Читать книгу Im Moment die Ewigkeit - Uwe Christian Klein - Страница 6

Drittes Kapitel

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Nach etwa fünfzehn Minuten öffnete ihm ein hagerer älterer Mann die Tür, entschuldigte die Umstände, in die Markus Nell geraten war und bat ihn herein. Der Naturwissenschaftler wirkte in dem Jogginganzug nicht wie unser Journalist ihn sich vorgestellt hatte. Zunächst grub Markus Nell einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Umhängetasche hervor, nachdem er den angebotenen Platz genommen hatte. Er befand sich in einem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer. Es hingen keine Bilder an den Wänden und die vorhandenen Bücher ließen sich an einer Hand abzählen. Das Büro entsprach der von Markus Nell erwarteten Kulturlosigkeit. Sicher kannte Markus Nell einige philosophische Schriften von Naturwissenschaftlern, die er durchaus schätzte, wie beispielsweise von Einstein, von Heisenberg, Schrödinger oder von Prigogine, doch die Neigung jüngerer Naturwissenschaftler, sich mit philosophischen Fragen zu beschäftigen, schien nach seiner Erfahrung nachzulassen.

Professor Ding war überraschend gut vorbereitet, und Markus Nell wehrte sich gegen die aufkommende Vermutung, dass dieser sich auf das Interview eingestellt hatte, während er draußen warten musste. Er stellte einige allgemeine Fragen zur Entwicklung des Instituts, zu dessen Arbeiten und Ergebnissen, zu den Menschen, die darin tätig waren und zu Leben und Ansichten des Professors und hatte dabei das Gefühl, Wörter auszusprechen, die er am Mittag lediglich im Internet gefunden hatte und deren Bedeutungen ihm selbst nicht ganz klar waren. Professor Ding war einer der Gründer des Instituts, welches inzwischen mit anderen Instituten aus den Bereichen Physik, Biologie, Psychologie und Medizin zusammen arbeitete, und Professor Ding war stolz auf die Ergebnisse seiner Forschung. Er begann nach Markus Nells etwas ungelenker Frage, was aktuell geforscht würde, weiter auszuholen und es folgten Ausführungen über Thermodynamik, Entropie, die Flussrichtung der Zeit bei der Entstehung von Entropie, von Aufträgen des Verkehrsministeriums und dem Zusammenhang von Staubildung und Entropie, von Verhaltensforschung in Biologie, Psychologie und Medizin, von Gleichgewichtsprozessen im Gehirn, von der molekularen Zusammensetzung von Zellen und deren Entwicklung im Zusammenhang mit der Entstehung von Entropie, von der Erforschung des Alterns und welche Rolle dabei die Entropie spiele – und Markus Nell glaubte, in jedem Halbsatz das Wort Entropie zu hören, so dass er schon darüber sann, was sich darauf reime, und dass ein kurzer Hinweis auf so etwas wie Entropieforschung und eine dazu passende kurze Erläuterung den Vortrag des Professors für den Beitrag in der Zeitung ausreichend zusammenfassen könne. Schließlich konnte er sich so richtig nur noch an das Wort Entropie erinnern. Allzu gerne hätte Markus Nell vom Zusammenhang dessen, was der Forscher referierte, mehr verstanden. Stattdessen kam er kaum mit seinen Notizen nach und wünschte sich seit Jahren zum ersten Male wieder ein Diktiergerät zu haben. Es quälte ihn jetzt schon der Gedanke, dass er das Gespräch in der Redaktion noch in eine druckbare Fassung bringen musste. Die Ausführungen erinnerten ihn in ihrer Verständlichkeit an seinen Chemielehrer. Schließlich stellte er noch eine kritische und als solche unvermeidbare Frage, weil die Leser solche erwarteten, nachdem er kurz überlegt hatte, ob das wirklich notwendig sei und das Interview nicht unnötig in die Länge ziehe:

„Besteht bei all dem nicht die Gefahr des Missbrauchs?“

Er hoffte, dass Professor Ding nicht die Rückfrage formulieren würde, bei was genau er denn mit einem solchen Missbrauch rechnen würde. Doch kam nur eine ebenso allgemeine wie gewohnte Antwort, dass alles missbraucht werden könne, alle Erkenntnisse, und die Beispiele kenne Markus Nell sicher selbst. „Wenn Wissenschaft und Forschung nur vor einer solchen Drohkulisse betrachtet würden, dann könnte man sie auch ganz lassen, und das will doch sicher niemand.“

Jetzt hätte es doch noch philosophisch werden können, dachte Markus Nell kurz, zum Beispiel, dass Wissenschaft kein objektives Dasein friste und die Ausrichtung ihrer Inhalte diskursbedürftig seien, dass Wissenschaft als solche keine Entität sei, dass nach dem dahinter stehenden Interesse gefragt werden müsse, nach den Auftraggebern, aber das hätte ihm zu lange gedauert. Eine andere Frage interessierte ihn wesentlich mehr, außerhalb des Interviews. Nachdem er gegenüber dem Gastgeber das Ende des Interviews markiert und sich bedankt hatte, beschrieb er sein Missgeschick, das Labor unerlaubter Weise betreten zu haben und fragte den Forscher, ob dies für ihn gefährlich gewesen sei. Doch Professor Ding gab ihm die gleiche Antwort wie schon seine junge Mitarbeiterin kurz zuvor. Er versicherte ihm, dass im Labor das Untersuchungsobjekt gut geschützt sei und beruhigte ihn, dass alles wie geplant abgelaufen war. Sie verabschiedeten sich, und vor dem Gebäude angekommen war Markus Nell erleichtert, die Aufgabe hinter sich zu haben.

Er versuchte, seinen Cappuccino vor seinem Stammcafé am Bahnhofsplatz zu genießen. Er grübelte darüber, warum er vor dem Laborraum die Leuchtschrift nicht gesehen hatte. Einerseits ärgerte er sich über seine Unachtsamkeit, um sich dann wieder sicher zu sein, dass das Hinweisschild zumindest nicht geblinkt habe. Er hatte vorher schon ein ungutes Gefühl gehabt, dass irgendetwas schief gehen würde, und nun fühlte er sich bestätigt. Die Formulierung des Interviews verschob er auf eine ferne Stunde, erfreute sich an der Ruhe und beobachtete das Treiben auf dem großen Platz. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er bei seinen Interviews schon merkwürdigere Partner, seltsamere Orte, gewöhnungsbedürftigere Tages- und Nachtzeiten sowie erstaunlichere Themen gemeistert hatte. Dann fiel er wieder in Zweifel, ob er dieses Eigenlob dem gerade Erlebten nicht deshalb vorschob, um möglicherweise aufkommenden Problemen aus dem Weg zu gehen. Er hatte leichte Kopfschmerzen und ein merkwürdiges, nicht beschreibbares Gefühl einer gewissen Orientierungslosigkeit, als befände er sich in einem Kino, und alles um ihn herum spiele sich wie in einem Film für ihn unzugänglich ab.

So saß er an seinem Tisch und freute sich darauf, dass sich seine Freundin in einigen Minuten zu ihm setzen würde. Das hatten sie gerade per Handy miteinander vereinbart. Die Aussicht, dass sie bei ihm sein würde und die damit verbundene Möglichkeit sich abzulenken beruhigte ihn.

Sie kam mit dem Zug aus Berlin, wo sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen war. Es ging um eine Stelle bei einer bundesweit tätigen Kulturgesellschaft zur Förderung des Theaterwesens, die auch eine Filiale an ihrer beider Wohnort hatte.

Als er sie ankommen sah, freute er sich, auch wenn sie nicht besonders glücklich wirkte, und sie winkten sich bereits aus einiger Entfernung zu. Sie umarmten sich, und an einem leichten Zittern spürte er, dass sie gestresst war. Er war neugierig zu erfahren, was sich bei dem Gespräch in Berlin für sie ergeben hatte. Nachdem sie ein Glas Wein bestellt hatte, erzählte sie ihm von den ihr eröffneten beruflichen Aussichten, dass das Gespräch grundsätzlich zwar erfolgreich verlaufen sei, sich im Ergebnis für sie allerdings eine schwierige Entscheidung ergeben habe, denn eine offene Stelle sei ihr nur für Berlin vorgeschlagen worden.

„Du willst die Stelle annehmen?“, fragte Markus Nell sie mit einem nicht überhörbaren Zweifel in seiner Stimme, denn die Aussicht auf eine erneute Wochenendbeziehung erschien ihm wenig erbaulich. Sie hatten sich bereits bis vor einem Jahr eine Zeit lang nur an den Wochenenden sehen können, eine Zeit, die sie beide – so dachte er – gerne hinter sich gebracht hatten.

„Das ist eine einmalige Chance für mich, Micky.“

Er mochte es nicht, wenn sie ihn „Micky“ nannte, denn er empfand es, von wem auch immer ausgesprochen, als eine Verunstaltung seines Namens, wie die meisten Kurzformen, zumal er Micky dem Namen „Michael“ zuordnete.

Er glaubte, dass er einen schönen Namen trug, einen alten, biblischen Namen, auch wenn er weder gläubig noch irgendwie sonst religiös war. Außerdem sprach sie ihn meistens nur dann derart an, wenn sie ihn mit dem Ziel einer Bitte zu entsprechen, umschmeicheln wollte. Und diese Bitte war ihm nur allzu schnell offensichtlich.

Diese Art der Abwechslung von seinem eben erlebten Lokaltermin war nicht gerade das, was er sich erhofft hatte. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

„Du willst unser Zusammenleben wieder in eine Wochenendbeziehung umwandeln, oder besser, die Zeit wieder zurückdrehen?“

„Wir wohnen auch hier nicht in einer Wohnung, weil du es bisher nicht wolltest, was ich ohnehin nicht verstehen konnte, und du hast kaum Zeit. Wie oft sehen wir uns denn in der Woche? So groß wäre der Unterschied nun auch wieder nicht, wenn ich während der Woche nicht da wäre“, holte sie aus.

„Das ist ja wohl ein riesiger Unterschied, ob man in zwei Wohnungen innerhalb einer Stadt wohnt, oder in einer Entfernung von siebenhundert Kilometern.“

Sie schaute kurz etwas unsicher vor sich auf den Tisch, nahm einen kräftigen Schluck Wein, als müsse sie sich beruhigen, ein Verhalten, das ihm nicht entging, blickte ihn an und entgegnete, dass er das verstehen müsse, dass in ihrer Stadt beruflich für sie als Theaterwissenschaftlerin nichts zu holen sei, dass sie sich oft genug beworben habe und nicht für alle Zeit Nebenjobs ausüben wollte und dass Berlin eine schöne Stadt sei. „Vielleicht wäre auch für dich...“

„Ich verlasse diese Stadt mit Sicherheit nicht“, unterbrach er sie. „Und schon gar nicht nach Berlin. Jeder Dahergelaufene läuft nach Berlin!“, redete er sich immer mehr in Rage, worauf sie entgegnete, dass sie keine Dahergelaufene sei, und warum er sich so aufrege, sie habe gehofft, dass er sich über ihren Erfolg freuen würde, eine Hoffnung, die er nicht nachzuvollziehen in der Lage war. Sie versuchte ihn mit dem Hinweis zu besänftigen, dass sie noch einige Tage Bedenkzeit bekommen habe, um sich zu entscheiden.

Kaum hatte sich Markus Nell wieder beruhigt, holte ihn die Erinnerung an das Interview und die damit verbundenen Umstände wieder ein, meldeten sich diese Erlebnisse in seinem Gedächtnis zurück. Er wusste selbst nicht genau, warum dieses Erlebnis die Stärke besaß, von ihm derart Besitz zu ergreifen.

So erzählte er ihr nach einer längeren Pause davon. Ihre erste Reaktion bestand zu seinem Erstaunen, ja, mehr zu seinem Verdruss in der gleichen Frage, die ihm im Labor die junge Wissenschaftlerin gestellt hatte.

„Hast du die – wie heißt's? Leuchtschrift? Hast du sie nicht gesehen?“

„Ich suchte meinen Interviewpartner, und ich war schon in Eile nach der Sucherei des Eingangs zum Institut. Da passte eine Leuchttafel wohl nicht ins Bild, und wenn sie noch so viel und in welchen Farben auch immer geleuchtet hätte.“

Er merkte nicht, wie aufgebracht er sprach, auch entging ihm die erhöhte Lautstärke seiner Stimme, dass sie sich erschrocken in den Stuhl zurückfallen ließ.

Auch ihren an dieser Stelle logisch richtigen Hinweis, dass damit doch alles in Ordnung zu sein schien, er eben das Schild aus von ihm selbst genannten Gründen nicht gesehen habe, schien er nicht zu hören. Stattdessen kam ihm wieder das vorher andiskutierte Streitthema in den Sinn, und er versuchte ihre Gefühle für ihn anzusprechen, indem er zum Ausdruck brachte, was sie ihm bedeutete. Sie wies ihn darauf hin, dass er vielleicht einfach zu viel Stress habe und etwas dagegen tun sollte.

„Ich würde dich schon jetzt vermissen, wenn du die Stelle dort annehmen würdest, so weit weg. Das würde in der Tat Stress für mich bedeuten.“

„Ich dich auch, und es steht ja noch nichts fest“, gab sie zurück.

Sie versucht wieder die Balance zwischen ihnen herzustellen, dachte er, immer muss sie Konflikten aus dem Wege gehen. Ihre Befürchtungen gegen meine Hoffnungen, und sie merkt nicht, dass diese unterschiedlichen Gefühle nicht aufzurechnen sind, weil sie nicht denselben Wert haben. Er antwortete darauf nicht, auch wenn er in ihrer Aussage eine Frage verspürte.

Nachdem sie ihn darauf hingewiesen hatte, dass sie zu ihrem Yoga-Abend gehen wolle, verabschiedeten sie sich, und Markus Nell verstand nicht, warum sie diesen nicht ausnahmsweise ausfallen lassen konnte. Yoga-Abend gegen Beziehung. Ihre Interessen gegen meine, gegen unsere. Seine Kopfschmerzen nahmen zu und kurze Zeit nach ihr verließ auch er das Café.

Im Moment die Ewigkeit

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