Читать книгу Im Moment die Ewigkeit - Uwe Christian Klein - Страница 4

Erstes Kapitel

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Die stählerne Uhr thronte auf einem eisernen Gerüst über dem Platz vor dem Bahnhof, mächtig und erhaben, als sei sie sich der Bedeutung der fließenden Nachricht, die sie verbreitete, bewusst. Menschen huschten vorüber, manche in ihrem Vorhaben verspätet, in geduckter Haltung, so, dass einjeder erkennen sollte, dass sie die wahre Uhrzeit, die ihre Verspätung belegt hätte, nicht sehen konnten. Andere schauten verstohlen an ihr empor, als dächten sie: „Ja, ich weiß schon, dass ich mich beeilen muss.“ Einige blieben kurz vor ihr stehen und schauten sie offen an, von Angesicht zu Angesicht, was entweder einen erhellenden oder aber einen erblassenden Gesichtsausdruck bei den Betrachtern verursachte. Passanten verglichen die angezeigte Uhrzeit mit der Zeitangabe auf ihrer Armbanduhr oder auf ihrem Handy, taten geschäftig oder waren wirklich in Eile. Wieder andere schlenderten gemütlich an ihr vorbei, ohne Notiz von ihr zu nehmen und gaben dem Beobachter ein Gefühl, wie man es von Urlaubsorten zu kennen glaubt: Zeit spielt hier und jetzt keine Rolle, ich muss mich nicht nach Stunden und Minuten orientieren.

Einer Gruppe von Männern in grauen und dunklen Anzügen, eine Krawatte sichtbar darunter, schien der Blick auf die Uhr die Schritte zu beschleunigen, ein Mann mit einem Rollkoffer machte den Eindruck, als traue er der Uhrzeit nicht, und schüttelte immer wieder den Kopf, so oft er an der Uhr hinauf schaute. Einigen Personen, so hätte es dem Betrachter erscheinen mögen, regelte der öffentliche Zeitmesser die Richtung ihres Ganges. So gingen sie nach einem Blick auf die Bahnhofsuhr entweder schnelleren Schrittes zum Eingang des Bahnhofsgebäudes oder drehten sich leicht gelangweilt oder mit beruhigt wirkender Mimik in Richtung eines der Cafés am Bahnhofsplatz, um dort ein offensichtliches Übermaß an Zeit zu verbringen. Eine Frau wartete erkennbar ungeduldig auf ihren Freund, den sie, als dieser sich ihr näherte, mit vor sich verschränkten Armen und vorwurfsvollem Blick erwartete. Der Freund tat achselzuckend überrascht und hob schließlich unschuldig die Arme, legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie halb schiebend, halb ziehend zu einem der genannten Cafés zu begleiten und ihr aus Angst vor einer Szene ein Getränk zu spendieren. Eine Mutter wartete am links vor dem Bahnhofsgebäude gelegenen Busbahnhof auf die Ankunft des Busses, der wenig später ihre kleine Tochter zu ihr brachte und eine Reaktion bei der Mutter hervorrief, als habe sie die Kleine nicht erst seit dem frühen Morgen, sondern seit ihrer Entbindung nicht mehr gesehen. Nur wenige Meter entfernt hatten zwei Erzieherinnen viel Mühe mit etwa zwanzig Kindern, die ungeduldig auf ihre Linie warteten und all das gerne machten, was die Erzieherinnen ihnen verboten.

Viele Menschen, Männer und Frauen, Jung und Alt, verbrachten ihre freie Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges oder des nächsten Busses, teilweise wohl auch ihre mittägliche Pause, in den genannten Cafés. Die meisten Gäste saßen draußen in der spätsommerlichen Sonne.

Vor einem solchen Café saß Markus Nell unter einem großen Sonnenschirm vor seinem Laptop und einer Tasse Kaffee an einem Tisch. Er fühlte sich angestrengt und bediente mit ernstem bis genervtem Blick die Tastatur und schaute dabei auf das Display. Er war Journalist, Redakteur des Feuilletons der regionalen Zeitung und bereitete sich auf einen Besuch in einem biochemischen Institut vor. Wenn die Arbeit es erlaubte, verrichtete er sie gerne in einer ungezwungenen Umgebung, wie eben vor jenem Café.

Das Institut, das Ort des vor ihm liegenden Termins war, lag nahe der Universität und war auch organisatorisch mit dieser eng verbunden.

Dabei musste er eine starke Abneigung gegen diesen Auftrag überwinden, als hätte er eine Vorahnung gehabt, welche Änderung in seinem Leben er diesem Termin später würde zuschreiben müssen. Er hatte noch nie ein Interview mit einem Chemiker oder überhaupt einem Naturwissenschaftler geführt, denn es war nicht sein Metier, und er ärgerte sich über seine Zusage gegenüber einem Redakteur und Kollegen, dessen Redaktion er selbst nicht angehörte. Er sah sich eher als Intellektueller, das entsprach auch seinem Image, das er sich angelegt hatte und das ein Jeder an seinem dunklen Sakko sowie einem schwarzen Hemd und ebensolcher Weste, erkennen sollte. Und er zählte sich zu jenen Intellektuellen, die einer vermuteten rationalen und berechnenden Haltung von Naturwissenschaftlern grundsätzlich ablehnend gegenüber standen. Auch empfand er eine gewisse Arroganz entsprechender Forscher, die ohne Diskurs und Disput einfach ihre Meinung über andere stellten und die zusammen mit Ökonomen die Welt regieren wollten. Seine Kleidung stand in farblichem Kontrast zu seinem hellblonden Haar, das er leicht zurück gekämmt trug.

Markus Nell schrieb als Redakteur zwar für das Feuilleton seiner Zeitung, aber er war bereit, heute einen Kollegen der Wissenschaftsredaktion zu vertreten, weil sich dieser kurzfristig hatte krank melden müssen. Erst vor zwei Stunden hatte er den Auftrag übernommen, zu unüberlegt und gutmütig, dachte er im Nachhinein. Normalerweise ließ er sich immer ausreichend Zeit, wenn er sich auf solche Termine vorbereitete. Unter Zeitdruck konnte und wollte er nicht arbeiten, sah sich als gemütlichen Menschen. Er hatte keine Idee, was er diese Person, einen Herrn Professor Denk, mit ihrem Labor fragen sollte, und im Grunde hatte er keine Lust, sich mit dieser Frage auch nur zu beschäftigen, obwohl der Forscher wohl berühmt war und bereits eine Reihe von internationalen Forschungspreisen erhalten hatte. Er las auf der Internetseite des Instituts, um sich ein ungefähres Bild machen zu können, was dort geforscht und veröffentlicht worden war. Er hatte von Chemie kaum eine Ahnung, erinnerte sich nur ungern an seinen Chemieunterricht, den er in der Schulzeit genossen hatte, unfreiwillig hatte genießen müssen, und hatte den Eindruck, dass er mit dieser Abneigung nicht alleine dastand, einer Schulzeit, die obendrein oder auch zum Glück schon zwanzig Jahre zurück lag, und er stimmte sich selbst zu, dass der Chemielehrer Kolbe unfähig gewesen war, irgendetwas sinnvoll zu erklären. Er wunderte sich daher, warum ausgerechnet er von seinem Kollegen gefragt wurde, diese Aufgabe zu übernehmen, denn er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, sich bei seiner Arbeit mit naturwissenschaftlichem Wissen hervorgetan zu haben. Noch mehr wunderte er sich über sich selbst, dass er sich zu diesem Gefallen hatte überreden lassen, ja, er fühlte sich dazu überredet, denn er hatte schlecht einfach ablehnen können. Welchen Eindruck hätte das auf die Kollegen gemacht? Und wären Kollegen, wenn er der Bitte nicht zugesagt hätte, später einmal ihm in einer entsprechenden Situation entgegen gekommen? Um ihm den Auftrag schmackhaft zu machen, wies ihn sein Chefredakteur darauf hin, der Interviewpartner forsche in einem Bereich, in dem es um ein Grenzgebiet zwischen Chemie und Psychologie, insbesondere um Bewusstseinsforschung gehe. Das fand er zunächst recht interessant, denn psychologische Themen gehörten zumindest zum Teil auch zu den Inhalten des Feuilletons. Er schaute sich den Internetauftritt des Instituts an, las einige Seiten und verstand kaum etwas. Er hätte die Bitte zurückweisen sollen, dachte er abermals. Sicher kannte der Wissenschaftler den inzwischen wohl pensionierten Chemielehrer Kolbe nicht, auch wenn letzterer den ungewollten Eindruck vermittelt hatte, als sei er mit allen großen Chemikern dieser Welt persönlich bekannt gewesen. Die Zeit verging Markus Nell sehr schnell, schneller als er es bei einem Blick auf seine Uhr wahrhaben wollte, und so räumte er sein Notebook und seinen Schreibblock mitsamt Kugelschreiber zusammen und bezahlte. Er fühlte sich wie vor einer Chemiearbeit in der Schulzeit, eine Erinnerung, die er nicht gerade mit dem Wort Nostalgie in Verbindung gebracht hätte. Er hoffte, dass er als erfahrener Redakteur die Sache professionell hinter sich bekomme und freute sich schon jetzt, später wieder vor dem Café sitzen zu können, eine Empfindung, die sich bereits bei der entlastenden Abgabe einer solchen Chemiearbeit in seiner Jugend unabhängig von dem zu erwartenden Ergebnis einstellte. Die Freude darüber, das von nervöser Hand gefertigte Gekritzel endlich abgeben und die Aussicht darauf, die Zeit bis zur schmerzlichen Rückgabe der von roter Farbe übersäten Blätter genießen zu können, überwogen.

Im Moment die Ewigkeit

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