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Missverständnisse und Fakten


Der Fressreflex

Dass Pferde alles, was sie in den Mund nehmen, aus Reflex als Futter klassifizieren, bezweifle ich ein wenig. Mehrere unserer Pferde tragen Sachen durch die Gegend, spielen mit Leder oder Stoff, sammeln Gerten und Handschuhe auf oder kauen und zupfen am Zaundraht, wenn dieser aus Versehen mal keinen Strom führt. Die Herde steht das ganze Jahr über im Offenstall zusammen: fünf Pferde auf sechs Hektar Wiese und Spielfläche – mit unbegrenztem Zugang zu Heu und Zweigen.

Dass eines dieser Pferde zum Beispiel einen Strick aufsammelt, komplett durchkaut und wieder ausspuckt, ist meiner Meinung nach kein Versehen. Das Pferd denkt nicht, dass dies etwas Essbares wäre: Es macht das aus Spaß und aus Neugierde. Pferde haben einen fantastisch ausgeprägten Geruchssinn und ein feines Gespür in den Maulhaaren. Sie sind durchaus in der Lage, Nahrung, die gegessen wird (Speichelproduktion), von Spielzeug, das eben nur gründlich untersucht oder herumgetragen wird, zu unterscheiden. Zwei unserer Pferde spielen oft mit Stöcken, die sie aufsammeln und herumschleudern, und manchmal zieht sogar ein Pferd an jedem Ende des Stocks.

Wir haben auch eine alte Boje als Spielzeug auf der Koppel, die plötzlich eines Abends großes Interesse hervorrief, als eines der Pferde sich eine kleine Show für die anderen ausdachte: So sah es auf jeden Fall von Weitem aus. In Wirklichkeit hat es ihm wohl einfach Spaß bereitet.

Woodstock, der 15-jährige Norweger-Araber, trabte auf einmal mit der Boje im Maul in Zirkeln herum, schleuderte sie weg mit einem Kopfnicken, trabte hinterher, um sie wieder aufzusammeln, und fing wieder von vorn an. Die anderen vier Wallache standen alle in einer Gruppe zusammen und sahen zu. Diese Beobachtungen zeigen, dass Pferde ihr Maul auch für andere Dinge benutzen als nur zur Nahrungsaufnahme.

http://youtu.be/lu5NG50p3yo

Der Kontrollverlust

Ein anderer Mythos ist, dass das Pferd schwerer zu kontrollieren sei ohne Gebiss. Das kommt nach meiner Erfahrung nur auf die Grundausbildung und Routine an – von Pferd und Reiter. Ich habe oft das Gegenteil erlebt, da viele Pferde das Gebiss mit unangenehmen oder gar unkontrollierten, stressigen Situationen verbinden und daher instinktiv versuchen wegzulaufen. Entfernt man das Gebiss, kann man sozusagen wieder neu anfangen, positive Erlebnisse mit dem Training, dem Reiter und dem Zügelsignal zu verbinden.

Wenn eine weiche Zäumung nicht funktioniert, gebrauche eine schärfere

Fast alle Listen von gebisslosen Zäumungen basieren interessanterweise auf dieser Einstellung. Im guten Glauben, etwas Weiches und Freundliches anzuschaffen, stutzen anscheinend viele Pferdefreunde nicht über die scheinheiligen Anweisungen der Hersteller, die „für unempfindliche Pferde“ oder „bei Ausbleiben des gewünschten Effekts“ die schärferen Maßnahmen (Knoten, Noppen, Hebel etc.) vorgesehen haben und das auch so empfehlen. Dies sollte genauso viel Empörung auslösen wie die Idee, dass ein Pferd, das der Reiter auf einfache Trense nicht anhalten kann, eine Kandare ins Maul gehängt bekommt. Denn die Einstellung dem Pferd gegenüber ist die gleiche.

Wenn das Pferd auf eine weiche Zäumung nicht reagiert, bedeutet das nicht, dass es den Druck oder die Berührung nicht spürt. Daher ist es nicht nötig, den Druck schärfer, härter, unangenehmer zu machen – außer man meint, Pferde seien mehr motiviert, wenn sie „angeschrien“ werden. Was man ansonsten tun kann, findet sich auf Seite 76 ff..

Damit ist nicht gesagt, dass die Anwendung von Knotenhalftern, Hebelzäumungen und anderem unethisch ist. Denn diese Hilfsmittel können in der richtigen Hand gute Resultate erzielen: Korrekt eingesetzt werden sie keinen Schaden anrichten. Es kommt eben wieder auf das richtige Training an und nicht auf die Ausrüstung.

BESTRAFUNGEN

„Wenn ein Tier von Anfang an korrekt trainiert wurde, gibt es keinen Grund für Bestrafungen im Training. Bestrafungen sind in der Regel ein Merkmal von verwirrenden Trainingsprogrammen. Wenn das Pferd seine Verwirrung ausdrückt durch sogenanntes Konfliktverhalten und eventuell gegen den Druck angeht, machen manche Trainer den großen Fehler, dieses als ungezogenes oder respektloses Verhalten anzusehen, welches Bestrafung erfordert oder sogar verdient.“ (Dr. Andrew McLean, PhD Equine cognition and learning, www.aebc.com.au)

Trainieren ohne Schmerzen

Ein Gebiss tut weh, wenn wir am Zügel zerren. Ein weiches Stallhalfter tut bei gleichem Kraftaufwand sehr wahrscheinlich weniger weh. Das setzt allerdings ein weitaus besser trainiertes Pferd voraus.

Es ist richtig, dass das Gebiss punktuellen Druck auf Nerven legt – das tut ein Halfter allerdings auch. Wir müssen reiten lernen und den Umgang mit dem Pferd immer wieder überdenken – egal ob mit oder ohne Gebiss. Ob eine gebisslose Zäumung mit Hebeln und ungepolstertem Nasenband mehr oder weniger wehtut als ein Gebiss, empfindet jedes Pferd anders und ist jeweils individuell zu beurteilen.

Das Reiten in schädlichen und zu engen Positionen kommt leider auch bei gebisslosem Reiten vor. Manchmal ziehen Pferde sogar den Nasenrücken noch mehr ein, wenn hier Druck ausgeübt wird. Leider habe ich in meiner 20-jährigen Laufbahn als Vollzeitinstrukteurin einige Equipagen gesehen, bei denen sich das Pferd am strammen Zügel mit einem Sidepull, Schnurhalfter oder mechanischen Hackamore weit hinter die Senkrechte verkriecht. Auch heutzutage gibt es Bilder, auf denen Pferde mit verschiedenen gebisslosen Zäumungen und hartem konstanten Zügelzug hinter die Senkrechte gezerrt werden − oft um ein Gefühl der Kontrolle aufrechtzuerhalten. Ein Pferd, das überbogen und zusammengerollt gehen muss, hat Schmerzen im Körper – egal ob mit oder ohne Gebiss.


Zufriedenes Pferd in gesunder Arbeitshaltung mit kolumbianischen Bosal.

Auch Pferde, die ausschließlich am losen Zügel geritten werden, können Schäden davontragen − durch Überbelastung der Vorderbeine, wenn das Pferd nur vorlastig geht, oder des Rückens, wenn das Pferd lange Zeit mit weggedrücktem Rücken und hohem Hals durch die Gegend spaziert. Diese Schäden sind jedoch oft erst später im Verlauf festzustellen und werden dann leider nicht immer mit dem eigenen Reitstil in Verbindung gebracht.

Um physische Schmerzen im Training auszuschließen, ist es sehr wichtig, sich ein umfassendes Wissen anzueignen über die Funktionen des Pferdekörpers, die Biomechanik und die Anatomie. Es genügt nicht, dass man sein Pferd lieb hat – aus Unwissenheit zugefügte Schmerzen tun auch weh.

Reiten ohne Gebiss

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