Читать книгу Jakobs kleiner Koffer - Ute Janas - Страница 7
Kapitel 5
ОглавлениеJohanna wurde durch ein leises Klopfen geweckt. Sie schreckte hoch und wusste sekundenlang nicht, wo sie sich befand. Dann sah sie den lavendelfarbenen Brief in ihrer Hand und stellte fest, dass sie auf dem Diwan eingeschlafen war. Sie erinnerte sich, dass sie nach der Lektüre des Briefes lange nachgedacht hatte. Über das, was Christina ihr geschrieben hatte und darüber, welche Gefühle die Worte in ihr ausgelösten. Dabei war sie offensichtlich eingenickt.
Judy kam leise in ihr Zimmer, um ihr mitzuteilen, dass ein Bad bereitet sei. Johanna bedankte sich und verneinte sehr nachdrücklich die Frage, ob sie Hilfe brauche. Ein Hausmädchen, das ihr den Rücken schrubbte, kam ihr nun wirklich ein bisschen zu anachronistisch vor. Judy führte sie ins Bad und ließ sie dann allein. Johanna zögerte nun nicht mehr, zu einladend duftete das Bad nach Kräutern und Blumen. Sie zog sich aus und ließ sich wohlig in das wohltemperierte Wasser gleiten. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Christinas Brief. Die Worte hatten sie gefangen und in ihr eine angenehme Vertrautheit erweckt. Was mochte sich hinter all dem verbergen, was bedeuteten die Worte “wenn du dich auf mich einläßt, wirst du die Wahrheit erfahren”. Welche Wahrheit, Christinas Rechtfertigungen oder ganz neue Dinge? Der Brief hatte vor allem ihre Neugier geweckt und es war keine Frage, dass sie bereit war, sich auf Christina einzulassen. Immer noch quälte sie allerdings die Frage, woher Christina so viel über sie wusste und woher sie das Foto hatte. Sie döste vor sich hin, und als die Wanduhr im Schlafzimmer acht Mal schlug, schreckte sie auf. Sie sprang aus der Wanne und hüllte sich in den Bademantel, den Judy schon für sie bereit gelegt hatte. Dann ging sie in das Ankleidezimmer und schlüpfte in ihren langen Rock und eine farblich passende Bluse. Sie schminkte sich ein wenig und sah dann in den Spiegel. Irgendwas fehlte, Schmuck vielleicht, in diesem feierlichen Rahmen wollte auch sie festlich aussehen. Johanna schaute sich suchend um, ihre Großmutter musste doch bestimmt irgendwo eine schöne Kette haben. Auf der Kommode im Schlafzimmer entdeckte sie eine große Schmuckkassette, öffnete sie und warf sie gleich wieder zu. Der Anblick der funkelnden Steine blendete und erschreckte sie zugleich. Vorsichtig öffnete sie die Kassette wieder und wühlte ein bisschen darin herum. Schließlich fand sie eine wunderschöne Rubinkette mit passenden Ohrclips dazu und legte sie an, begleitet von einem kurzen Moment schlechten Gewissens. Ein letzter Blick in den Spiegel überzeugte sie dann aber sehr schnell, sie fand sich selbst wunderschön.
Pünktlich um halb neun klopfte es an der Tür und George bat zum Dinner. Johanna entging nicht, dass auch er sie mit einem sehr zufriedenen Blick musterte, offenbar hatte sie für das heutige Dinner das richtige Outfit gewählt. Er ging vor ihr die Treppe hinunter und bat sie, ihm zu folgen.
Am Fuß der Treppe blieb Johanna stehen, weil sie am Kamin einen Mann im Smoking erblickt hatte. Er saß in dem Sessel, in dem sie vor Stunden ihren Tee eingenommen hatte und schaute in die lodernden Flammen, ein halb gefülltes Glas in der Hand. Johanna blieb einen kleinen Moment stehen und betrachtete die Szene, die auf eine rätselhafte Weise traurig - oder besser- melancholisch wirkte. George räusperte sich und sagte dann sehr förmlich:
„Sir Norman, ich melde Ihnen Miss Joan Oldenburg. Miss Oldenburg, dies ist Sir Norman Brandwell, Viscount Sommershell.“ Der Angesprochene erhob sich höflich aus dem Sessel. Das also war der Erbe von Brandwell Manor, der Neffe des alten Majors. Johanna schaute ihn neugierig an und erkannte den Mann von dem Foto in Christinas Zimmer, der dort mit der blonden Frau abgelichtet war. In Wirklichkeit schien er noch attraktiver als auf dem Bild, groß, schlank und mit grauen Augen in einem markanten, gebräunten Gesicht. Er musterte sie nachdenklich und begrüßte sie dann mit - wie sie fand - sehr zurückhaltender Höflichkeit und, ohne ihr die Hand zu geben, in fast akzentfreiem Deutsch:
„Herzlich willkommen auf Brandwell Manor, Miss Oldenburg, darf ich Ihnen ebenfalls einen trockenen Sherry reichen?“
Johanna, die in der Lage war, ebenso kühl zu wirken, reagierte mit einem knappen Nicken und den Worten: „Danke, Sir Norman, ich weiß Ihre Höflichkeit und Ihre Herzlichkeit zu schätzen.”
Normann schaute sie verblüfft an. Dann lächelte er.
„Sie sind sehr offen, Miss Oldenburg, wie Ihre Großmutter, die nahm auch nie ein Blatt vor den Mund. Sie sehen ihr übrigens überaus ähnlich, ich nehme an, das hat man Ihnen schon öfter gesagt, oder?”
Johanna schaute ihn skeptisch an.
„Woher soll ich wissen, wie meine Großmutter ausgesehen hat, ich habe gestern zum ersten Mal von ihrer Existenz gehört. Bislang hat man mir Christina Brandwell verschwiegen.”
„Tatsächlich?”, fragte Norman mit einem Unterton in der Stimme, den zu ignorieren Johanna entschlossen war.
Sie schaute einige Minuten schweigend und etwas unbehaglich in die Flammen, bis Norman wieder das Wort ergriff:
„George wird uns gleich in den Dining-Room bitten, doch vorher sollten Sie einmal das Gemälde betrachten, das über dem ersten Treppenabsatz hier auf der linken Seite hängt. Ich bin sicher, Sie haben es noch nicht gesehen”, sagte er und Johanna drehte sich um. Zögernd und inzwischen etwas misstrauisch folgte sie ihm auf die andere Seite des Raumes. Beim Anblick des großen Ölbildes mit dem Porträt einer jungen Frau hielt sie inne. Fasziniert und wortlos schaute sie es an und fühlte sich einen Moment lang, als sähe sie in den Spiegel einer längst vergangenen Zeit und erblickte niemanden anderen als sich selbst. Johanna Oldenburg, eine junge, blonde Frau in einem langen, weißen Kleid mit einem Bukett wilder Rosen im Arm, zu ihren Füßen ein kleiner Hund, der an einem Zweig knabberte. Wie in Trance ging sie auf das Porträt zu, stellte unkonzentriert ihr Glas ab und merkte nicht, wie es umfiel und der Sherry auf den Teppich tropfte. Sie lehnte sich vor dem Bild an das Treppengeländer, die Augen unverwandt auf das Gesicht der Frau gerichtet. Tausend Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch den Kopf und machten sie schwindelig.
„Christina“, murmelte sie schließlich, „warum siehst du so melancholisch aus.” Dann drehte sie sich um und schaute Norman an, der ihr gefolgt war und das tropfende Sherryglas in der Hand hielt. „Ich hatte mir vorgestellt, sie wäre in England glücklich geworden, sonst hatte das doch alles gar keinen Sinn, oder?”
Norman, der sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte, erwiderte: „Sie wissen möglicherweise nicht viel von dem Leben Ihrer Großmutter, Miss Oldenburg, aber ich bin sicher, das wird sich hier ändern. Vieles ist anders, als es scheint und manches, das so offensichtlich aussieht, entpuppt sich plötzlich als ganz neue Geschichte.”
Sie wurden durch das Räuspern von George unterbrochen, der sie zum Dinner bat. Norman fasste Johanna leicht am Ellenbogen und sie folgten George durch eine der beiden Türen an der Rückseite der Halle. Unmittelbar hinter der äußeren lag die innere Halle, ein verhältnismäßig kleiner Raum, der insbesondere als Ausgangspunkt für etliche weitere Türen zu dienen schien. Außerdem führte von dieser Halle eine weitere Treppe nach oben. Auf Johannas Nachfrage erklärte Norman, dass dies die innere Treppe sei, die ebenfalls in die oberen Etagen führte und gewährleistete, dass man ungesehen von eventuellen Besuchern, die sich in der äußeren Halle aufhielten, nach oben gelangen konnte. „Wieviele Zimmer gibt es denn in Brandwell Manor?”
„Genau weiß ich es nicht, ich glaube so etwa sechzig“, erwiderte Norman und schaute George hilfesuchend an.
„Im Haupthaus zweiundsiebzig Räume inklusive Küchentrakt, die Personalwohnungen über den Stallungen kämen dann noch hinzu, Sir.“
„Danke George, ich denke, wir können jetzt essen.“
George öffnete die Flügeltür, die in den Dining-Room führte und Johanna sog scharf die Luft ein. Der Raum war wie eine Komposition. Eine Nussbaumtäfelung gab ihm eine warme Atmosphäre, Kerzen in alten Lüstern spiegelten sich in dem blankpolierten Holz und einige ausgesuchte alte Ölbilder in barocken Rahmen lockerten die Strenge der Wandtäfelung auf. In der Mitte war eine große Tafel gedeckt, kleine Lämpchen darauf gaben ein intimes Licht. Am Kopfende stand eine Anrichte, auf der sich eine erhebliche Anzahl von silbernen Töpfen, Schüsseln und Tiegeln befand, warmgehalten auf Rechauds.
„Wieviele Leute kommen denn zum Essen?“, fragte Johanna verwirrt.
„Heute essen wir nur zu zweit, aber für George und seine Frau ist es ein Festessen, weil Sie hier sind, und es ist für die beiden fast wieder so wie früher, als Christina noch lebte.“
Er zog einen der gepolsterten Stühle zurück und ließ Johanna Platz nehmen.
George servierte einen trockenen, italienischen Weißwein und eine Pilzsuppe. Anschließend gab es einen Fischteller, gefolgt von einem Sorbet aus Gurken und dem Hauptgang, zartem Lammfleisch mit einem undefinierbaren gebäckartigen Ding, das sich als Yorkshirepudding entpuppte.
„Yorkshirepudding habe ich mir immer ganz anders vorgestellt, ich dachte, es wäre irgendwas Wabbeliges mit Rindertalg oder so, aber es schmeckt ja köstlich.“
George schenkte einen samtigen Rotwein ein und freute sich offensichtlich über das Kompliment für seine Frau, die Köchin. Norman erwies sich jetzt als charmanter Plauderer, der mit leichter Hand ein unverbindliches Gespräch führen konnte, dem man die etwas gereizte Stimmung zu Beginn des Abends nicht mehr anmerkte. Als Johanna ihn fragte, wieso er ein derart gutes Deutsch spreche, erzählte er von seinem Sprachunterricht bei Christina, der jeden Tag stattgefunden hatte.
„Wir beide haben sehr viel Deutsch miteinander gesprochen, Christina wollte die Beziehung zu ihrem Heimatland dadurch aufrecht erhalten. Mir hat dieser Wunsch die Möglichkeit eröffnet, die deutschen Klassiker im Original zu lesen. Sagen Sie Miss Oldenburg”, wandte er sich übergangslos einem ernsteren Thema zu. „Sie haben erst gestern von der Existenz Ihrer Großmutter erfahren?”
„Ja“, antwortete Johanna. „Durch den Brief der Rechtsanwälte St. Kendell. Es war der reine Schock, als ich feststellen musste, dass es eine neue Großmutter in meinem Leben gab, die uns bisher verschwiegen wurde. Alles sehr mysteriös.”
Normans Gesichtsaudruck wurde wieder verschlossen, als er nickte und sie ins Raucherzimmer bat, um dort den abschließenden Kaffee zu trinken. Die Distanz zwischen ihnen war wieder fast körperlich zu spüren, und Johanna fragte sich, was wohl der Grund für seine offenkundige Ablehnung war. Normalerweise hätte sie ihn gefragt, heute war sie allerdings zu müde und zu überwältigt von neuen Eindrücken, als dass sie dieser latente Beziehungskonflikt noch ernsthaft interessiert hätte.
Der „Smoking-Room“ war ein gemütliches Zimmer an der Rückseite des Hauses mit einer schön bemalten Stuckdecke, üppig gefüllten Bücherregalen an den Wänden, einem Kamin mit Marmorumrandung und großen Terrassentüren, die in den rückwärtigen Park führten. Sie ließen sich in den Sesseln am brennenden Kamin nieder. Johanna, eine Gelegenheitsraucherin, nahm gerne die angebotene John Players und ließ sich von George mit einem Kaffee und einem Armagnac verwöhnen. Entspannt lehnte sich zurück.
„Hier ist es wirklich wunderschön“, sagte sie. „Ein Haus wie ein Traum, eigentlich ein richtiges Schloss. Ich habe so etwas noch nie gesehen.”
„Sie müssen sich alles ganz genau anschauen, es ist wirklich ein Schmuckstück “, sagte Norman. „Morgen wird Ihnen George das ganze Haus zeigen und alles erklären, ich denke, es wird Ihnen gefallen. Ich lebe seit mehr als 30 Jahren hier und fand es immer toll.“
„Dann sind Sie also als Kind hier eingezogen“, stellte Johanna fest und, da Norman nickte, ohne weiter auf diese Bemerkung einzugehen, ließ Johanna dieses Thema fallen.
„Sir Norman,” fasste sie sich ein Herz. „Können Sie mir etwas mehr über das alles hier sagen, ich bin sehr verunsichert.“
„Das kann ich verstehen, aber zunächst sollten Sie mich Norman nennen, und ich sag dann vielleicht einfach Jo, ist das ok?“
Johanna nickte, und er fuhr fort: „Ich stehe Ihnen für alle Fragen zur Verfügung, aber nicht mehr heute abend. Lassen sie sich ein bisschen von Brandwell Manor und den Erinnerungen an Christina gefangen nehmen, schalten Sie ab und dann sehen wir weiter. Wenn Sie es wünschen, bringe ich Sie jetzt in Ihr Zimmer”, setzte er höflich hinzu und beendete damit einen Abend voller gemischter Gefühle für Johanna.
Sie erhoben sich und Norman führte sie - diesmal über die innere Treppe - nach oben. Die Treppe mündete in einem Gang, der sie um zwei Ecken wieder zu dem Flur vor ihrem Zimmer führte. Langsam begann sie, das System dieses Hauses zu begreifen und fand es faszinierend. Norman öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, vergewisserte sich, dass im Kamin ein Feuer brannte, dann verabschiedete er sich und wünschte ihr eine gute Nacht.
Johanna entdeckte auf einem Teewagen eine kleine Auswahl an Getränken, Plätzchen und Sandwiches. Sie goss sich einen Whiskey ein und wanderte durch Christinas Räume. Die Atmosphäre hier wirkte auf sie vertrauter als der Rest des Hauses. Die Stimmung dieser Zimmer vermittelte mehr Geborgenheit, war intimer und weniger beängstigend. Sie öffnete die Balkontür und schaute in den nächtlichen Himmel Cornwalls. Ein leises Geräusch verriet ihr, dass in einiger Entfernung jemand auf dem Balkon stand, der sich an der gesamten Front entlang zog. Sie steckte vorsichtig den Kopf aus der Türfüllung, die sie vor Blicken verbarg und erkannte etwa zehn Meter weiter rechts Norman, der am Geländer des Balkons stand und eine Zigarette rauchte. Er hatte sie augenscheinlich nicht bemerkt und sie trat deshalb leise in das Zimmer zurück und schloss die Tür. Für heute hatte ihr der Kontakt mit dem Schlossherrn gereicht. Sie war müde und von den Erlebnissen des Tages verwirrt. In ihrem Kopf überschlugen sich die Ereignisse und wirkten die ganze Nacht nach. Ein zunächst unruhiger Schlaf trennte sie vom Wachsein, und in ihren Träumen vermischten sich die Erinnerungen an den vergangenen Tag mit Versatzstücken ihrer Umgebung, dem Himmelbett, dem Haus mit den vielen Kaminen auf dem Dach und einer melancholisch aussehenden, jungen Frau, die in einem langen, weißen Kleid treppauf und treppab lief, auf der Suche nach etwas, was sie nicht finden konnte. Irgendwann verschwanden aber auch diese Bilder und Johanna fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.