Читать книгу Franziska von Hohenheim - Die tapfere Frau an der Seite Carl Eugens - Utta Keppler - Страница 7
Seidelbast
ОглавлениеDer Geburtstag Serenissimi fiel, ganz nach seinem Geschmack, in die Karnevalszeit. Um den elften Februar herum jagten sich am Ludwigsburger Hof Tanznächte in hektischer Folge, Tage mit Ausfahrten und üppigen Tafeln. Abends kreiselten leuchtende Boote, von heiterer Flötenmusik begleitet, auf einem künstlichen See, den warme Wasserzuflüsse eisfrei hielten. Zum Abschluß des festlichen Taumels gab der Herzog einen Maskenball. Wie in einem phantastischen Traum wimmelten die Verkleideten durcheinander, Dominos in kostbaren Seiden, Krieger mit hohen Mützen, Schäferinnen in bänderumflatterten Reifröcken, Husaren mit brillantglitzernder Verschnürung.
An einem verschneiten Abend, zwei Tage vor Carl Eugens Geburtstag, sah sich Franziska mitten darin, selbst erstaunt, wie rasch sie sich in das unaufhörliche Getriebe gefunden hatte. Der Tanz machte ihr Vergnügen, sie fühlte sich freier, seit sie vorgestellt worden war und dazugehörte. Die Bewegung tat ihr gut, da sie sonst immer nur still über ihren erbaulichen Büchern saß; lang war es her, seit sie geritten und durch die Wälder gelaufen war oder zur Obstzeit auf den Bäumen gesessen hatte …
Jetzt, geschützt durch die schmale schwarze Maske, ließ sie ihrer Lust freie Bahn: Sie tollte herum, wie es einer Kammerherrin vielleicht nicht anstand; aber Leutrum, selbst eine unglückliche Figur auf dem Parkett, gönnte ihr den Spaß, weil sie sich dabei schöner entfaltete, und beobachtete heimlich, wie er bei den Eingeweihten durch ihre Anmut einige Sympathie gewann.
Beim Menuett schleiften die Kavaliere geneigt und hüftdrehend über den blanken Fußboden, Lachen und Girren flatterte wie eine Wolke über dem Reigen. Wer nicht tanzte, stand schwatzend in einer Fensternische oder am Tisch mit den Getränken, einer komplimentierte wohl auch seine Dame – vorsorglich in ihren Pelz gewickelt – auf den Balkon hinaus. Franziska drehte sich zwischen den anderen; ein Kammerjunker hatte Leutrum um die Ehre gebeten, sie zur Gavotte zu führen.
Ihr türkisches Kostüm mit den rockweiten Hosen war gewiß sehr kühn – sie hatte zuerst abgelehnt, als es der Hofschneider vorschlug; aber zu ihrem Trost milderten die schwarzen Fransen an dem gerafften Überrock den Affront, den Leutrum als „étonnant“ genehmigt hatte. Das Mieder glänzte mattgolden, die Ärmel waren aus grünem Schleierstoff, die Haare unter einem winzigen roten Käppchen hochfrisiert. Franziska schielte atemholend unter der seidenen Larve hervor nach ihrem Mann; Leutrum lehnte am Büfett und trank; er redete eifrig auf einen runden seriösen Domino ein und schaute geradeaus. Sie nickte ihm zu, obwohl er hier nicht gegrüßt werden wollte, aber er blickte an ihr vorbei – ein grämlicher Papagei im gezipfelten Frack.
Da war ihr Tänzer plötzlich wie weggewischt. Sie fühlte sich behutsam umfaßt und vorwärts geschoben. Empört drehte sie sich um: Ein hochgewachsener Mars in goldstrotzender Rüstung hatte den Arm mit dem blutroten Mantel um sie geschlungen. Eine Art Visier mit Augenfugen verdeckte das Gesicht, riesige Straußenfederbüschel wogten auf der gebogenen Helmkrone … Franziska schob vorsichtig die Hand mit dem leuchtenden Mantel von sich weg; hinter den Schlitzen waren die Pupillen nicht zu erkennen, doch unter der goldüberdachten Nase wölbte sich ein selbstherrlicher Mund.
Der Gewaltige trat zurück und sagte halblaut: „Madame, warum tragen Sie keine blauen Schuhe?“ „Blau?“ antwortete sie gekränkt, „weil ich a anständige Frau bin!“
Der Mars lachte so dröhnend und volltönig, daß Franziska erschrocken zurückwich. Er nahm jetzt mit einer Verneigung ihre Hand und führte sie in den kleinen Erfrischungsraum hinter dem Ballsaal. Vor ihnen bildete sich eine freie Bahn, hinter ihnen blieb neugieriges Schweigen zurück. Leutrum schaute dem Paar finster nach. Er strich sich das Kinn nach Art alter Männer, als jemand neben ihm flüsterte: „Hohe Ehre, Reinhard, wahrhaftig: eine Auszeichnung!“
„Oh, schöne Türkin …“, sagte draußen der Kriegsgott und versuchte, Franziskas Maske zu lüften. „Da wäre ich wohl besser als der Savoyer erschienen, als ein ritterlicher Prinz Eugen und Türkenbezwinger, damit ich Sie entführen könnte?“
Franziska lachte; seine mächtige Ausstrahlung machte sie sicherer. Sie verbot sich selber darüber nachzudenken, wer da als Olympier auftrat. Es lockte sie, den Unbekannten unbekannt sein zu lassen und doch mit seinem Geheimnis zu spielen. „Die Türkin läßt sich nicht entführen, Göttlicher“, gab sie ihm zurück, „aber sie tanzt gern und schwätzt gern und wüßt auch gern, mit wem?“
Er lachte wieder, warf den Mantel auf ein Sesselchen und dehnte die Arme. Goldene Schuppenärmel reichten bis fast zu den kräftigen Ellbogen herunter, ein schmiegsamer Panzer spannte sich über der gewölbten Brust; gelbe Löwenhäupter lagen auf den Schultern. „Den Helm gibt Mars nicht preis“, sagte der Maskierte vergnügt, „solange die Odaliske ihr Augenband aufbehält.“
„Dann muß er sich halt mit dem großen Trumm abschleppen“, entschied sie prompt, und gleich darauf setzte sie mitfühlend hinzu: „Ist’s arg schwer?“ „Bloß heiß“, schnaufte der Mars. „Wenn die Türkin erlaubt, könnten wir auf die Terrasse gehen, mein Purpur macht warm.“
Als er ihr den Mantel umlegte, hielt er sie ein wenig fest, doch er ließ sie gleich los, als sie steif stehenblieb. Im Vorbeigehen zog er einen Vorhang beiseite und öffnete eine Tür. Draußen lag kein Schnee, dünner Regen fiel in den milden Februarabend. Unter dem Vordach standen die beiden Masken und atmeten auf. Der Mantel wärmte angenehm; Mars wartete, die Arme gekreuzt, auf ein zutrauliches Gespräch.
Franziska trat an die Brüstung und beugte sich vor.
„Des tut net gut – im Feber so lau“, meinte sie tadelnd, „nachher verfriert alles!“
„Eine schwäbische Türkin!“ stellte Mars resigniert fest, da er eine persönlichere Äußerung erwartet hatte.
„Sie sprechet auch net griechisch oder römisch!“ gab sie zurück, „aber i weiß scho, es sind jetzt allerlei Leut’ beim Herzog, Italiener und Preuße und des französische Ballett und die welsche Sänger und …“
„So?“ brummte Mars und rückte ein wenig näher, „was sie nicht sagt – la belle turque!“
„Vielleicht sind Sie doch ein Franzos’?“ fragte sie tastend.
„Vielleicht …“, erwog auch der Kriegsgott in seltsamem Ton.
Da überkam sie ein ungewohnter Mut. Ich brauch’s ja nicht zu wissen und ich weiß es auch nicht, überlegte sie, und er soll mich jedenfalls anhören. „Das wär schon recht“, verkündete sie in ihrem strengsten Hochdeutsch, „wenn auch’s Theater und’s Ballett viel Geld kostet, aber daß der Durchlauchtigste die vielen Tänzerinnen haben muß und die maitresse en titre, die …“
„Was sagst du da, Kind?“ Der Goldhelm klirrte leise an eine Säule, weil der Held sich in den Schatten zurückbog.
„Die?“ rief Franziska empört und bemerkte das unwillkürliche „Du“ nicht, „die ist ein Öffentlich erklärter Schatz vom Herzog!“
Der Erhabene lachte ein wenig flackernd.
„Ach? Sagt man so im Schwäbischen?“
„Mer sagt noch viel mehr!“ fuhr sie auf, „von seine Schulde an d’ Kirchekass’, und von dene Jagde im Schönbuch und am Bäresee, wenn se an tausend Tierle abschießet, und die Baure hent nix zum Esse wegen der Wildmast! Und von dene ei’gsperrte Leut’, vom Rieger …“
„Halt!“ schnitt ihr Mars das Wort ab, „jetzt ist’s genug! Woher wissen Sie denn das alles?“
„Bloß von de Leut’!“ flüsterte sie schüchterner; wahrscheinlich war sie doch zu weit gegangen.
„So – die Leut’!“ brummelte der Maskierte, „die Leut’!“
In diesem Augenblick trat ein Kammermohr durch die Balkontür heraus, von Kopf bis Fuß feuerrot gekleidet. Er näherte sich mit Verbeugungen, aber Mars winkte ab und neigte ihm den Kopf entgegen. Der schwarze Mann flüsterte ihm ins Ohr.
„Ah!“ seufzte der Behelmte erfreut, „da kann die Frau Türkin gleich selber sehen …“
Der Diener entfernte sich. Mars schob die Türflügel weiter auf, Franziska drängte neugierig nach. Durch den Spalt schien das Licht aus dem Saal. Mitten im Blickfeld der beiden erhob sich eine helle Gestalt, eine Wolke aus Tüll, das stark geschminkte Gesicht zu ihnen gekehrt.
„Concetta!“ murmelte Mars beeindruckt.
Die Primaballerina trippelte jetzt auf den starren Fußspitzen, die Geigen zirpten dazu. Aus kreisrunden braunen Augen warf sie einen schmachtenden Blick herüber – sie hatte wohl den goldenen Schimmer erkannt.
„Die Göttliche!“ hauchte Mars mit boshaft betonter Begeisterung. „Wie finden Sie sie, madame la turque?“
„’s isch a Kuh!“ antwortete die Türkin und ließ ihn stehen.
Ernüchtert hob Mars seinen Purpur auf, der ein wenig staubig geworden war.
Im Mai 1769 hatte Elisabeth Dorothea von Württemberg die Damen aus dem Hofstaat Carl Eugens in Wildbad zu einer Teegesellschaft gebeten; sie war die Frau seines Bruders Friedrich Eugen, eine königliche Prinzessin von Brandenburg-Schwedt, und wurde allgemein „die Hoheit“ genannt. Schon vor dem Herzog war sie mit ihrem Gatten in Wildbad zur Kur eingetroffen, freudigst begrüßt, denn das große Gefolge und die illustre Frau machten das Bad bekannt und beliebt.
Auch die Leutrums waren eingeladen worden: Franziska hatte unter den Hoffräulein der „Hoheit“ eine Freundin, die Baronesse Sophie von Grollmann, und Leutrum gehörte ohnehin als Reisemarschall zur Suite des Herzogs.
Franziska machte sich so schmal wie möglich: Carl Eugen hatte seinen Besuch angekündigt. Jetzt, dachte sie beklommen, wird es sich entscheiden, wer Mars gewesen ist. Und er würde sie – wenn er es war – gewiß erkennen, an der Stimme, an irgendeiner Bewegung. Vielleicht, überlegte sie, kommt er nur deshalb so unverhofft zu diesem Damentee, um sich zu vergewissern, ob die freche Türkin … Und das alles konnte Leutrum seine Stellung kosten und sie die gesellschaftliche Achtung.
Der Herzog trat ein, ehrfurchtsvoll gemeldet, in strahlender Laune, mit erhobenem Kopf: Jupiter, nein, Mars in Person! Zwar deckte kein Goldsteg die gebogene kleine Nase, kein geschlitztes Visier das helle feurige Blau der Augen, und der Mund war freundlicher als damals, lässig, gelassen.
Franziska zitterte, als „die Hoheit“ sie vorstellte und dabei bemerkte, sie sei ja vom Defilee im Frühjahr 1767 schon bekannt. Carl Eugen nickte gnädig. Nichts an seinem geröteten Gesicht verriet, ob er noch an „la petite turque“ dachte.
Franziska atmete auf; er wollte sich wohl nicht erinnern, und darum brauchte sie es auch nicht zu tun. Und während Dorothea, mit ihrem Schwager im Saal auf- und abgehend, die Erfolge der Heilkur in Wildbad besprach, saß Frau von Leutrum, bald ihren Mann, bald den Herzog anvisierend, steif auf ihrem Stühlchen und wagte keine natürliche Bewegung, kein lautes Wort, nichts als ein scheues Gehauche zu ihrer Tischnachbarin hinüber.
Dann schlug der Herzog, der nur für einen Tag hergefahren war, eine „kleine Promenade“ vor, durch die Anlagen an der Enz, unter den hellgrünen Bäumen am Wasser entlang, das noch immer die Fülle des Frühjahrs habe; dort sei auch die Luft besonders würzig.
Franziska folgte, noch immer starr vor Angst, am Arm ihres Gatten dem bunten Zug würdig schreitender Herren in hellen Strümpfen, seidenrauschender Damen mit gepolsterten Röcken, aber sie bemerkte kaum das freundliche Farbenspiel der grünen, pfaublauen, rosigen Fräcke und Kleider. Leutrum beachtete ihr Zögern nicht weiter, er war zu beschäftigt damit, dem Herzog aufzuwarten.
Carl Eugen spazierte mit Dorothea und ihrer schönen Tochter voraus. Am Weg standen mützenschwenkend die Wildbader, bereit, jede Laune und jeden Luxus gutzuheißen, wenn sie nur Aufträge versprachen.
Carl Eugen erklärte den Damen, wie sehr er bedauere, das Theater auf diese kurze Reise nicht mitgebracht zu haben – es begleite ihn sonst oft, und er habe ja an vielen Orten des Landes kleine Bühnen errichten lassen, man kenne doch die von Teinach und Grafeneck; und Ludwigsburg stehe dem Stuttgarter Lusthaus gewiß nicht nach mit seinen prächtigen Prospekten und Kulissen.
Franziska, die hinter dem Herzog ging, hörte mit halbem Ohr hin. Das wilde Wasser rauschte, der Nachmittag wurde kühler, Schatten fingerten langsam über den geebneten Weg. Nur die bewaldeten Gipfel lagen noch im Licht. Endlich befahl Carl Eugen, der an ausgedehnte Spaziergänge gewöhnt war, einem Bedienten, für „une place de repos“ unter den Buchen zu sorgen, „behelfsmäßig, ländlich – die Damen mögen verzeihen“, sagte er.
Natürlich hatte man einen derartigen Wunsch vorausgesehen und einen Wagen mit Stühlen beladen, der den Spazierenden langsam gefolgt war.
Die Hofgesellschaft wartete stehend, bis der Fürst und seine ranghöhere Schwägerin sich gesetzt hatten. Dorothea hob den Fächer und lächelte. Die übrigen verteilten sich in einem weiten Kreis. Viele Augen schauten ins flimmernde Laubdach, durch das die schrägfallenden Sonnenstrahlen blasse zukkende Streifen schossen. Franziska klammerte sich auf einem wackeligen Sitz fest, den Leutrum ihr untergeschoben hatte: sie wäre am liebsten irgendwo in den Schatten getaucht, der schon bläulich um die Baumstämme spielte. Leutrum sah sie mißbilligend an: Ihre Zerfahrenheit fiel auf. Sie hatte sich zusammenzunehmen – Serenissimus waren allerhöchst zugegen. Als Franziska jedoch sein verärgertes Gehabe nicht bemerkte, stand er lautlos auf und trat hinter sie.
„Du zeigst eine ennuierte Miene, daß es ein Affront ist“, fauchte er leise. „Du machst ein Gesicht wie ein verwettertes Bauernweib! Was sollen die allerhöchsten Herrschaften denken?“ Er hatte unbewußt lauter geredet als nötig; Dorothea hob den schönen Kopf und warf Carl Eugen einen Blick zu; er folgte ihren Augen und erfaßte das Bild des krüppelhaften Mannes, der sich wie ein erboster Erzieher über seine Frau beugte; sie sah noch verstörter aus als vorher, hilflos preisgegeben – nichts erinnerte mehr an die ausgelassene Türkin, die sich angemaßt hatte, seine Göttlichkeit zu tadeln. Carl vermutete – was freilich Dorothea nicht ahnen konnte – einen tieferen Grund für die Strafpredigt als Franziskas Zerstreutheit; hatte der verbogene Mensch hinter dem Baum vielleicht etwas von seinem Karnevalsgespräch mit der jungen Frau erfahren? Hatte sie ihm in ihrer Bravheit gar davon berichtet?
Franziska schaute bedrückt zur Seite; neben ihr am Waldrand trug der Seidelbast noch ein paar verspätete Blüten; ihr gebrochenes Lilarosa sah krank und müde aus. Ein Hauch des süßlichen Duftes streifte sie, sie beugte sich vor und holte den Zweig heran.
Carl Eugen, der sie beobachtet hatte, sagte lächelnd: „Seidelbast! Daphne mezereum! Sie kennen doch die Metamorphosen des Ovid, Madame? Die schöne Daphne, von Apoll verfolgt – oder war es Mars? –, verwandelt sich in einen Strauch, um sich ihm zu entziehen. Ach ja, diese antiken Göttergeschichten …“
Inzwischen hatte Dorothea einen Ausflug in den Schwarzwald arrangiert, und wieder die Leutrums dazu eingeladen. Sophie von Grollmann und das Fräulein von Schilling, eine Freundin von Dorotheas Tochter, waren mit einer Art von schwärmerischem Eifer um Franziska bemüht. Dorothea hatte Mitleid mit ihr, deshalb zog sie die junge Frau näher an sich heran.
Dorotheas Karosse ratterte leicht über die Waldwege, die Damen schwatzten, lachten und hielten die hellen Schirme gegen die Sonne.
Als man eine Weile unterwegs war, fing eines der Pferde an zu lahmen. So werde man nicht weiterkommen, jammerte der Kutscher, mit sechs Personen sei das Gefährt überlastet bei dem geminderten Gespann. Man könnte ja an einem Dorfwirtshaus halten und drei von den Herrschaften dort absetzen, auch ein frisches Pferd ausleihen und das kranke einstellen.
Franziska erbot sich sofort, die Chaise zu erleichtern. Die Damen Schilling und Grollman könnten vielleicht bei ihr bleiben. Leutrum mußte einer dienstlichen Verpflichtung halber so rasch als möglich zurückfahren und Dorothea bat ihn, sie und ihre Tochter zu begleiten. Als sie aufbrachen, fing es an zu regnen.
Die Zurückgelassenen traten ins Schankzimmer. Der Wirt wischte Stühle ab und schob Sessel heran. Sie setzten sich befangen. Die dumpfe Luft roch nach Bier und Rauch und legte sich drückend über den engen Raum. Der Wirt fragte beflissen nach besonderen Wünschen; die wenigen Gäste aus dem Nachbardorf schickte er weg.
Den dreien wurde das Warten lang; sie versuchten den Schwarzwälder Kirschenschnaps und fanden ihn pfefferscharf. Draußen trommelte der Regen jetzt mit Ausdauer, und es war nicht abzusehen, wann die Kutsche sie abholen würde. Sophie von Grollmann schlug ein Ratespiel vor, aber Franziska mochte nicht mittun, sie war voller Unruhe. Schließlich sprang sie auf und lief zur Tür. „Das Wetter wird besser“, rief sie, „wir sollten dem Wagen entgegengehen.“ Die anderen widersprachen, auch der Wirt beschwor die Damen zu bleiben.
„Dann lauf ich allein ein Stück, wenn’s zu wüst ist auf der Straß’, kehr’ ich eben wieder um“, erklärte sie und machte die Tür weit auf. Draußen tröpfelte es nur noch schwach, sonnenblinkende Schwaden sprühten von den Bäumen, die der laue Wind schaukelte. Ihre Sohlen waren bald durchweicht, aber sie trippelte beharrlich weiter.
Da überholte sie ein Pferd, heftig angetrieben, sichtlich schon lange unterwegs, triefend. Im Sattel hing ein älterer Herr mit einer großen Tasche. Franziska erkannte den Leibarzt des Herzogs, den Hofmedikus und Dozenten der Pathologie, Jäger. Vielleicht war jemand vom Hof unversehens krank geworden, und man hatte ihn durch einen Kurier holen lassen? Vielleicht galt dieser tolle Ritt dem Herzog selber? Sie kannte den Professor aus Ludwigsburg. Er hatte manchmal an Gesellschaften bei Hofe teilgenommen, wenn auch sichtlich wortkarg und verschlossen. Jetzt raste er wie ein Knochenmann und Unheilsbote auf Wildbad zu und war doch gewiß eher ein Helfer und Heiler. Franziska verstand plötzlich mit unbehaglichem Herzklopfen, daß sie Angst um den Herzog hatte.
Jetzt polterte der Wagen heran, der die drei Wartenden abholen sollte; man hatte noch ein kräftiges junges Pferd vorgespannt. Ihre Hoheit mit Begleitung seien inzwischen längst in Wildbad angelangt, berichtete der Fuhrmann, es müsse dort etwas Besonderes im Gang sein, der Hof sei in höchster Aufregung.
Franziska ließ den Kutscher vollends zur Schenke weiterfahren und wartete am Wald, bis er mit den Damen zurückkäme. Die Bäume tropften noch, es duftete nach Feuchtigkeit und Grün, über ihr probierte ein Vogel seinen Triller. Sie schaute in die Richtung des Bades.
Man fuhr zurück. Im Wildbader Gasthof ließ sie sich umkleiden; dabei fragte sie die Kammerfrau aus: „Sag Sie, Kirnin, was ist denn für ein Aufruhr hier? Der Professor Jäger ist an mir vorbeigeritten, als ging’s um Leben und Tod, und der Kutscher schwatzte auch so kurios – ist etwa jemand krank?“ „Ich weiß nichts Rechts, hab’s bloß vom Leibdiener“, flüsterte die Frau, „der Doktor ist scheint’s einer schrecklichen Botschaft halber gekommen und hat gesagt, er dankt dem Herrgott, daß die Gefahr gebannt wär’.“
Franziska ließ sich bei der Hoheit melden. Dorothea empfing sie mit gelassener Ruhe, ein leicht amüsiertes Lächeln um die Augen. „Was regt denn meine liebe Baronin so auf? Man sieht’s ihr doch an!“
Franziska berichtete; dann fragte sie vorsichtig, ob denn dem Durchlauchtigsten etwas fehle? „Nein“, Dorothea schüttelte den Kopf.
„Der Herzog hat, obwohl er erst um die vierzig ist, rheumatische Beschwerden“, fuhr sie fort, „und braucht deshalb das Wildbad. Daneben geben ihm die Ärzte noch Mittel, die seine Kur unterstützen sollen; man rührt Mixturen in der Hofapotheke an und schickt sie ihm nach. Der Professor Jäger hatte sein Rezept ordnungsgemäß geschrieben und selber abgeliefert. Den Apotheker kannte man als zuverlässig. Aber jemand muß sich daran zu schaffen gemacht haben, denn da war hernach ein Zusatz eingetragen, der die Mixtur zum tödlichen Gift gemacht hätte.“
Franziska sammelte sich mühsam. „Entsetzlich zu denken, daß Seine Durchlaucht – daß er …“
„Ja, nicht wahr?“ meinte die Hoheit mit leichtem Befremden, „der Landesvater!“
„Und was sagt der hohe Herr?“
„Ach, nicht viel. So was käme vor, meinte er, man müßte unter den bestraften Deserteuren forschen, ob da einer solche Kenntnis hätte, oder unter den entlassenen Gefangenen. Man hat auch den Schubart genannt, den wilden Dicher. Der Herzog hat ihn doch erst in Dienst genommen …“
„Den? Der tät doch so was nie!“
„Kennen Sie ihn?“
Franziska erzählte von ihrer kurzen Begegnung in Adelmannsfelden.
„Ein seltsamer Mensch, der Schubart“, spann die Hoheit den Faden weiter, „und ein Genie, da sag einer, was er mag.“
„Was dichtet er denn?“ fragte Franziska und dachte an die einzige nahe Berührung mit der Poesie, die ihr Webers Verse verschafft hatten: „Laß mich dir dienen, laß mich mit dir weinen!“ flüsterte sie. „Was sagten Sie eben, Baronin?“
„Ich versuchte mich an ein Poem zu erinnern aus meiner Mädchenzeit … was schreibt also der Schubart?“
Dorothea lächelte überlegend. „Ich habe ihn zuvörderst als Pianisten kennengelernt – er ist ja seit dem vorigen Monat Musikdirektor in Ludwigsburg, zuerst noch im klerikalen Rocke, Klopstock und Gellert lesend.“ Die Hoheit schaute prüfend in Franziskas Gesicht, ob sie wohl solche geistlichen Mentoren kenne. „Indessen ist er aber ein ganz glatter Hofmann geworden – glatt? Nun ja, er schwatzt viel und derb – aber er ist ein superber Könner auf dem Klavichord.“
„Und“, forschte Franziska verzagt, „warum könnte der den Herzog hassen? Wenn er ein Künstler ist, sollte er große Gedanken verstehen!“ Sie schüttelte plötzlich den Kopf über sich selber. Große Gedanken? Wie komme ich darauf? Mars hatte eigentlich nichts Ungewöhnliches geäußert.
Franziska blickte sich um, als lauere Leutrums undurchdringliches Gesicht hinter ihr. Auch Dorothea mochte an ihn gedacht haben. Ob Carl ihn verdächtigte?
Nicht lange nach diesem Gespräch ließ Carl Eugen den Baron rufen. „Ich hätte Lust, die Wälder um Kirchheim zu befahren, muß prüfen, ob die Jagd gut wird. Sie sollten mich mit Ihrer Frau begleiten.“ Leutrum machte die übliche Reverenz, nicht einmal seine Wangen hatten sich verfärbt.
Der Herzog sah flüchtig auf, sein Blick wurde schärfer – er wunderte sich über soviel Unbeteiligtsein. Unbewußt war ihm diese schwache Reaktion unheimlich. „Ich werde Sie dekorieren, Leutrum“, sagte er rasch, „hab’s schon länger vorgesehen. Und Sie schicken mir Ihre Frau mit auf die Jagd, ja? Sie selber sind ja doch kein passionierter Nimrod.“ Leutrum verbeugte sich wieder, diesmal mit weißem Gesicht.
Die Hofjagden begannen. Man erkannte Franziska neben Carl Eugen in Urach, Winnental und Schorndorf. Scheu und wie gezwungen saß sie da, mehr verängstigt als vergnügt. Sie empfand die vielsagende Aufmerksamkeit des Hofstaates als lauter feine Nadelstiche.
Carl war freundlich, besorgt, ritterlich. Wenn sie heimkam, redete Leutrum kaum mit ihr, drängte nicht, machte ihr keine Vorhaltungen. Sein Hofamt ist ihm wichtig, dachte sie. In dieser Spannung hing Franziska wie ein Falter in den Spinnweben, hilflos und gequält. Endlich wurde ihr das alles unerträglich, die winterlichen Bälle, die Schlittenfahrten. Sie weigerte sich, auszufahren, schützte Übelkeit vor oder Kopfweh.
Der Winter ging hin. Im Sommer besuchte Franziska ihre Familie auf dem Gut, half bei der Ernte, in den Ställen, auf den Wiesen, fühlte sich frei und gelöst, losgelassen. Mit einer dumpfen Sorge sah sie, wie die Gärten leuchteten, roch den bitteren Duft, der aus dem Laub aufstieg; gelbe Birnen und rote runde Äpfel fielen mit vollem Laut ins Gras, die Morgennebel lagen wie Gespinst ums Haus: Im Oktober begannen wieder die Hofjagden. Franziska fürchtete sie und wünschte sie doch herbei. Als Leutrum sie dringend zurückrief, folgte sie dem Befehl widerstrebend.