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Kapitel 4

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Aufatmend ließ sich Johanna in ihren Sitz sinken und nahm dankend das Glas Orangensaft, das ein freundlicher Steward ihr reichte. Als das Flugzeug abhob, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Wie ein Traum kamen ihr die letzten 24 Stunden vor, seit sie jenen schicksalhaften Brief geöffnet hatte. Alles war aus den Fugen, die Rahmenbedingungen ihres Lebens hatten sich geändert, und sie wusste noch nicht, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. Deutlich spürte sie das Unbehagen, das der plötzliche Verlust ihrer Sicherheit mit sich brachte, gepaart mit einer verhaltenen Vorfreude und Spannung. Dies war eine Situation, wie sie noch keine erlebt hatte und sie fühlte sich wie auf einem Hochseil.

Martin hatte sie zum Flughafen gebracht und die ganze Situation noch einmal mit ihr durchgesprochen. Er war emotional ebenso berührt wie Johanna, und das tat ihr gut.

Johanna hatte sich - so gut das in der Kürze der Zeit überhaupt möglich war - vorbereitet. Sie hatte sich über die Anwälte erkundigt und erfahren, dass die Firma St. Kendall eine der renommiertesten Anwaltskanzleien in Südengland war. Sie hatte sich Unterlagen über das englische und das internationale Erbrecht herausgesucht, war über die Verkehrsmittel in Cornwall und Devon informiert und mit Kreditkarten ausgestattet - eigentlich konnte nichts schiefgehen. Auch ein Handy hatte sie dabei - ein Abschiedsgeschenk ihres kleinen Bruders, der sie jederzeit erreichen wollte.

Johanna schaute aus dem Fenster und sah durch einen zerrissenen Wolkenvorhang unter sich die englische Küste. Ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu jener geheimnisvollen Großmutter, die vor 55 Jahren ihren Mann und ihre kleine Tochter verlassen hatte, um über den Kanal zu ihrem Geliebten zu gehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie verzweifelt oder wie wagemutig eine Frau im Jahr 1935 gewesen sein musste, um einen solchen Schritt zu tun. Bei den damaligen Moralvorstellungen musste sie einkalkulieren, gesellschaftlich geächtet zu werden. Wer war ihre Großmutter überhaupt? Wie alt war sie, als sie diese - wahrscheinlich recht mühsame - Reise machte? Wo hatte Christina wohl ihren Geliebten kennengelernt? War er vielleicht ein Hotelgast gewesen, in den sie sich spontan verliebt hatte? Wieso hatte sie den Mut zu einem solchen Schritt gefunden?

Johanna fiel plötzlich auf, dass sie gar nichts über Christina wusste. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, woher sie gekommen war, als sie ihren Opa geheiratet hatte. Vielleicht war sie Zimmermädchen im Hotel gewesen oder selber zu Gast, mit ihren Eltern vielleicht - ihre Mutter hätte ihr sicherlich mehr erzählen können, wenn nicht eine seltsame Scheu Johanna davon abgehalten hätte, sie nach Christina zu fragen. Sie hatte das Gefühl, ihrer Großmutter vorbehaltlos begegnen zu müssen, frei von den emotionalen Zwängen ihrer Mutter.

Das Flugzeug ging in den Landeanflug über und Johanna schnallte sich an. Sie landeten bei strahlendem Sonnenschein auf dem International Airport von Plymouth, und Johanna betrachtete das gute Wetter als positives Omen. Sie verließ mit den anderen Passagieren das Flugzeug und ging die wenigen Schritte bis zur Ankunftshalle zu Fuß.

Nachdem sie ihr Gepäck in Empfang genommen hatte, schaute sie sich suchend um. Es waren nur wenige Menschen dort zur Begrüßung der Ankommenden versammelt, und so fiel es ihr nicht schwer, den grauhaarigen Mann in einer Livree zu entdecken, der ein großes Schild mit ihrem Namen hochhielt. Sie holte tief Luft und ging auf ihn zu. Doch bevor sie sich vorstellen konnte, sagte er mit einem Lächeln:

„Sie sind Christinas Enkelin, herzlich willkommen in England Miss Oldenburg. Ich bin Peter Milhoney, der Chauffeur, bitte nennen Sie mich Peter.“

„Guten Tag Peter“, erwiderte Johanna herzlich. „Ich bin - ja, ich denke, ich bin Joan“, ganz sicher war sie sich nicht, ob Joan die richtige Übersetzung ihres Vornamens war, aber Peter war es offensichtlich zufrieden. Er nahm ihren Koffer und ging ihr voraus zum Parkplatz. Dort steuerte er auf einen großen, silber­grauen Wagen zu.

„Das ist ja ein Bentley“, rief Johanna überrascht. Den Platz auf dem Rücksitz, den Peter ihr anbot, lehnte sie ab und setzte sich neben ihn. Peter nahm das lächelnd zur Kenntnis, sagte aber nichts.

Er steuerte den Wagen geschickt durch den dichten Verkehr und bald verließen sie die Innenstadt und wandten sich nach Westen. Peter bog von der Bundesstraße 38 in eine kleine Nebenstraße ein. Die Landschaft veränderte sich. Weitgezogene Hügel mit satten Wiesen wechselten ab mit Baumgruppen, durch die sich ein kleiner Fluss schlängelte. Rechts und links säumten dichte Hecken voller Blumen und Ranken die Straße. Johanna sah Mohnblumen, Heckenrosen und andere Wildblumen und als sie die Seitenscheibe öffnete, bemerkte sie den würzigen Duft, der über dem Land lag. Die Landschaft war so lieblich, heiter und beschwingt, dass Johanna ganz fröhlich wurde. Sie hatte das Gefühl, durch einen wunderschönen Park zu fahren und konnte sich nicht satt sehen. Hin und wieder passierten sie gepflegte kleine Ortschaften mit verwinkelten Straßen und Fachwerkhäusern, die unter der Last ihres Blumenschmucks fast zusammenzubrechen schienen, und Johanna hatte das Gefühl, sie wäre in der Landschaftskulisse zu einem Heimatfilm gelandet. Wie hingewürfelt lagen immer wieder vereinzelte Häuser mitten in den grünen Wiesen, oder es führten breite Kieswege rechts oder links zu verschlossenen Toren und ließen erahnen, dass sich hinter ihnen ein etwas größeres Anwesen verbergen musste.

„Hier ist es so friedlich und so wunderbar ruhig“, sagte sie zu Peter

„Ja, Miss Joan, hier erholt sich die Seele, hat Ihre Großmutter immer gesagt, wenn sie mit mir durch Cornwall gefahren ist. Ich bin oft mit ihr diese Straße entlang gefahren, es war ihr Lieblingsweg nach Plymouth, auch wenn sie nicht so gerne dahin gefahren ist.”

„Wieso, ist die Stadt nicht schön”, fragte Johanna.

„Na ja, es ist eben eine Großstadt, eine Hafenstadt, nicht wahr”, antwortete Peter, als wäre damit alles gesagt.

„Wie weit sind wir denn von der Küste weg?“, fragte Johanna neugierig.

„Nur ein paar Meilen und jetzt sind wir gleich am River Fowey, der direkt in den Kanal führt. Wir müssen ihn mit einer Fähre über­queren.“ Schon nach wenigen Minuten stoppten sie, um auf die Fähre zu warten. Der Fluss wand sich wie ein Fjord in das Land hinein, nach links gab die Landschaft den Blick auf einen grünen Hügel voller Häuser und ganz am Ende auf den Ärmelkanal frei, auf der anderen Seite konnte man dichte Wälder sehen, die auf beiden Seiten das Flußufer säumten. Im oberen Teil des Flusses, der dort ein weites Becken bildete, lagen zwei alte Tanker, die offensichtlich auf ihre Verschrottung warteten.

„Was sind das denn für Schiffe, die sind ja riesengroß und sehen aus, wie Kriegsschiffe?”, wunderte sich Johanna, Peter antwortete allerdings nur mit einem undeutlichen „Hm.”

Die kleine Fähre brachte sie auf die andere Seite. Dort warteten auf die Ankömmlinge ein paar uralte Häuschen, die aussahen, als hätten sie viel von der Vergangenheit zu berichten, wenn man sie nur ließe. Sie passierten den winzigen Ort und fuhren vorbei an einer großen Bucht wieder in grünes, weites Land hinein, das jetzt ab und zu durch ein leuchtend gelbes Rapsfeld aufgelockert wurde. Johanna ließ sich tief in ihren Sitz sinken und hatte nur noch den einen Wunsch, nie mehr etwas anderes schauen zu wollen.

Verse von Wordsworth und Shelley kamen ihr in den Sinn: „Mir war’s, als ob ich einen Strauß gewunden, aus dieses Traumes Blüten“, wie gut diese Worte hierhin passten, dachte Johanna, hier musste man ja zum Romantiker werden.

Eine halbe Stunde später tauchte plötzlich ein Hinweisschild mit dem Namen „Brandwell Manor“ auf und Peter bog nach links in einen Kiesweg von der Straße ab. Er hupte einmal kurz und aus einem kleinen Haus, das etwas abseits von der Straße lag, kam ein junger Mann, tippte an seine Mütze und öffnete das schmiedeeiserne zweiflügelige Tor. Dieses Tor zierte ein goldenes Wappen, das auf der einen Seite einen großen Vogel zeigte und auf der anderen Seite so etwas wie einen Degen oder einen Säbel. Hinter dem Tor schlängelte sich der Kiesweg den Hügel hinauf, gesäumt von riesigen Rhododendronbüschen, die in voller Blüte standen.

„Wo sind wir hier?”, fragte Johanna ratlos, „Was ist das für ein Anwesen?“ Sie unterbrach ihren Satz, denn in ihr Blickfeld kam ein riesiges Haus im viktorianischen Stil. Der Kiesweg führte in einer großen Runde zu einem vorgebauten Portal, von dem aus sich rechts und links das Haus weitläufig ausbreitete. Es war ein Bau aus Ziegelsteinen, zweistöckig, gekrönt von vielen Giebeln und noch mehr Kaminen und über und über bewachsen mit Kletterpflanzen. Glyzinien und Weinreben rankten sich um Efeustämme, Clematis und Kletterrosen schlangen sich um Spaliere, und alle zusammen bildeten einen dichten, bunten Wandbehang.

„Ist das etwa …?“, begann Johanna, und Peter setzte ihren zögernden Satz fort, „ja Miss Joan, das ist Brandwell Manor, das Heim von Major und Mrs. Brandwell, Ihrer Großmutter.“

Johanna blieb regungslos auf dem Beifahrersitz sitzen.

„Ich werde verrückt“, murmelte sie, „ich werde auf der Stelle verrückt.“ Sie rieb sich die Augen, schloss sie, machte sie wieder auf und noch immer stand dieses Traum­schloss vor ihr, dieses zauberhafte, alte, riesige Haus.

Johanna wurde aus ihrer Verzückung gerissen, als Peter ihren Schlag öffnete und sie aus dem Wagen komplimentierte. Er führte sie zu dem Portal, vor dem sich eine kleine Gesellschaft aufgebaut hatte. Als erster in der Reihe stand ein soignierter älterer Herr in einem förmlichen dunklen Anzug. Neben ihm eine etwa ebenso alte Frau in einer weißen, gesteiften Küchenschürze, zwei Mädchen in einer Art Tracht, eine junge Frau mit Schürze neben einer grauhaarigen Frau in einem weißen Kittel und drei Männer in grünen Anzügen.

„Herzlich willkommen auf Brandwell Manor Miss Oldenburg”, sagte der ältere Herr. „Ich bin George Mason, der Butler, darf ich Ihnen einen Teil des Personals dieses Hauses vorstellen?“

Joan nickte und murmelte ein paar unverbindliche Worte. Dann folgte sie Mr. Mason, der mit ihr die Reihe abging, und ihr die anderen vorstellte. Mrs. Mason, offensichtlich also seine Frau, war die Köchin, die beiden Mädchen, Judy und Nelly die Zimmermädchen, Gladys die Küchenhilfe, Pauline die Wäschefrau und die drei grünen Herren, Jonathan, William und Bodur die Gärtner, natürlich nur für den Hausgarten und den Park, nicht für das Gut, wie George erklärte. Johanna gab allen die Hand und begrüßte jeden freundlich, spürte aber zu ihrem eigenen Entsetzen, dass sie kurz davor stand, ihre Fassung zu verlieren und in schallendes Gelächter auszubrechen. Zu komisch fand sie diese steife Runde, und die Förmlichkeit des Butlers gab ihr das Gefühl, eine Rolle in einem etwas altertümlichen englischen Film zu spielen. Die beiden Mädchen hatten tatsächlich geknickst, und der würdevolle Gesichtsausdruck der Gärtner gab ihr fast den Rest.

„Reiß dich bloß zusammen”, rief sie sich streng zur Ordnung, und schaffte es tatsächlich, die Begrüßungsrunde ohne peinlichen Ausfall zu überstehen.

Mr. Mason hieß Peter das Gepäck in die Suite von Lady Christina bringen und führte Johanna gemessenen Schrittes in das Haus. Johanna trat in die weitläufige Halle. Die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, die Rückwand wurde beherrscht von einem riesigen Kamin mit einem marmornen Aufsatz, in dem selbst an diesem warmen Maitag ein helles Feuer brannte. Die Decke war mit Stuckornamenten verziert und an den Wänden hingen Ölbilder mit Landschaftsthemen. Jeweils rechts und links der Halle führten breite Eichentreppen in das obere Geschoss, die sich dort zu einer Galerie vereinigten, unten führten zwei getäfelte Türen in das Innere des Hauses.

„Dies ist die äußere Halle, Miss Oldenburg, von hier aus geht es in den Dining-Room, den Salon, die Bibliothek und die anderen Räume im Parterre. Die persönlichen Räume der Herrschaft liegen oben.“

„Danke“, murmelte Johanna und schaute sich um, überwältigt von dem Eindruck dieses Raumes. Dann wandte sie sich etwas ratlos an den Butler.

„Mr. Mason, was soll ich denn jetzt hier machen?”, fragte sie ihn verunsichert.

„Bitte nennen Sie mich George, das ist hier so üblich, Miss Joan. Darüber hinaus schlage ich vor, Sie nehmen jetzt ihren Tee, anschließend beziehen Sie erst einmal Ihre Räume und erholen sich ein wenig von Ihrer Reise. Zum Dinner, etwa um 20.30 Uhr, erwarten wir Mr. Norman, er wird alles Weitere mit Ihnen besprechen. Sie haben also Zeit genug, sich auszuruhen, ein Bad zu nehmen und sich zum Dinner umzuziehen”.

Aha, dachte Johanna, ein diskreter Hinweis auf die hier üblichen Umgangsformen, Umziehen zum Dinner. Gut, dass sie ihren langen Seidenrock eingepackt hatte. Aber ein Bad am hellichten Nachmittag? Das wollte sie sich aber noch einmal überlegen.

„Wer ist Mr. Norman“, fragte sie sodann.

„Er ist Major Brandwells Neffe und der Verwalter des Gutes, das zu Brandwell Manor gehört. Im Augenblick ist er gerade wegen einer Grundstücksstreitigkeit unterwegs, sonst hätte er sie schon hier begrüßt.“

„Natürlich“, murmelte Johanna und ließ sich von George zu einem Sessel am Kamin führen.

„Welchen Tee bevorzugen Sie, Miss Oldenburg”, fragte George und rasselte einige Sorten herunter. Johanna, die immer nur Kaffee trank, und sich mit Tee überhaupt nicht auskannte, hatte nur den Namen „Earl Grey“ verstanden und wiederholte ihn.

„Sehr wohl“, sagte George, „als Nachmittagstee ist Earl Grey immer wieder köstlich, nicht wahr.“ Johanna nickte matt.

Damit verabschiedete er sich mit einem dezenten Nicken und verließ die Halle durch eine der hinteren Türen. Johanna lehnte sich erschöpft von den vielen Eindrücken in ihrem Sessel zurück und ließ den Blick schweifen. Diese Halle war sehr groß, mindestens zwölf Meter lang und acht Meter breit, vermittelte aber dennoch den Eindruck großer Behaglichkeit. Auf dem Eichenholzparkett lagen dicke Orientteppiche, in den Fensternischen waren gepolsterte Sitzbänke angebracht und an den Wänden befanden sich kleine Sitzgruppen. Sie atmete tief durch. Das war also das Zuhause ihrer Großmutter gewesen, sie hatte sich in England offensichtlich wirklich in ein gemachtes Nest gesetzt. Ihre Sympathie für Christina schwand ein wenig angesichts des Luxus, mit dem diese sich augenscheinlich umgeben hatte. Der Lerchenhof erschien im Vergleich mit diesem Anwesen wie ein ärmliches Reihenhaus, und Johanna breitete sich innerlich darauf vor, Christinas Handeln kritischer als geplant zu betrachten.

George erschien wieder und brachte den Tee. Das war nun offensichtlich ein richtiger „Five o‘clock tea“, in der Silberkanne, feinstem chinesischem Geschirr, Sahne, Zitrone und einem mehrstöckigen Tablett mit Gebäck, kleinen Kuchen und Sandwiches.

„Wer soll denn das alles essen, George?” fragte Johanna lachend und George antwortete würdevoll:

„Man muss nicht alles essen, Miss Oldenburg, bitte verzeihen Sie.“

„Ist schon gut, George“, sagte Johanna. „ich bin mit den Sitten hier überhaupt nicht vertraut und ausgesprochen dankbar für jeden Tipp von Ihnen.“

„Ich weiß”, antwortete George. „Bei Miss Christina war das auch so, als sie nach Brandwell Manor kam. Ich war damals hier der Hausdiener”, fügte er erklärend hinzu.

Johanna nahm etwas Tee und biß herzhaft in einen gefüllten Kuchen. Sie lehnte sich wieder zurück in ihren bequemen Sessel und schlüpfte aus ihren Schuhen. Die Füße, die sie zur Entspannung auf den Nachbarsessel gelegt hatte, zog sie schuldbewusst wieder zurück, als George nach einer offensichtlich genau bemessenen Zeit wieder an die Tür klopfte und ihr anbot, sie hinauf zu führen.

Neugierig ging sie hinter ihm die Treppe hinauf.

Die Galerie führte in einen langen Gang, von dem rechts und links Zimmertüren abgingen. An den Wänden hingen in einer Ahnengalerie würdige Damen und Herren, vermutlich die Brandwell´schen Vorfahren. George öffnete eine der Türen und ließ Johanna eintreten.

„Dies waren die Räume Ihrer Großmutter, Sir Norman fand es passend, dass Sie hier einziehen und nicht in eines der Gästezimmer“, sagte er und folgte ihr in den Raum. Johanna schaute sich um und fühlte sich sogleich wohl in diesem Zimmer, das hell und freundlich wirkte. An der gegenüberliegenden Seite blickte man durch die Sprossenfenster einer breiten Glastür in den Park, daneben war rechts und links jeweils eine Fensternische, in der in halber Höhe eine Bank darauf wartete, dass man sich hinsetzte oder legte, ausgestattet mit Polstern in einem Blumenmuster und gleich gemusterten Kissen. An der rechten Wand stand ein großer Schreibtisch aus Rosenholz, einige Bücherregale zierten die Wände, in einer Ecke war ein Kamin mit einem wertvollen Aufsatz, auf dem einige Fotografien standen, und ein breiter Diwan auf der anderen Raumseite lud zu einer angenehmen Ruhepause ein. Insgesamt machte der Raum einen gemütlichen, im Vergleich zu der Empfangshalle aber ausgesprochen schlichten Eindruck. An den Wänden hingen fröhliche, impressionistisch wirkende Bilder, die dicken Wollteppiche waren ebenfalls hell und freundlich.

„Hier ist Mrs. Christinas privates Arbeitszimmer, sie hat hier viel geschrieben“, sagte George. Dann führte er sie in einen angrenzenden Raum, der offensichtlich Christinas Schlafzimmer war und von einem großen Himmelbett beherrscht wurde. Auch hier gab es wieder diese Fensternischen, eine von ihnen barg eine Frisierkommode mit dreiteiligem Spiegel und in der anderen war eine Art Waschtisch installiert, jedenfalls fand sich dort eine große Pozellanschale und eine Kanne, so wie man sie von früher kannte, als Körperpflege noch einfacher als heute vor sich ging. Eine weitere Tür führte zu einem Badezimmer, das nur auf den ersten Blick altmodisch wirkte. Zwar waren der Waschtisch und die Wasserhähne von altertümlicher Form, und die hölzernen Handtuchhalter stammten sicherlich auch aus der Zeit, als Queen Victoria ein seltenes Bad zu nehmen beliebte. Hinter einer kaum erkennbaren Abtrennung, die George jetzt zur Seite schob, fanden sich allerdings eine luxuriöse Eckbadewanne neuesten Komforts, eine Eckdusche mit gläserner Abtrennung, Toilette und Bidet.

„Miss Christina hat großen Wert auf Badekomfort gelegt”, erläuterte George beinahe stolz. „Die Badezimmer in den Räumen des Majors und denen von Mr. Norman sehen genauso aus. Judy wird Ihnen gleich ein Bad richten”, fügte er hinzu und führte sie weiter herum. Johanna fand diese Vorstellung zwar belustigend, wagte aber keinen Widerspruch, um George nicht zu kränken. Sie kamen in einen Ankleideraum, dessen Wände ringsherum mit Schiebetüren bedeckt waren, in der Ecke stand ein wunderschöner großer Spiegel im Jugendstilrahmen. George öffnete eine Schranktür und zeigte ihr, wo ihre Sachen untergebracht waren, alles war bereits perfekt eingeräumt - kein Wunder bei so viel Personal im Haus.

Bevor er sie verließ, wollte er noch wissen, ob sie einen speziellen Wunsch für das Dinner hätte.

„Vielleicht etwas Leichtes“, sagte Johanna kraftlos, und er nickte.

„Sehr wohl, Miss“, stimmte er zu und verließ sie damit.

Johanna wandelte durch die Zimmerflucht und hatte immer noch das Gefühl, sich in einem Spielfilm zu befinden.

„In Brideshead war es doch so ähnlich”, dachte sie und trat erst einmal auf den Balkon. Vor ihren Augen breitete sich die Landschaft Cornwalls aus. Schwarzweiße Kühe weideten unter Gruppen von großen, weit ausladenden Bäumen. Sie erkannte Rotbuchen und Eichen, Kastanien, deren Blüte gerade abklang, Linden und Platanen. Breite, gepflegte Wege schlängelten sich durch die parkartige Landschaft, die immer wieder von Hecken durchzogen wurde und irgendwie hatte sie dauernd das Gefühl, dass gleich Jeremy Irons unten durch den Park laufen und zu ihr hochwinken müßte. Sie atmete tief durch und ihre Lungen sogen die würzige Luft ein, die schon ein bisschen nach Meer schmeckte.

Johanna ging wieder hinein und schaute sich neugierig die Fotos auf dem Kaminaufsatz an. Da war zunächst eine ältere Aufnahme, die einen gutaussehenden Mann mittleren Alters mit markantem Gesicht in Militäruniform zeigte, wahrscheinlich Major Brandwell. Johanna erinnerte sich an Fotos von Opa Heimberg und musste anerkennen, dass Christina sich auch insoweit verbessert hatte. Es folgten eine jüngere Aufnahme von einem Paar, das Johanna nicht einzuordnen wusste. Er war ein attraktiver, dunkelhaariger Mann und sie eine wahre Schönheit mit langen blonden Haaren an seiner Seite. Das letzte Foto stand ganz hinten und neben dem Rahmen lag eine getrocknete rote Rose. Johanna nahm das Foto zögernd an sich und betrachtete es mit sehr gemischten Gefühlen. Es war ein Foto von ihr selbst, sie erinnerte sich, dass ihr Vater es vor vielen Jahren im Garten des Lerchenhofs gemacht hatte. Wie kam Christina an dieses Bild? Was passierte hier? Irgendwie war ihr plötzlich unbehaglich zumute und sie schaute sich weiter in dem Raum um. Ihr Auge blieb an einem lavendelfarbigen Brief hängen, der auf Christinas Schreibtisch lag. Der Umschlag trug mit schwungvoller Schrift eine Aufschrift, die nur aus einem Wort bestand: Johanna.

Sie nahm den Brief in die Hand und bemerkte, dass er leicht nach Veilchen duftete. Sie wog ihn nachdenklich in ihrer Hand und zögerte ein wenig. Dieser Moment schien ihr auf wundersame Weise bedeutsam und sie hatte das Gefühl, an einem Scheideweg zu stehen. Wenn sie den Brief öffnete, gab es kein Zurück mehr, dann hatte sie sich endgültig auf Christina eingelassen. Wollte sie das wirklich?

„Warum bist du eigentlich hier, wenn du jetzt zögerst?”, schalt sie sich selbst und griff zu dem bereitliegenden Brieföffner. Sie setzte sich auf Christinas Diwan und schlitzte den Brief auf.

Liebe Johanna, Weihnachten 1989

jetzt ist mein Wunsch erfüllt: du bist da, sitzt an meinem Schreibtisch und liest meinen Brief. Für diesen Augenblick habe ich die letzten Jahre gelebt. Ich begrüße dich auf Brandwell Manor, meiner zweiten Heimat, nachdem ich meine erste verloren habe.

Doch dazu später. Ich bin Christina, deine Großmutter, das weißt du inzwischen. Vieles weißt du aber noch nicht, und ich will dich nach und nach an meine Geschichte heranführen. Ich will dir diese Annäherung langsam ermöglichen, denn ich bin dir fremd, und vielleicht stehst du mir sogar feindlich gegenüber. Du weißt nur das, was deine Eltern dir über mich erzählt haben und das ist nicht positiv. Eine Frau, die Mann und Kind verlassen hat, um zu ihrem Geliebten nach England zu gehen, scheußlich, nicht wahr?

Wenn du dich auf mich einläßt, wirst du die Wahrheit erfahren, eine Wahrheit, die ein wenig anders aussieht. Ich weiß vieles über dich und das, was ich erfahren habe, läßt mich glauben, in dir eine Schwester gefunden zu haben. Ich habe dich ausgewählt, weil ich glaube, dass du mir ähnlich bist, und weil ich dich liebe, wie die Tochter, die ich verloren habe. Vielleicht wirst du dich hier in Brandwell Manor verändern. Habe keine Angst davor, du kannst mir vertrauen, denn ich liebe dich. Christina

Jakobs kleiner Koffer

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