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2.

RAS TSCHUBAI

22. November 1551 NGZ

Eine Ader auf Sternenadmiral Arbo Perikles Dannans Stirn trat deutlich sichtbar pochend hervor. Sie verlief von der hohen rechten Geheimratsecke quer hinab zu seiner Schläfe. Blaues Blut schien dort zu pulsieren.

Das war das einzige Zeichen dafür, dass der Zorn in Dannan geradezu brodelte. Ansonsten hatte er sich perfekt in der Gewalt. Er wirkte beherrscht, ruhig, ja fast gelassen.

Cassandra Somerset war froh, dass sie auf einem bequemen Sessel saß, direkt neben Perry Rhodan. Dass sie nicht stehen musste, weil sie befürchtete, man würde bemerken, wie ihre Knie zitterten.

Das Holo, das Dannan von ihnen sah, zeigte sowieso nur den Kopf und die Schultern. Eine ähnliche dreidimensionale Darstellung sahen sie von ihm.

Sie bekam das Zittern ihrer Beine nur langsam in den Griff. Als junges Mädchen hatte sie manchmal bei Freundinnen übernachtet, oder ihre Freundinnen bei ihr. An die meisten von ihnen erinnerte sie sich nicht mehr genau, doch eine sah sie vor sich, als wäre sie ihr noch gestern begegnet.

Sie wusste auch noch, wie sie hieß.

Iwi. Die hübscheste von ihnen. Und die frechste und mutigste. Sie sah von ihnen allen am besten aus, alle Jungs liefen ihr hinterher, sie hatte nichts zu befürchten. Und sie fürchtete sich vor nichts und niemandem.

Vermutete Cassandra zumindest.

Irgendwie war es Iwi immer gelungen, zu ihren traditionellen Halloween-Pyjama-Partys Horror-Trivids zu besorgen, für die sie eigentlich zu jung waren. Sie hatten sie sich des Nachts angesehen, immer auf der Hut vor den Eltern der Freundin, bei der sie übernachteten, das Zimmerlicht gelöscht, bemüht, so leise wie möglich zu bleiben.

Eigentlich waren die Trivids blöd gewesen, kindisch, fast schon lächerlich. Aber die Dunkelheit, die Befürchtung, jeden Augenblick von einem Erwachsenen überrascht zu werden, die Schockeffekte der Holos und ihre gespielte oder tatsächliche Angst hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt.

Irgendwann hatten sie einander immer in den Armen gelegen und sich die Hände vor die Augen gehalten, doch nur halbherzig. Sie schauten durch die Schlitze zwischen den Fingern und beobachteten fasziniert, wie Menschen getötet wurden und Ungeheuer sie verfolgten oder die Opfer immer wieder dorthin gingen, wohin sie eigentlich niemals gehen durften.

Und Iwi hatte es jedes Mal auf den Punkt gebracht. »Du schlotterst ja!«, hatte sie gerufen. »Du schlotterst vor Angst!« Es war ein harmloses Aufziehen gewesen, ein Spiel, das ihre Anspannung nur noch gesteigert hatte.

Aber an diesem Tag war es kein Spiel.

Sie schlotterte tatsächlich, so kindisch es sich anhören mochte.

Vor Angst.

Warum denke ich ausgerechnet jetzt an diese Abende, an denen der Herbst all seine Kraft zusammenzog und böse Geschöpfe aus anderen Welten in die unsere brachte?, fragte sich die Solastratorin.

Sie hatte Angst. Sie gestand es sich ein, und das war vielleicht der erste Schritt, diese Angst zu überwinden.

Der Mnemo-Schock steckte ihr in den Knochen. Sie hatte ihn längst nicht überwunden.

Und nun ... sie war Politikerin – und mitten in einer Raumschlacht. Sie hatte nie damit gerechnet, einmal an einer bewaffneten Auseinandersetzung fern von Gäon teilnehmen zu müssen. Mitten in einer riesigen, aber doch so winzigen Kugel, die von Heerscharen anderer Kugeln gejagt wurde.

Und gestellt worden war.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Rhodan.

Wie kann er nur so gelassen bleiben, so beherrscht?, fragte sie sich. Er schien die Lage völlig unter Kontrolle zu haben. Dannans Schiffe hatten angegriffen, Rhodan hatte das Kommando übernommen, die RAS TSCHUBAI aus der Schusslinie gebracht, und die Angriffswelle war am Schutzschirm des riesigen Schiffs gescheitert.

Aber was, fragte sie sich, wenn die Thoogondu eingreifen? Sie waren mit mindestens 50 Schiffen im Neo-Solsystem erschienen. Noch schienen sie neutral zu bleiben, doch wenn sie sich an dem Angriff beteiligten ...

Cassandra wollte sich nicht vorstellen, was dann geschehen würde.

Dann würde aus dem perfekt choreografierten Spiel der Drohgebärden auf einmal Ernst werden.

Sie musste versuchen, sich zu beruhigen. Die Angst abzuschütteln.

Vielleicht gelang es ihr, wenn sie sich an Rhodan orientierte.

Sie sah wieder zu ihm.

Er saß ganz ruhig da, hörte sich Dannans Tirade unbeeindruckt an.

Rhodan kannte Dannan nicht so gut wie sie. Ihr genügten kleine Anzeichen, um ihn einschätzen zu können. Indizien wie die angeschwollene Ader auf seiner Stirn. Rhodan hatte da größere Schwierigkeiten.

Der Sternenadmiral war zornentbrannt wegen der Öffnung des Archivs der Nachtherolde.

»Das sind Rebellen!«, sagte er, um Gelassenheit bemüht, doch auch kleine Ausreißer seiner Stimme verrieten ihn. Manchmal schnappte seine Stimme über, und er sprach etwas höher als normal. »Terroristen! Und du arbeitest mit ihnen zusammen, Rhodan! Wer gemeinsame Sache mit Terroristen macht, ist nicht besser als diese. Für solche Verbrechen könnte ich die Todesstrafe über dich verhängen. Gebt auf, oder wir greifen an! Unterwirf dich der Gerichtsbarkeit des Zweiten Solaren Imperiums!«

»Falls die legitime Regierungschefin es wünscht«, entgegnete der unsterbliche Terraner, »wird die RAS TSCHUBAI das System unverzüglich verlassen.«

Warum geht Rhodan überhaupt auf dieses Spiegelgefecht ein?, fragte sich Cassandra. Was bezweckt er damit? Es ist doch alles gesagt, was es zu sagen gibt!

»Cassandra Somerset ist nicht mehr die Regierungschefin!«

Rhodan lehnte sich zurück. »Das sehe ich anders. Die legitime, gewählte Regierungschefin ist noch immer Cassandra Somerset. Die Untersuchungen der beiden Mediker Ivar Harouchi und Ray Lamazu haben nichts ergeben, was eine Ablösung der Solastratorin notwendig erscheinen lässt. Deine Aussagen entbehren jeder Grundlage!«

Der Sternenadmiral runzelte die Stirn und wollte etwas sagen, doch bevor er dazu kam, winkte Rhodan kurz. Der hintere Teil des Konferenzraums erhellte sich, und zwei Männer traten hervor.

Einer war etwa 60 Jahre alt und eher dicklich, mit glattem, dichtem, schwarzem Haar. Er war mit einer bequemen Hose, einem weiten Hemd und einem dazu passenden Jackett leger gekleidet und wirkte aufmunternd-freundlich, ohne ins Betuliche abzugleiten. Er stellte sich demonstrativ neben Cassandra Somerset und ergriff sanft ihre Hand. Beiläufig tätschelte er sie und betrachtete die Solastratorin aufmerksam aus seinen dunklen Augen.

*

Rhodan lächelte verhalten. Das war Ivar Harouchi, einer der beiden Ärzte, die Cassandra Somerset untersucht hatten und ihren Gesundheitszustand überwachten. Harouchi machte einen guten Eindruck. Seine Haltung war selbst bei komplizierten Vorgängen, die seine gesamte Konzentration benötigten, immer entspannt, und er strahlte Lebenskraft und Lebensfreude aus, zeigte eine starke positive Grundhaltung, die auf seine Patienten übersprang.

Wo er war, war Ray Lamazu nicht weit. Rhodan vermutete, dass sich zwischen den beiden Medikern eine Art Konkurrenzkampf um die Gunst der Regierungschefin entwickelt hatte, der seiner Entscheidung entgegenstrebte.

Lamazu folgte seinem Kollegen, baute sich auf Somersets anderer Seite auf und hüstelte leise. Dann saugte er wie ein Trüffelschwein prüfend die Luft ein.

Er war etwa dreißig Jahre älter als Harouchi, schlank, aber muskulös, und hatte seine Haare zu einem angedeuteten, flachen Irokesenschnitt geschnitten. Er trug eine an eine Uniform erinnernde einteilige, schwarze Kombination. Auch von ihm hatte Rhodan einen positiven Eindruck. Er war offensichtlich ebenfalls ein Meister seines Fachs, wobei er im Vergleich zu Harouchi bedächtiger und diagnostisch weniger festgelegt wirkte. Er ergriff Somersets andere Hand und sah ihr ebenfalls in die Augen. Sein Gesichtsausdruck vermittelte Ruhe und Gelassenheit, verstärkt durch eines seiner seltenen Lächeln.

»Was soll dieser theatralische Auftritt?«, fragte Dannan verkniffen.


Illustration: Swen Papenbrock

Harouchi seufzte, als fiele es ihm schwer, nun zu sagen, was er zu sagen hatte. »Sternenadmiral«, begann er respektvoll, »ich kann Perry Rhodans Aussage uneingeschränkt bestätigen. Wie wir bereits erklärten, haben wir die Solastratorin eingehend untersucht. Nichts deutete darauf hin, dass sie beeinflusst wurde. Wenn du möchtest, können wir die Untersuchung gerne wiederholen. Außerdem kann ich dir jederzeit die Daten übermitteln, damit du sie selbst überprüfen kannst.«

Dannan kratzte sich unter dem linken Auge. »Vielleicht später. Ich ...«

»Außerdem«, fiel Rhodan ihm ins Wort, »steht mein Angebot: Sobald die Solastratorin dies wünscht, werde ich sie nach Gäon zurückbringen.«

*

Cassandra Somerset wusste: Nun kam es darauf an.

Reiß dich zusammen!

Sie öffnete den Mund und fürchtete, die Angst würde ihr die Stimme rauben, aber ehe sie den Gedanken zu Ende denken konnte, flossen ihr bereits die Worte über die Lippen. Selbst ein wenig erstaunt, registrierte sie den Klang. Es war, als bestünde nicht die geringste Gefahr für Leib und Leben, als säße sie bei einem informellen Treffen mit der Kultusministerin zusammen und bespräche den Bildungsplan für die nächsten beiden Schulsemester.

»Es tut mir leid«, lehnte sie öffentlichkeitswirksam ab. »An Bord der RAS TSCHUBAI fühle ich mich im Augenblick wesentlich sicherer und objektiver informiert als im Kapitol. Im Interesse meines Volkes, insbesondere für die Zukunft, werde ich an Bord bleiben. Insofern sind ab sofort sämtliche Angriffe, die gegen die RAS TSCHUBAI geflogen werden, und zugleich gegen die rechtmäßig gewählte Solastratorin des Zweiten Solaren Imperiums gerichtet sind, unrechtmäßig.«

Sie atmetet kurz durch, nutzte es als dramaturgische Pause, ehe sie den nächsten Paukenschlag setzte. »Überdies ordne ich als Oberbefehlshaberin der Streitkräfte des Zweiten Solaren Imperiums die sofortige Einstellung aller Angriffe an. Solltest du, Admiral Dannan, dem zuwiderhandeln, werde ich nicht zögern, von Artikel zweiunddreißig Abschnitt sieben der Verfassung Gebrauch zu machen und dich deines Amtes zu entheben.«

Bevor der Sternenadmiral etwas erwidern konnte, ergriff Rhodan das Wort. »Ich erkläre mich gerne bereit, mich mit der Solastratorin und anderen legitimen Vertretern des Zweiten Solaren Imperiums zusammenzusetzen, um über geregelte Beziehungen zwischen diesem Sternenreich und der Liga Freier Galaktiker zu verhandeln. Nicht Waffen, sondern Diplomatie sollte unsere Sprache sein, und ich versichere allen, dass die LFG eine solche Beziehung mit dem ZSI begrüßen würde.«

Cassandra Somerset wusste, dass es gut für sie lief. Ihre und Rhodans Worte waren klar, versöhnlich, konstruktiv und nachvollziehbar. Aber sie kannte den Sternenadmiral und wusste, dass er die Realität keineswegs akzeptieren, sondern versuchen würde, sie in seinem Sinne zu gestalten.

Sie konnte förmlich spüren, wie es hinter Admiral Dannans Stirn arbeitete.

Er dachte viel zu kurz nach, um ihr Hoffnung zu geben, er wäre zum Einlenken bereit. »Hübsche Worte aus dem Mund eines Mannes, der gefälschte Daten von Rebellen verbreitet und damit das Chaos über unsere Heimatwelt gebracht hat! Alles, was Rhodan tut, dient der Destabilisierung eines politisch ausgleichenden Friedenssystems. Deine Forderungen sind nicht annehmbar. Liefere dich unserer Gerichtsbarkeit aus, oder wir werden dich dazu zwingen. Ich gebe dir eine Minute Bedenkzeit!«

Das Holo erlosch. Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, hatte Dannan die Verbindung beendet.

Cassandra spürte, wie die Angst ihr plötzlich die Kehle zuschnürte.

Wird er es tun?

*

Gebannt starrte sie auf die Ortungsholos.

Es besteht keine Gefahr, sagte sie sich, wir können im Notfall fliehen!

Die Minute zog sich quälend langsam dahin. Die Hoffnung, dass Dannan sein wahnsinniges Vorhaben nicht verwirklichte. Aber sie kannte ihn zu gut. Was er gesagt hatte, würde er tun.

Als die Minute verstrichen war, setzten sich die Schiffe des ZSI in Bewegung. Dannan hatte die nächste Angriffswelle befohlen.

Doch dann ...

Mehrere Schiffe scherten aus der Formation aus und stellten sich den anderen Raumern in den Weg! Schiffe, deren Besatzungen oder zumindest Offiziere sich auf ihre Seite schlugen, ihren Anspruch anerkannten!

Sie begriff sofort, was das bedeutete: nicht Erfolg, sondern Niederlage. Es geschah genau das, was sie am wenigsten wollte – eine Spaltung der Gäonen. Und das bedeutete in letzter Konsequenz nichts anderes als einen Bürgerkrieg!

Sie hielt den Atem an. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Rhodan die Szene genauso gespannt verfolgte wie sie.

Vielleicht begriffen das auch diejenigen, die Dannan bisher gefolgt waren. Vielleicht ...

Als kleine rote, blaue und gelbe Sonnen wenige Hunderttausende Kilometer von Gäon entfernt aufleuchteten, erlosch ihre Hoffnung. Gäonen gegen Gäonen – und die Schüsse fielen unweit ihrer Heimatwelt, in ihrem Sonnensystem.

Dannan hatte den Besatzungen der ihm treu ergebenen Schiffen befohlen, das Feuer zu eröffnen.

*

Nein, flehte Cassandra Somerset.

Dannan versuchte durch Gewalt, die Schiffe, die sich zu ihr, der Solastratorin, bekannt hatten, zur Räson zu bringen.

Alles ging viel zu schnell, als dass sie Einzelheiten ausmachen konnte. Ja, die ARTEMIS hatte wieder die Funktion der Speerspitze übernommen, führte den Angriff an. Aber welche Einheiten nahm sie unter Beschuss? War das die BOUNT TERHERA unter Admiralin Shanina Sivathassam, die dort explodierte, oder ein anderes Schiff? Für die Solastratorin spielte es keine Rolle; es starben Menschen, die sie kannte! Menschen, für die sie die Verantwortung trug!

In diesem Augenblick begann der Bürgerkrieg. Wohin würde er führen?

Hinter den Kulissen mussten hektische Aktivitäten entbrannt sein. Die Solastratorin mochte sich nicht vorstellen, welche Funksprüche dort gewechselt wurden, wie einige vernünftige Gäonen versuchten, die Katastrophe abzuwenden, das Blutbad zu stoppen. Etliche Raumer der Gäonen, die sich den Angreifern in den Weg gestellt hatten, rückten wieder in die Angriffs- und Einigelungsposition, stellten sich unter Dannans Befehl.

Dafür scherten andere Schiffe aus. Und es wurden immer mehr.

Schließlich – Cassandra Somerset konnte es kaum fassen – endete das Gefecht.

Die Solastratorin seufzte. Hoffnung auf ein Ende der Krise schöpfte sie aus diesem Signal keine mehr. Es war eine Atempause, mehr nicht. Der Bürgerkrieg ließ sich nicht mehr aufhalten.

Perry Rhodan 2940: Der Putsch

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