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3. Kapitel
ОглавлениеAlexander von Rußland
Im Jahr 1815 sei die »Heilige Allianz« in Weinsberg bei Heilbronn gegründet worden, sagte der heilkundige, halbblinde Arzt und Seher Justinus Kerner einmal zu seinem Sohn Theobald, und der schrieb es auf.
Weinsberg ist ein Hügel mit einer halbverfallenen Burg mitten in den fruchtbaren Rebenhügeln im milden Heilbronner Land, wo nicht weit davon auch Hölderlin geboren ist, in Lauffen am Neckar.
Es gibt da alte Sagen und Geschichten, von denen man den Namen der Burg und des Fleckens abgeleitet hat, und die von der Weibertreu ist die schönste davon.
Im zwölften Jahrhundert, sagt sie, ist ein König Cunrad gegen den Grafen von Weinsberg angetreten, hat seine Burg belagert und nach viel Steineschleudern, Pechschütten und Leiteransetzen auch glücklich eingenommen. Da haben, heißt es weiter, die Weiber und Kinder geheult und gebeten, ihnen freien Abzug zu gewähren, da sie so sehr hilflos und auch stark ausgehungert und abgemagert wären.
Der König Cunrad habe dann den Frauen mit Kind und Kegel Abzug gewährt und um ihrer Armut willen zugesagt, daß sie das Wertvollste, das sie eben tragen könnten, aus dem Burgtor schleppten.
Da sei es eine Weile still gewesen, man habe aber doch allerlei Geraune, auch Jammern und Schimpfen undeutlich aus den Mauertoren gehört, und endlich sei der König mit seinem Streitroß nah an die Pforte geritten, um zu sehen, was denn die Weiber wohl so daherschleiften. Da kam die erste, ein junges hübsches Weib und nicht allzu geschwächt vom langen Hunger, und trug auf dem Rücken, hangend und angeklammert mit kräftigen Beinen, einen Mann, einen wildhaarigen Gesellen mit rußschwarzem Gesicht, der lachte den König an.
Gleich dahinter die zweite, nicht mehr jung, mager, mit einem rissigen Rock, und darüber, keuchend, als trage er selber schwer, festgebunden den Mann, der zum Glück ein Schneider und leibarmer Gestalt war.
Danach kamen mehr, alte und junge, resche und dürre, und alle, jede einzelne, schleppte und zerrte ein Mannsbild mit sich, und wo die Weiber vor Atemnot und Anstrengung nicht eben lachten, grinsten dafür die Kerle umso unverschämter, bis die Reiter um den König ihre Gäule wendeten und zum König hinsprengten: »Königlicher Herr, Gottgesalbter …« und dergleichen schrien sie empört, »da schleifen die Weiber ihre Ehemänner oder gar noch die nicht ehelichen Burschen den Berg hinunter, meinend, die seien ihnen am wertvollsten.«
Der König sah sich den langen Zug an und lachte, unbegreiflicherweise.
»Frag einer die Weiber, ob sie sich davon weniger Mannsprügel versprächen zum Dank für ihre Schinderei!«
Die Frauen zeterten, und es kam heraus, daß die Mannsleute sie dazu vermocht hatten – nicht alle taten es, um die Männer zu behalten und behüten, die meisten aus Angst vor ihnen und ihren Prügeln, die freilich ja nicht arg ausgefallen wären, hätten die Weiber sie dem Feind überlassen … aber so schnell dachten die nicht …
Ob’s denn also den Frauen in späterer Zeit nicht doch leidgeworden, daß sie die Eheherren gerettet und sich mitunter einen Bruch an ihnen gehoben, weiß keiner. Dem König und seinem Ansehen tat es gut, zu sagen: »Ein Königswort bricht man nicht!« Das tönte edel.
So weit ging die Sage, die Justinus Kerner, da er ja am Weinsberg sein Anwesen hatte, aufgezeichnet hat; ihm selber ging es wohlig neben seiner selbstlosen, gutherzigen, grundgescheiten Friederike, die ihn »ertrug«, und das sei, schrieb er auf, mehr als das Tragen allein.
Dort, nahe Weinsberg, unter den Rebhügeln, so erzählte also Justinus Kerner, logierte im Jahr 1815 der Zar Alexander, den man einen wunderschönen Mann nannte, da er ein weiches hübsches, fast weibliches Gesicht hatte, blonde Löckchen und eine gute Statur. Jedenfalls hatte er nichts von seinem seltsamen Vater, nicht einmal dessen verbeulte Stumpfnase.
Seine Mutter war die Schwester des dicken Friedrich, der Württembergs erster König war und sein Land dank einem geschickten Frontwechsel verdoppelt hatte.
Alexander litt unter der schlimmen Lage seines Landes, unter dem Mord an seinem Vater, unter der Ungewißheit seiner Abstammung. Er war fromm auf eine typisch russische Art, stark fühlend, mystisch gestimmt, den Zeichen und Symbolen, Wundern und Geschichten aufgeschlossen, die seiner Logik und sezierend-nüchternen Betrachtung zuwiderliefen; und beides warf ihn hin und her.
Er hatte viel gelesen, hatte mit seinem Jugendlehrer La Harpe die Klassiker, oder was der so nannte, studiert, kannte deutsche und russische Literaten und Philosophen, aber eben hier, in Schwaben, war ihm der Dichter Hölderlin nahegekommen, da er durch Lauffen im Wagen gereist war und auf der Insel im Strom eine Weile gestanden hatte.
Er ließ sich, so eilig er war, einen Band von Hölderlins Versen kommen, den ihm der Hausherr in Heilbronn vom Schulmeister besorgte, nicht ohne zu vermerken, daß selbiger Dichter in einer Art »holden Wahnsinns«, wie der Schulmann es nannte, in Tübingen vegetiere und manches hinterlassen habe, was verwirren könnte; trotzdem las Alexander (dem das Deutsche auch in seinen Nuancen vertraut war) die seherischen Sätze, empfand, von seiner schwäbischen Mutter geschult, den Klang, der mehr eingab als logischen Sinn und doch verständlich blieb für den, der sich ihm offen hielt.
In einer Nacht, als er in seinem Quartier nicht schlafen konnte, nahm er so ein Bändchen vom Tisch unter der Lampe und las, und stieß erschrocken auf den Satz: „ … das meiste aber bewirkt die Geburt!“ »Das ist für mich, oh, das ist meins!« murmelte der Zar, und diesmal sprach er deutsch, wie er manchmal, im tieferen Nachdenken, deutsch philosophierte, russisch betete, französische Liebesbriefe schrieb.
Er las das und empfand, daß es Fügung sein müsse, gerade ihm zugedacht, daß er in dem von Rauchschen Hause am Heilbronner Marktplatz wohnte, um hier zu finden, was ihn doch quälte.
»Die Geburt …, weiß einer, woher er kommt, und ist doch für keinen so wichtig und entscheidend wie für einen Herrscher? Und kaum einem so unklar wie mir.« Der Vater, grübelte er, von dem ihm auch die mächtige Großmutter Katharina nie gesagt hatte, daß der vom Zaren Peter dem Dritten stamme, und keiner, ob vom Höfling Saltykow oder sonst einem der Großen am Hof! Nur von der Mutter kam königliches Blut, aber auch das war ja bloß ein neuerworbenes Königtum, das ihrem kurfürstlichen Bruder verliehen vom Eroberer Napoleon, seinem, Alexanders Feind, und von jenem erkauft durch List und Schacher mit der Preisgabe der Tochter; er wußte genug vom Heiratshandel zwischen dem Württemberger und Napoleons windigem Bruder Jérôme.
»Aber die Mutter ist edel, ein Adel des Wesens, der Haltung – und aus dem alten herrschgewohnten Haus …«, sagte er sich, »und mir bleibt die Entscheidung unter ihren Augen, unter Rußlands erwartungsvollen Augen, unter Gottes Augen – Entscheidung über das heilige Moskau, über das Volk, für das ich Verantwortung trage …« Er kniete vor dem Bett auf den Boden, warf den Kopf in die Hände und spürte, daß er weinte. »Zuviel für einen Menschen, zuviel!«
Zugleich beobachtete er sich selber und wußte, daß ihn seine Mutter und mehr noch die Großmutter, die starke Katharina, verachtet hätte und daß ihn auch der Hausherr so nicht hätte sehen dürfen.
Es war der Kammerkosak, der im Vorzimmer gesessen, der den Kaiser aufstörte. Man habe unter ihm, im großen Saal, wo die Gendarmen noch immer wachten, um den hohen Gast zu beschützen, ein seltsames Wimmern gehört und gefürchtet, der Zar fühle sich nicht wohl, sagte der Adjudant, der hinter dem Leibdiener hereinsah. Alexander sprang auf.
»Ich bin vollkommen gesund!« rief er laut.
»Geh und schlafe!«
Indem kam jemand die Treppe herauf. Der Kaiser, ärgerlich im Gedanken, daß man ihm seine Weichheit anmerken könnte, schlug die Tür hinter dem Kosaken zu und schloß ab, als schon zweifach trappelnde Schritte laut waren: Einer der Leibwächter und ein anderer, ein Hausdiener, die dann beide klopften, und – da nicht gleich geöffnet wurde – abwechselnd weiterpochten, leise und lauter. Alexander fragte unmutig, wer da sei. Als er’s gehört hatte, öffnete er und machte, mißtrauisch geworden, ein paar Schritte zurück ins Zimmer. Der Hausdiener, hinter dem auch noch der Hausherr stand, schob den Kosaken beiseite und meldete, eine sonderbare Dame wünsche den Herrscher aller Reußen zu sprechen, sie handle im Auftrag Gottes und lasse sich nicht abweisen … Sie komme vom Rappenhof, eine halbe Stunde von Weinsberg entfernt, und sie bäte dringend um Gehör … Der Herr Adjudant versuche sie aufzuhalten.
Alexander spürte einen Anruf, den er erwartet hatte: Das mußte der Gottesbote sein, der Ratschluß, den er erhoffte. Aber zugleich empfand er das alte Mißtrauen, die Angst, in eine Falle zu geraten. Er lasse die Dame bitten, doch nicht ohne Zeugen, sagte er und verlangte ihren Namen. Es sei eine Frau von Krüdener aus dem Baltikum, hieß es.
Und noch ehe Alexander dem Kammerkosaken befehlen konnte, daß er ihm die verwühlten Haare richte, wallte eine dunkelbraune Tüllwoge auf ihn zu, ein schwarzer Schleier wurde zurückgeschlagen, und ein blasses, hageres Gesicht mit umschatteten Augen kam ihm bedrängend nah.
»O Heiliger Rußlands, Retter der Vaterländer, Begnadeter des Höchsten!« hauchte die Frau von Krüdener emphatisch und sank – nicht ohne den Faltenrock anmutig auszubreiten – auf den bettnächsten Sessel.
Als erwünschter Zeuge hätte der Adjudant antreten sollen, aber der argwöhnte in der Dame, trotz ihrer Reife, eine der vielen Liaisons seines Herrn und bat um Dispens.
Dem stimmte die Dame mit schwingender Stimme zu. Sie erinnerte den Zaren an ihre alte Bekanntschaft, die ihm allerdings nicht gegenwärtig war, und beschwor ihren längst von ihr getrennten Gemahl herauf, der als Gesandter Rußlands in Paris und Neapel gewesen war, zählte ihre Kinder und nicht zuletzt ihre zahlreichen Bücher auf und bekannte sich endlich zu ihrer Sendung, deren unausweichlicher Befehl dieser Besuch gewesen sei.
Alexander hörte zuerst nur zu, dann, als die Besucherin doch fragte, ob sie seine Pläne gestört oder ihn aus dem Schlummer gerissen habe, ließ er sich, den Pelzrock öffnend, ihr gegenüber nieder und sagte leise, wie es seine zögernde Art war:
»Sie haben mein Gebet unterbrochen, das mir Kraft von oben geben sollte. Ich habe um einen Rat gefleht …« »O Fügung! Fügung! Dem Himmel sei Dank!« keuchte Frau von Krüdener und strahlte auf. Eben das sei ihr befohlen in ihrer letzten Vision …
Sie könne und dürfe nicht so geradewegs und obenhin beraten und führen, aber anklopfen und mit einer sanften Leuchte das Terrain sondieren, sagte sie bedeutsam, und sie sehe, wie bedrückt die kaiserliche Majestät im Augenblick sei, und fühle, daß solche Bedrückung nicht nur aus der Gegenwart komme …
Auf diese geschickte Anspielung reagierte der Zar mit erschrockenem Kopfschütteln, und Frau von Krüdener wußte sofort, daß sie das Richtige getroffen, »ihn an seiner Achillesferse berührt« hatte, wie sie das bei sich selber nannte.
Denn sie wußte aus ihrer Moskauer Zeit am Zarenhof – man hatte ihr, was sie nicht mitansah, oft genug erzählt –, wie allein das Kind Alexander gewesen, wie es die »alte Zarin«, Katharina, mit einer nahezu rasenden Begeisterung an- und eingenommen und seiner Mutter, der württembergischen Sophie, entfremdet hatte.
Sie wußte von den Eskapaden und Umschwüngen des Vaters, des Zaren Paul, der sich vom Haß seiner gewaltigen Mutter verfolgt fühlte; von seiner Häßlichkeit, die sein Gesicht zu einer verzerrten Maske entstellte, von seiner panischen Angst vor Feinden und Attentätern, von seiner kindischen Preußenbegeisterung und Katharinas Ärger über seinen albernen und oft grausamen Soldatendrill.
Die Dame schaute Alexander an: Auch er hatte wenig von seinem Vater, zu wenig, mußte sie denken und verbot sich den Verdacht gegen die vornehme Sophie. Sie fragte tastend nach seiner Großmutter, die ihr als »leuchtendes Herrscherbild« vor Augen sei.
Alexander war nicht nach Schönfärberei zumute. »Sie kam als kleines mageres Mädchen mit ihrer Mutter Johanna, der Fürstin Anhalt, nach Moskau«, sagte er, als spreche er eine Schullektion vor sich hin, und unterbrach sich gleich:
»Aber das wissen Sie ja alles … auch was dann war – der Zar« (er sagte nicht »mein Großvater«) »der Zar hat sie nicht angerührt, Sie wissen das auch, man wollte den Thronfolger von ihr, man zwang den Zaren nach Paris zu einem jüdischen Arzt, der verschwiegen war – den hat man dann erwürgen lassen, er schwamm in der Seine.« Er stockte und fing an zu zittern. Schweigend ließ sie ihn stammeln und stoßend schluchzen und schwieg beobachtend, bis er sich noch mehr verlor. Dann sagte sie sachlich: »Man meint auch, es habe ihm geholfen, dem Zaren.«
»Danach wurde der Vater geboren«, Alexander sagte das fragend und sah die Krüdener dabei an. Die nickte, obwohl sie genau wußte, was er jetzt fürchtete: daß sie den Grafen Saltykow nenne, aus ältestem russischen Adel, oder einen anderen Liebhaber, den die Großmutter gehabt und dem sein Vater das Leben verdanke. »Aber der Sohn glich doch dem Zaren, Peter dem Dritten!« »Sicher!« bestätigte die Baronin, »und er war Ihr Vater, Majestät.«
Es war eine Zeitlang still, und der Adjudant, dem das nicht geheuer war, steckte lautlos den Kopf durch den Türspalt, den er vorsichtshalber offen gelassen hatte. Er sah, daß der Zar in seinem Morgenmantel – der Zobel schimmerte goldfiedrig auf dem Boden – vor der Baronin in die Knie fiel und heiser herausstieß: »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen dafür! Ich glaube Ihnen!«
Der Adjudant sah auch, daß die Krüdener den Kopf senkte und im gleichen Augenblick etwas wie ein Triumphlächeln um ihren Mund erschien, ehe ihr Gesicht ihm aus dem Blickfeld verschwand. Sie hatte den richtigen Ton, den rechten Schlüssel gefunden zum Gemüt dieses gescheiten, gelehrten und doch kindlichverletzlichen Menschen.
Sie fuhr also fort, gute Züge im Wesen des armen Paul Petrowitsch zu »finden«, und in der Überzeugung, damit eine christliche Pflicht zu erfüllen, sagte sie etwas über die schwierige und fast unlösbare Aufgabe, ein kaum überschaubares Riesenreich zu regieren, halb verwilderte Bauern, stumpfe, geplagte Leibeigene, noch gefangen in religiösem Zwielicht, und darüber, aufgepfropft, eine intrigante, europäisch gerichtete Hofgesellschaft … sie sagte das ganz offen und beobachtete beruhigt, daß Alexander nickte.
»Peter der Große«, sagte er, »auch seine energische Tochter Elisabeth … die haben doch vieles erreicht, viel Kultur hereingeschafft – es ist so viel gute Düngung in den bereiten Boden gefallen …«
»Gewiß, Majestät, aber nur auf die Oberfläche, die Krume, nicht in die Tiefe und nicht breit genug!«
»Der Vater« – er erschrak selbst, daß er ihn so nannte – »der Vater hat oft so unvorhersehbar und manchmal gar widersinnig gehandelt und befohlen – der Vater …« Er ließ sich lethargisch sinken, er stöhnte halblaut.
Der Adjudant schlich zur Treppe; es kam ihm selbst taktlos vor, weiter zu horchen: Weder eine Liebelei noch eine Gefahr für das Leben des Herrschers drohte da drinnen, höchstens Enthüllungen, die ihn, den Lauscher belasten konnten.
Alexander hatte sich wieder gefangen:
»Wir sondieren ganz gründlich, was ich vorfand …«, stellte er nüchtern fest, »ich muß aber wissen, wo ich weiterbauen kann und wie … Fragen Sie Gott, Baronin, mit mir!«
Das »Amt« der Frau von Krüdener war nicht gerade ein leichtes. Sie fühlte sich als Gottbeauftragte mit der Weisung, die Herrscher Europas zu einem religiös beflügelten Bunde gegen Napoleon zu bewegen, was durchaus in der Luft lag. Und sie erkannte deutlich, daß solches Unternehmen nicht ohne hymnische Begeisterung und göttliche Segnungen zu erreichen wäre, vor allem, da die Völker den Regierenden folgen sollten; und daß in der mystischen Einheit von Fürstenauftrag und Gottesbefehl, in der magischen Begnadung der Herrscher, die stärkste Triebkraft für die Gefolgschaft der Völker lag.
Der alte französische Feudaladel hatte ihre ganze Sympathie, schon aus ihrer Pariser Zeit, wo sie in den ehemaligen Hofkreisen verkehrt hatte, und die Feindschaft gegen den Usurpator, die auch England teilte, schürte sie geschickt mit Hinweisen auf Napoleons Rationalismus und Ungläubigkeit. Sie spürte, wie tief der Zar in eine gefühlige, fast unkontrollierte Schwärmerei versunken war, aber als er – zwiespältig aus Erbgut und Erziehung – dennoch vernünftige, nüchterne Antworten gab, wurde ihr klar, daß nur ein schwerer Schock, ein brutaler Schlag, ihn in ihre Richtung zwingen werde … Sie hatte sich damals mit sanfter Miene und dem Versprechen verabschiedet, mit inbrünstigen Gebeten die gottgewollte Staatsführung zu erforschen und in ständiger Verbindung mit ihm, dem Auserwählten, Begnadeten, zu bleiben.
Danach zog sie weiter, Anhänger werbend, Brot verteilend, predigend und mit Visionen und hysterischen Szenen ihre »Gottesgesandtschaft« beweisend.
Inzwischen hatte ihr Wanderzug sie über vielerlei deutsche Gegenden bis in die Schweiz geführt, und zwei Jahre nach der Begegnung mit Alexander war sie nach Schaffhausen gelangt …
Die Szene zwischen Zar Alexander und Frau von Krüdener hatte allerdings noch ein Nachspiel gehabt, von dem man freilich in Mörikes Kreis wenig und nichts Zuverlässiges erfuhr: Frau von Krüdener, hieß es da, sei dem Zaren nachgereist, wie das in ihrer Art lag, der Art einer unsteten Prophetin, die trotzdem ganz gezielt und zweckbewußt ihre Routen festlegte; sie habe Alexander irgendwo im Thüringischen erreicht und sich mit viel Energie und Dringlichkeit zu ihm durchgezwängt.
Denn sie habe, ließ sie vorab verkünden, eine unwiderbringliche Möglichkeit gefunden, um ein für ihn entscheidendes Experiment zustande zu bringen.
So geheimnisvoll angesagt, gelangte sie endlich zum Zaren. Es müsse Nacht sein, ließ sie melden, und dazu eine bestimmte.
Mit solchen Voraussagen, wie sie ihr jetzt zu Gebote stünden, könne und müsse sie dem Zaren den Sieg, den unabwendlichen Sieg über den Korsen herbeizwingen …
Alexander, zunächst nicht mehr geneigt auf sie einzugehen, da die Kämpfe zwischen seinen Truppen und dem französischen Heer sich schon durch Polen zogen, Grodno von Napoleon erobert war (wo hernach Jérôme Bonaparte in gewohnter Manier tagelang Siege feierte, die nicht ihm zu verdanken waren) – Alexander war sorgenvoll genug, trotz seiner Anfangserfolge.
Aber ein Experiment? Ein mystisches Orakel? Einwirkung überirdischer Kräfte? – Er hoffte, einen Blick in die Zukunft zu tun, um so mehr, als er – wie viele – den Erzfeind als einen Dämon sah, dem nicht bloß greifbare, berechenbare Mächte beistanden …
Es habe dann, ging das Gerücht, eine nächtliche Begegnung gegeben, bei der die Krüdener mit inständigen Gebeten und im fast dunklen Raum ihr Flehen an den Geist des großen Peter gerichtet, ihn knieend beschworen habe, dem Nachkommen beizustehen.
Und danach sei im Dunst und Dampf entzündeten Weihrauchs eine mächtige Hünengestalt aufgetaucht und habe dem erschrockenen Zaren etwas von tödlicher Weite und Steppentod und Opfer des heiligen Moskau, von Schneewüste und Sieg durch die menschensaugende Leere und das absolute Vakuum zugeraunt – und ihn unverhofft verlassen. Ob der »große Peter« ein von der Baronin Krüdener gedungener Schauspieler war, fragte nachher keiner.