Lerchenhof“, das seit Generationen im Besitz der Familie ihrer Mutter war. Ihre Mutter hatte das Hotel mit bewundernswerter Energie von einem ländlichen Mittelklassehotel in ein modernes Tagungszentrum verwandelt. Der Lerchenhof war in der Woche fast ständig mit Seminaren belegt, und am Wochenende fielen erholungssuchende Städter ein, welche die schöne Umgebung, das gute Essen und die Atmosphäre zu schätzen wussten.
Am schönsten war der erste Blick auf das Hotel, der sich überraschend bot, wenn man von der Hauptstraße abgebogen und eine langgezogene Kurve entlanggefahren war. Eingebettet in die Landschaft, unter hohen Bäumen, lag es weiß und majestätisch in der Sonne, umgeben von Blumenbeeten und Rasenanlagen. Der Lerchenhof war ein altes Hotel. Drei große Giebel, geschmückt mit Jugendstilornamenten und Mauervorsprüngen, erhoben sich über dem dreistöckigen Haupthaus, an dessen rechter und linker Seite je ein zweistöckiger Flügel nach hinten führte. Den modernen Teil mit den Tagungsräumen und einem Hallenschwimmbad hatte man geschickt hinter das Hotel gebaut, so dass der Eindruck eines Schmuckstückes aus der Zeit um 1900 nicht beeinträchtigt wurde. Johanna fuhr zur linken Seite hinüber und stellte ihren Wagen auf den Parkplatz in die Nähe des Haupteingangs.
Sie betrat die Hotelhalle, einen wunderschönen, großen Raum. Gegenüber dem Eingang führte eine breite Eichentreppe in das nächste Stockwerk, links waren einige Sitzgruppen angeordnet und auf der rechten Seite befnd sich die altmodische Rezeption aus dunklem Eichenholz, ein Relikt aus dem Jahr 1903. Hinter ihr saß seit vielen Jahren Carla, die Empfangssekretärin des Hotels. Johanna begrüßte sie herzlich, und wollte sich gerade mit ihr unterhalten, als ein großer, schwarzer Schatten auf sie zugestürmt kam: Max, der Familienhund. Er umkreiste sie aufgeregt, raste um die Sessel in der Halle, schmiss sich auf den Boden, sprang wieder auf und an ihr hoch und leckte ihr das Gesicht. Jedesmal, wenn ein schmerzlich vermisstes Mitglied der Familie nach einer Abwesenheit - und waren es auch nur zwei Stunden - nach Hause kam, führte Max einen regelrechten Freudentanz auf, und alle waren dann immer so gerührt, dass er anschließend eines von den Leckerli bekam, die immer bei Carla hinter der Theke standen. Max war seit vier Jahren Mitglied der Familie Oldenburg und völlig unerzogen. Ihr Vater, der die Versuche seiner Frau, einen „standesgemäßen“ Hund für das Hotel zu kaufen, regelmäßig dadurch hintertrieb, dass er von irgendwo her einen Mischling anschleppte, hatte Max als Welpen angebunden auf einer Autobahnraststätte gefunden und mit nach Hause gebracht. Der Kleine hatte die Hausherrin, in der er instinktiv wohl einen kritischen Fall witterte, mit seinen großen braunen Augen angeschaut und ihr dann die Hand abgeleckt. Damit hatte er ihr Herz gewonnen und Lotte hatte ihren Traum von einem afghanischen Hirtenhund wieder mal begraben. Allerdings war ihr damals noch nicht klargewesen, dass aus Max fast ein Neufundländer werden würde. Er wuchs und wuchs und konnte inzwischen fast jedem gerade in die Augen sehen, wenn er sich aufrichtete. Da er zwar ungehorsam, aber ganz liebevoll war, mochte sich bald niemand mehr vorstellen, Max würde nicht mehr zum Haushalt gehören. Johanna tollte ein paar Minuten mit ihm herum, gab ihm die erwarteten Hundekuchen und ging über die Hintertreppe, deren Zugang sich hinter einer unauffälligen Tür in der Wandverkleidung verbarg, hinauf in die Wohnung ihrer Eltern.
Sie wohnten im zweiten Stock unterhalb des linken Giebels, mit Blick auf die Talsperre in einer großzügigen, mit alten Möbeln ausgestatteten Wohnung. Die früheren Kinderzimmer in der Etage über der Wohnung der Eltern waren inzwischen zu Hotelzimmern umgestaltet worden, aber wenn Martin oder Johanna auf dem Lerchenhof übernachten wollten, fand sich für sie immer ein Platz. Philipp und seine Frau hatten nach dem Tod der Großeltern deren Wohnung im linken Seitenflügel übernommen, die mit der elterlichen Wohnung durch einen Zugang verbunden war. Johanna liebte dieses wunderschöne alte Haus mit seinen vielen verwinkelten Gängen, Treppen und Nischen. Dennoch war sie froh, in ihrer kleinen behaglichen Behausung in der Stadt leben zu können, hier war alles immer so groß und - ja öffentlich - gewesen. Ständig stand der Oberkellner oder die Köchin in der Wohnung, die Sekretärin hatte Probleme oder ein Gast verirrte sich dorthin, weil er das deutliche Schild „Privat“ versehentlich oder absichtlich überlesen hatte. Es war überhaupt erstaunlich, wie sehr die Hotelgäste, insbesondere die Stammgäste, am Leben der Hoteleigentümer interessiert waren. Sie wollten alles wissen und nahmen regen Anteil an den Entwicklungen innerhalb der Familie. Zu der Hochzeit von Philipp und Daisy hatten sich mindestens 20 Gäste vor der Kirche eingefunden und mussten zwangsläufig zum Mittagessen eingeladen werden. Für ihren Vater war diese Betriebsamkeit auch immer ein Gräuel gewesen, und er hatte sich seine Arbeitsräume im Dachgeschoss des linken Giebels eingerichtet, das man nur über eine kleine Treppe erreichen konnte, die von seinem Schlafzimmer nach oben führte. Dorthin hatte sich auch tatsächlich noch kein Gast verirrt und die Mitarbeiter des Hauses suchten seine Gegenwart ohnehin nicht, da sie von ihm keine Entscheidung ihre Arbeit betreffend erwarten konnten.
Die Eltern sind schon ein seltsames Pärchen, dachte Johanna, als sie die Treppe hinaufging.
Da war ihr Vater, inzwischen 69 Jahre alt und emeritiert, früher ein gefragter Wissenschaftler und langjähriger Professor an verschiedenen Universitäten. Seine Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Meeresbiologie waren von einiger Bedeutung gewesen, und so erfreute er sich gerade in der heutigen Zeit mit ihrem sich wandelnden Umweltverständnis immer noch einer großen Beliebtheit. Selbst jetzt wurde er noch hin und wieder als Gastredner zu Kongressen eingeladen. Sie hatte ihn als freundlichen, gelassenen und humorvollen Vater in Erinnerung, der allerdings selten zu Hause war. Ihre Mutter hatte sich schon frühzeitig ganz auf die Leitung und den Ausbau des Hotels konzentriert, so dass auch sie eigentlich kaum für ihre Kinder da war. Auch heute war Lotte Oldenburg allerdings noch immer Mittelpunkt und Herz des Hotels mit seinen fast 40 Angestellten, inzwischen unterstützt von Philipp, der ihr aber nach Johannas Meinung nicht das Wasser reichen konnte, was die Führung des Hotels betraf.
Johanna und ihre Geschwister waren in ihrer Kindheit meist der Obhut von Gerta überlassen gewesen, der früheren Köchin, die dann zum Kinderrmädchen avancierte und bis zu ihrem Tod noch in einer Dachkammer des Hotels gelebt hatte. So hatten die Eltern ihr Leben geführt, der Vater meist in wissenschaftlichen Sphären, gelassen und freundlich, die Mutter, mit beiden Beinen auf der Erde, aber auch immer hektisch und genervt. Und doch lebten sie schon 37 Jahre zusammen und Johanna spürte jetzt, als sie die beiden zusammen sah, dass zwischen ihnen mehr sein musste, als sie je mitgekriegt hatte.
Ihre Mutter lag mit bleichem Gesicht auf dem Sofa und ihr Vater hatte sich einen Sessel herangezogen, damit er ihre Hand halten konnte. Bei Johannas Eintreten wandte er den Kopf und nickte ihr liebevoll zu.
„Hallo Hanni, das ging ja schnell, schön, dass du da bist.“
Johanna ging zu ihren Eltern und begrüßte sie mit einem Kuss. Lotte richtete sich auf und ordnete ihr Haar. Sie war offensichtlich bestrebt, die bevorstehende Unterredung in würdigem Zustand hinter sich zu bringen.
„Setz dich, Kind“, sagte sie, „ möchtest du einen Kaffee?”
Johanna verneinte. „Ich will keinen Kaffee, ich will Aufklärung über unser Familiengeheimnis.”
„Ruf mal Philipp, damit wir das alles gemeinsam besprechen können”, bat ihr Vater.
Nachdem Philipp und Daisy aufgetaucht waren, setzten sich die Kinder den Tisch. Lotte Oldenburg ergriff das Wort:
„Es gibt eigentlich nicht mehr zu sagen, als Papa euch schon erzählt hat. Christina Heimberg, spätere Brandwell, ist meine richtige Mutter. Als ich vier Jahre alt war, ist sie nach England zu einem Major Brandwell gegangen und hat Vater und mich verlassen. Später hat sie Brandwell geheiratet, und mein Vater hat mit Paula-Anna, die ihr als Großmutter kennengelernt habt, und die für mich wie eine Mutter war, glücklicherweise auch eine gute neue Frau gefunden. Das ist alles.“ Lotte ließ sich erschöpft wieder auf das Sofa sinken. Johanna fand ihren Auftritt ein wenig theatralisch und ihre Ausführungen ein bisschen dürftig und hakte nach.
„Aber warum wurde denn diese Geschichte bis heute verschwiegen, warum durften wir das denn nicht wissen?“, fragte sie mit Unverständnis.
Jetzt antwortete ihr Vater: „Das lag an eurem Großvater, für ihn war die ganze Geschichte ein fürchterlicher Schandfleck in der Familiengeschichte, und er bestand darauf, dass sie nie mehr erwähnt wurde. Für eure Mutter war dies auch nach seinem Tod eine Verpflichtung.“
Diese Erklärung passte in ihre Erinnerung an den Großvater, aber Johanna fand es trotzdem komisch, dass ihre Mutter sich auch nach Opas Tod an seine Anweisungen gehalten hatte. Sie war sich ganz sicher, dass sie selbst anders gehandelt hätte.
Wie unterschiedlich Mama und ich sind, dachte sie mit einem kleinen Bedauern. Was für ein Mensch mochte wohl ihre richtige Großmutter gewesen sein? Sie dachte an den Anlass für das heutige Gespräch, und empfand plötzlich Trauer über den Tod einer Frau, von deren Existenz sie bis heute nichts gewusst hatte. Mit Paula-Anna, die sie als Großmutter kennengelernt hatte, verband sie keine schönen Erinnerungen. Sie war streng und unnahbar gewesen, furchtbar dick, immer in schwarze Gewänder gehüllt, und sie duldete keine Kritik an ihrem Mann, den sie abgöttisch liebte. Sie empfand plötzlich Ärger über die Unbarmherzigkeit ihrer Familie, die es verhindert hatte, dass sie Christina zu Lebzeiten kennengelernt hatte.
„Bei allem Respekt vor Großvaters Gefühlen“, sagte sie deshalb kühl, „so etwas hättet ihr uns nicht verheimlichen dürfen. Eine Großmutter ist kein Privateigentum, und wir haben ein Recht darauf, unsere Wurzeln kennenzulernen. Diese Chance habt ihr uns genommen, und das nehme ich euch übel.“
Ihre Eltern schwiegen betroffen, schließlich brach ihr Vater das Schweigen mit der Frage:
„Wie hast du denn eigentlich von Christina erfahren?”
Johanna berichtet von dem Brief und dessen Inhalt. Einen Moment herrschte erneutes Schweigen. Dann sagte ihre Mutter, etwas hilflos klingend: „Ich hätte vielleicht doch anders auf ihren Brief reagieren sollen.“
„Welchen Brief?“, wollte Johanna wissen.
„Sie hat mir vor vielen Jahren einmal geschrieben und um ein Treffen gebeten, ich habe das allerdings abgelehnt“, erwiderte ihre Mutter.
„Das finde ich ganz richtig“, mischte sich erstmals Philipp ein.
„Schleimscheißer“, zischte ihm Johanna zu.
„Aber Johanna“, regte sich Daisy auf. „Wie redest du denn mit Philipp?”
Lotte schluchzte. Da klingelte das Telefon.
Alfred nahm den Hörer ab und hörte die muntere Stimme seines jüngsten Sohnes am anderen Ende.
„Hallo Daddy, ich habe hier so eine verwirrende Message von Hanni gefunden, was ist denn eigentlich bei euch los?“
„Deine Mutter liegt auf dem Sofa und weint, Hanni beleidigt ihren Bruder und Daisy regt sich auf“, versetzte sein Vater trocken.
„Ach, dann ist ja alles wie immer“, meinte Martin und fuhr dann - wie beiläufig - fort:
„Und was gibt‘s sonst Neues?”
Alfred vernahm hinter der lockeren Stimme seines Sohnes einen besorgten Unterton und sagte:
„Wir haben deinen beiden Geschwistern soeben gebeichtet, dass Paula-Anna nicht eure richtige Großmutter ist, sondern nur die zweite Frau eures Großvaters. Lottes richtige Mutter ist eine andere Frau, eine gewisse Christina Brandwell, die offensichtlich kürzlich in England verstorben ist und Hanni etwas vererbt hat.“
Martin pfiff durch die Zähne und fragte:
„Wie haben denn Hanni und Philipp darauf reagiert?“
„Hanni ist sauer und Philipp ist es offensichtlich gleichgültig. Was sagst du denn dazu, mein Sohn?“
„Ja“, begann Martin langsam. „Die Sache hat natürlich zwei Seiten. Zum einen bin ich ausgesprochen erleichtert, dass in meinen Adern kein Blut dieser grässlichen Paula-Anna kreisen kann. Zum anderen aber möchte ich mal vorsichtig formulieren, dass Eltern, die ihren Kindern so etwas über Jahrzehnte verschweigen, eigentlich auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersucht werden müssten.“
„Da hast du sicher nicht ganz unrecht, mein Sohn, aber die Geschichte ist viel komplizierter, als sie sich jetzt anhört.“
„Ja wahrscheinlich. Sicher gibt es da irgendeinen degoutanten Hintergrund, vor dem man seine Kinder bewahren muss“, spottete Martin. „Ich habe aber jetzt keine Zeit mehr für die schlüpfrigen Einzelheiten, sag‘ Hanni, dass ich um acht zu Hause bin, dann soll sie mir alles erzählen. Und grüß‘ alle schön.“
Damit legte er auf, und Alfred kam wieder zu den anderen zurück.
„Das war Martin“, sagte er.
„Und, was hat er gesagt?” fragte Lotte ihn.
„Ich soll euch alle grüßen“, erwiderte Alfred grinsend und fuhr, als ihm ein Sofakissen um die Ohren flog, fort: „Im übrigen ist er der Meinung, wir beide sollten uns auf unsere Zurechnungsfähigkeit untersuchen lassen.“
„Unverschämtheit“, krähte Daisy. Dann fiel ihr offensichtlich noch etwas ein.
„Wieso erbt denn eigentlich Johanna und nicht Philipp, er ist doch der älteste Sohn“, fragte sie.
„In der Regel obliegt es den Erblassern, zu bestimmen, wem sie was hinterlassen wollen, liebe Martha“, erwiderte ihr Schwiegervater mit abweisender Miene. Daisy ging ihm hin und wieder ganz schön auf die Nerven, und er machte das damit deutlich, dass er sie dann bei ihrem richtigen, von ihr verabscheuten, Namen nannte. Daisy war jedoch so aufgeregt, dass sie dieses Warnzeichen überhörte und sagte eifrig:
„Gegen ein solches Testament kann man bestimmt was machen, das kann man anfechten, oder nicht?”
Ihr Mann legte beruhigend seine Hand auf die ihre.
„Laß uns erst einmal abwarten, Baby, kommt Zeit, kommt Rat.“ Johanna schüttelte sich, sie fand es lächerlich, dass die beiden sich immer als „Baby“ bezeichneten, und machte sich gemeinsam mit Martin ständig über diese Marotte ihres ältesten Bruders lustig. „Mama“, fragte Johanna und setzt sich zu ihrer Mutter auf das Sofa.
„Erinnerst du dich denn überhaupt nicht mehr an deine Mutter?”
Lotte fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann sah sie Johanna an.
„Doch, mein Kind, ich erinnere mich an Sommertage voller bunter Bilder und eine schöne, blonde, junge Frau, die mit mir im Heu herumtollt und lacht. Aber auch an die einsamen Nächte eines kleinen Mädchens, an Angst vor Bomben, an Verschüttung, Vertreibung und Flucht, an endlose Abende voller Einsamkeit und Sehnsucht und an das nie enden wollende Gefühl von Verlassenheit, nachdem meine Mutter weg war. Bis heute habe ich das nicht wirklich verloren, und deshalb konnte ich ihr nicht verzeihen, konnte mich nicht mit ihr treffen, als sie mir geschrieben hat. Ich habe sie zu sehr geliebt und zu tief gehasst, und dann wollte ich nur noch meine Ruhe, kannst du das verstehen?”
Johanna nahm ihre Mutter in den Arm. Sie musste sich davor hüten, genauso unbarmherzig zu sein, wie sie es ihrer Mutter vorgeworfen hatte. Sie hatte kein Recht, ihr Vorwürfe zu machen, auch wenn sie im Augenblick traurig und verwirrt war.
„Ich fahre dann mal wieder nach Hause, ich muss mich nach einem Flug erkundigen“, sagte Johanna und stand auf.
„Du fährst da natürlich nicht hin“, sagte ihre Mutter scharf.
„Natürlich fahre ich, wieso denn nicht“, fragte Johanna erstaunt zurück.
„Dann nimmst du aber jemanden zur Begleitung mit“, forderte ihre Mutter. ”Ludwig oder Philipp .“
Philipp machte ein ablehnendes Gesicht und Johanna erklärte sehr entschieden:
„Diese Reise geht nur mich etwas an, mich hat Christina eingeladen und nicht dich, Ludwig oder Philipp, also fahre ich allein.“
Lotte verlangte nach einem neuen Eisbeutel und Johanna verabschiedete sich von ihrer Familie. Sie versprach, bald von sich hören zu lassen. Ihr Vater begleitete sie nach unten und legte den Arm um sie. Sie schmiegte sich aber nicht an ihn, wie sie es sonst immer tat. „Bei allem Verständnis für Mamas Lage“, sagte sie, „ich bin ziemlich enttäuscht von dir. Du hättest uns eine so wichtige Sache nicht verschweigen dürfen, das sieht dir auch gar nicht ähnlich.“ Alfred sah seine Tochter ernst an. Er strich ihr eine Locke aus der Stirn und sagte:
„Das ist eine Frage der Loyalität, mein Kind. Meine Loyalität ist und war immer auf seiten deiner Mutter. Bei all deiner Enttäuschung, das musst du verstehen.“
Er gab ihr einen Kuss und Johanna machte sich auf den Rückweg in die Stadt. Sie fühlte Vorfreude in sich, doch auch eine instinktive Besorgnis. Was mochte auf sie zukommen, was würde sie in England vorfinden? Wie würde ihre Reise in die Vergangenheit ausgehen? Durfte man eigentlich eintauchen in eine frühere Zeit, ohne Schaden zu nehmen? Würde sie sich verändern bei dem, was auf sie zukam?
Sie schüttelte die düsteren Vorahnungen ab und konzentrierte sich auf die praktischen Probleme, die sie nun lösen musste. Erst musste sie sich um eine Vertretung bemühen, dann galt es, Ludwig anzurufen. Der Flug musste gebucht werden, sie musste packen, ihre Katze zur Nachbarin bringen ...
In der Stadt fuhr sie zuerst zu dem Reisebüro, das regelmäßig für die Kanzlei tätig war. Sie erkundigte sich nach einem Flug nach Plymouth und erfuhr, dass es schon am nächsten Mittag eine Möglichkeit gab. Kurz entschlossen ließ sie sich einen Platz reservieren und fuhr nach Hause.
Dann war die Firma St. Kendall zu informieren und so wählte sie die angegebene Nummer in Plymouth. Sie erklärte der freundlichen Dame am Empfang, dass sie am nächsten Tag um 14.30 Uhr Ortszeit in Plymouth landen würde, und ihr wurde versichert, dass man sie abholen werde.
Anschließend musste sie ihre Vertretung regeln. Sie, Tom und Kerstin arbeiteten als Team zusammen, eine eingespielte Truppe, die sich gut verstand und bei allem Arbeitsdruck viel Spaß miteinander hatte.
Kerstin war der „Kanzleivamp“, eine äußerst attraktive Frau mit roten Haaren und einem sprühenden Temperament. Sie verliebte sich in jeden zweiten Mandanten, und wenn private Kontakte zwischen Anwalt und Mandant auch streng verboten waren, so ging sie doch regelmäßig mit ihnen aus. Besonders angenehm waren ihr verheiratete Männer, da sie keinerlei Ambitionen auf eine längere und vor allem feste Bindung hatte. Sie hatte im Übrigen ein fantastisches Talent, ihre Beziehungen immer friedlich zu beenden, und da sie darüber hinaus eine exzellente Anwältin war, trudelten fast regelmäßig Dankschreiben in der Kanzlei ein, in denen Kerstins hervorragende Fähigkeiten bei der Abwicklung eines Prozesses gerühmt wurden und man schon jetzt darauf hinwies, im Wiederholungsfall ausschließlich die Dienste der Frau Dr. Kerstin Meienbrink in Anspruch nehmen zu wollen.
Ludwig nahm diese Schreiben immer mit großer Freude zur Kenntnis, aber seine Mitinhaberin, Dr. Susanna Kant, durchschaute das Beziehungsgeflecht, das Kerstin aufbaute, etwas besser und wies sie regelmäßig darauf hin, dass sie immer mit einem Bein am Abgrund stünde. Kerstin nahm diese Mahnungen zur Kenntnis und ignorierte sie würdevoll.
Tom hingegen war ein fürsorglicher Familienvater, verheiratet mit einer entzückenden Frau namens Molly, die nicht nur so hieß, sondern auch so aussah. Sie managte ihren Haushalt, dem neben Tom auch drei Kinder und zwei Katzen angehörten, mit traumhafter Gelassenheit und ohne sich jemals aus der Ruhe bringen zu lassen. Tom hing mit zärtlicher Zuneigung an ihr und den Kindern, auch wenn er immer den Eindruck zu erwecken versuchte, er sei durch seine Familie völlig gestresst, was ihm jedoch niemand abnahm.
Sie wählte die Nummer von Tom, da die Aussicht, Kerstin zu erreichen, ohnehin gleich null war. Als Tom den Hörer abnahm, vernahm Johanna ohrenbetäubenden Lärm auf der anderen Seite.
„Was ist denn bei euch los?“, fragte sie belustigt.
„Die unsäglichen Kinder dieser sogenannten Mutter haben einer der Katzen eine Glocke an den Schwanz gebunden, und jetzt tobt sie durch die Wohnung. „He, Molly, willst du dich nicht mal endlich um diese mißratenen Geschöpfe kümmern, die du deine Kinder nennst?“, sprach er neben den Telefonhörer, doch Johanna bekam es natürlich mit.
„Wenn ich mich recht erinnere, sind das auch deine Kinder“, versetzte Molly gleichmütig. „Im Übrigen bin ich beschäftigt.“
„Sie sitzt im Sessel und liest“, stöhnte Tom. „Man stelle sich vor, sie liest. Schluss jetzt, Mike, nimm sofort der Katze die Glocke ab, sonst setzt es was, das ist Tierquälerei, sofort, hörst du.“ Johanna hörte Toms Ältesten im Hintergrund maulen, aber offensichtlich folgte er den Anweisungen, denn der Lärm nahm merklich ab. Sie konnte sich die Situation genau vorstellen, das Wohnzimmer ein einziges Chaos, drei Kinder mit marrmelade-verschmierten Mäulern, Tom am Rande des Nervenzusammenbruchs hinter der Katze her hechelnd, und Molly ungerührt in eine Biographie vertieft. Sie liebte dieses Familienidyll und war gerne bei ihnen zu Gast, man konnte unangemeldet jederzeit dort auftauchen und wurde völlig unkompliziert integriert. Nicht selten hatte sie sich kurz nach ihrer Ankunft in der Küche wiedergefunden, Kartoffeln schälend oder mit anderen Arbeiten betraut, das alles war bei der Familie Mühlberg völlig selbstverständlich.
„Hör zu Tom, ich muss morgen überraschend nach England fliegen, es sieht so aus, als ob dort eine Großmutter von mir gestorben ist.“
„Eine Großmutter, aha“, versetzte Tom lakonisch. „Schätzchen, Deine Ausreden waren aber auch schon besser.“
Johanna erklärte ihm in Kurzform die Lage und spürte eine verhaltene Spannung in seiner Stimme, als er sie eindringlich fragte: „Und du bist sicher, dass du dahin fahren solltest?“
„Ich muss, Tom, ich habe keine Wahl.“
„Natürlich hast du keine Wahl, du musst ja allem auf den Grund gehen. Sei vorsichtig”, fügte er beinahe zärtlich hinzu. „Pass auf dich auf und ruf mich an, wenn du mich brauchst.“
„Keine Sorge Tom, wenn ihr meine Fälle übernehmt, dann bin ich schon beruhigt. Es sind ja nicht mehr viele, am übernächsten Wochenende wollten Ludwig und ich ja sowieso in Urlaub fahren.“
„Ach ja, was sagt denn Dr. Steifleinen zu deinem Abenteuer?“, fragte Tom neugierig. Er nannte Ludwig in Abwandlung seines Namens immer Steifleinen, kein unzutreffender Spitzname, fanden alle.
„Er weiß noch nichts davon, das steht mir noch bevor”, versetzte Johanna und verabschiedete sich liebevoll von Tom.
Der nächste Anruf war der Schwierigste. Ludwig wurde auf Dienstreisen nicht gerne durch Privates gestört, und außerdem musste sie ihm eine Enttäuschung bereiten, und das tat sie nicht gerne.
Als sie ihn endlich in seinem Zimmer im Parkhotel erreicht hatte, reagierte er erstaunlicherweise geradezu erfreut.
„Ach, Johanna, schön, dich zu hören, ich wollte dich auch eben anrufen, bevor ich zu dem Bankett gehe. Ich komme schon einen Tag eher zurück, dann können wir bereits am Donnerstag nach Holland fahren, ich hoffe, das passt in deine Pläne.“
Johanna fiel es schwer, seine freudige Stimmung so zu zerstören, aber sie hatte keine andere Wahl.
„Ludwig, ich fürchte, ich kann nicht mit dir nach Holland fahren, ich habe ein Problem.”
„Was ist passiert?“, fragte er kurz und ohne Umschweife und sie liebte ihn dafür. Er war kein Mann überflüssiger Worte, zuverlässig und punktgenau kam er auf den Kern einer Sache, analysierte sie, zog seine Schlüsse und akzeptierte sie - oder auch nicht, jedenfalls wusste man bei ihm immer genau, woran man war.
„Du wirst es kaum glauben, aber ich muss morgen nach England fliegen, weil meine Großmutter gestorben ist und ich im Testament bedacht bin.”
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Nach einigen Sekunden sagte Ludwig, unverändert im Tonfall:
„Das solltest du mir erklären.“
Er lauschte Johannas Geschichte bis zum Schluss und schwieg dann einen Augenblick. Schließlich sagte er leicht belustigt: „Sehr ungewöhnlich, Johanna, was dir da passiert ist. Ich wusste gar nicht, dass du eine so exzentrische Familie hast.“
„Ich auch nicht”, erwiderte sie leicht kläglich. Dann merkte sie ein leichtes Zögern in seiner Stimme, als er sagte:
“Ich werde dich natürlich begleiten, Liebes, ich sage den Urlaub gleich ab.“
„Das ist nicht nötig”, widersprach sie sehr entschieden. „Ehrlich gesagt, wäre es mir auch gar nicht recht. Ich hätte überhaupt kein gutes Gefühl, wenn du deinen bitter benötigten Urlaub absagst, nur weil du denkst, ich brauchte Hilfe beim Antritt einer Erbschaft.”
„Johanna“, sagte er mahnend. „Bitte keine Empfindlichkeiten. Mit meinem Angebot war keinerlei Abqualifizierung deiner Person oder deiner Fähigkeiten als Anwältin verbunden, ich war einfach nur nett zu dir.”
„Entschuldige Schatz, ich bin vermutlich ein bisschen überreizt“, antwortete sie, und fügte – nicht ganz aufrichtig – hinzu: „Es tut mir wahnsinnig leid um unseren Urlaub, wir waren schon so lange nicht mehr in Ruhe zusammen. Ich habe mir schon überlegt, ob ich vielleicht in Guernsey zusteigen könnte, bis dahin habe ich sicher alles erledigt.“
„Ja das wäre vielleicht eine Möglichkeit, Johanna ich kann mal vorsichtshalber deine Segelsachen mitnehmen. Am besten bringst du alles in die Kanzlei, dann brauche ich nicht bei dir zu Hause vorbei zu fahren, und du sparst dir den Weg zu Vater. Ja, das wäre wirklich eine gute Idee. Du solltest mich aber auf dem Laufenden halten - wenn es dir nichts ausmacht”, schloss er mit einem - wie sie bemerkte - ironischen Unterton.
„Machmal bist du wirklich scheußlich”, schimpfte Johanna, als Ludwig sich leise lachend verabschiedete und ihr viel Glück wünschte.
Als letztes stand das Gespräch mit Martin an. Sie traf ihn zu Hause und klärte ihn über alle Einzelheiten auf. Ihren kleinen Bruder hätte sie gerne bei sich gehabt auf ihrer Reise in die Familienvergangenheit. Martin fand die ganze Sache genauso spannend wie sie und im Gegensatz zu Philip neidete er ihr auch nicht ein eventuelles Erbe. Er hatte allerdings diffuse Befürchtungen, das Gefühl einer unbekannten und möglicherweise bedrohlichen Entwicklung, die sich noch nicht in Worte kleiden ließ.
„Mir wäre wohler, wenn ich dich begleiten könnte, aber ich kann im Moment nicht weg. In ein paar Tagen könnte ich vielleicht nachkommen, wenn du mich brauchst. Ruf mich einfach jeden Tag an und dann sehen wir ja, was da abgeht. Wenn du schon hinfährst, dann lass dich auch richtig auf die Geschichte ein”, setzte er nachdenklich hinzu, „aber sei vorsichtig. Es ist merkwürdig, dass Christina einem von uns etwas vererbt hat. Ob es wohl ihr schlechtes Gewissen war?”
„Ich habe keine Ahnung, aber ein wenig unheimlich ist mir die ganze Sache auch. Ach, mir wird schon nichts passieren, wir leben ja hier in zivilisierten Breitengraden, nicht wahr?“