Читать книгу Draußen abtauchen - Uwe Habenicht - Страница 12

Albert Camus in Tipasa 7

Оглавление

Ein Foto fängt die Stimmung ein, damals 1935. Ein schmächtiger junger Mann raucht stehend, neben ihm drei junge Frauen. Die kleine Gruppe hat einen antiken Torbogen bestiegen. Einige blicken in die Weite und auf das vor ihnen liegende Ausgrabungsfeld. Die Schwarz-weiß-Aufnahme zeigt Albert Camus mit drei Freundinnen in Tipasa, einer antiken Ausgrabungsstätte rund 70 Kilometer westlich von Algier, dem Geburtsort Camus’. Vier Jahre später erzählt Camus in „Hochzeit in Tipasa“ von der Bedeutung dieses Ortes für ihn.

Der erste Satz seiner Erzählung taucht die Szenerie in mystisches Licht: „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter.“ Was für ein verheißungsvoller Anfang. Nicht weniger als das Betreten des Paradieses muss auf diesen Anfang folgen. Denn wo sonst sollten die Götter zu finden sein?

„Zum letzten Mal, ehe wir das Reich der Ruinen betreten, sind wir Zuschauer.“8 Dieser Paradiesort der Götter hebt das Schicksal des Menschen auf, unbeteiligter Zuschauer zu sein. Wer die Schwelle zum Paradies überschreitet, lässt die alten schicksalhaften Spaltungen hinter sich, die Rilke in seiner 8. Duineser Elegie beklagt:

„Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein

Und nichts als das und immer gegenüber …

Zuschauer, immer, überall …“ 9

In der spürbaren Gegenwart der Götter Tipasas gibt es keine distanzierten und unbeteiligten Zuschauer mehr. Vielmehr überwältigen die leiblichen Eindrücke dieses Ortes den Besucher so sehr, dass alles Erlebte unmittelbar und elementar wird. Hier kehrt alles zur Natur zurück, sogar die Steine werfen „die ihnen von Menschen aufgezwungene Glätte“ ab und gehen wieder in die Natur ein. Auf der hier gefeierten Hochzeit werden Blumen gestreut anlässlich der „Rückkehr dieser verlorenen Kinder“.

Buchstäblich mit Haut und Haar zieht die Natur dieses Ortes Camus in seinen Bann: Wimpern zittern, in der Kehle kratzt es und der Atem stockt. Die Großen religiösen Grundgesten vollziehen sich an diesem Ort: die Atmosphäre des Ortes in sich aufnehmen: „das aufreizende Gemisch aus schwirrenden Stimmen und Düften einzuatmen“ (11); die Herzen in die Höhe steigen lassen: „… hebe ich Herz und Augen gegen die unerträgliche Größe des gluterfüllten Himmels“ (10); das reinigende Eintauchen in die Tiefe: „Nackt muss ich sein und muss dann, mit allen Gerüchen der Erde behaftet, ins Meer tauchen, mich reinigen in seinen Salzwassern und auf meiner Haut die Umarmung von Meer und Erde empfinden … Und dann der Schock im Wasser … das Untertauchen und das Sausen in den Ohren“ (13); und nach „der hochzeitlichen Weltumarmung das Glück der Ermattung“ (15), wie sie sich nach einem Liebesakt einstellt.

Was hier geschieht, ist „beruhigende Gewissheit“ (12) und könnte elementarer nicht sein: „Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein und erfüllte das eigene Maß“ (12). „Ich muss alle meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt, dass ich … lerne: zu leben“ (15). Die Frühjahrsgötter Tipasas schenken ihrem verlorenen Sohn den Segen des bedingungslosen Angenommenseins. Die Natur oder, wie Camus viele Jahre später schreiben wird, „der alte, bemooste Gott, den nichts erschüttert, (wird) Zuflucht und Hafen seinen Söhnen, deren ich einer bin“10.

Eine solche Erfahrung ruft nach Wiederholung und Erneuerung. Deshalb ist Camus nach dem 2. Weltkrieg mit all den Verletzungen und Abgründen, die dieser Vernichtungskrieg hervorgerufen hatte, noch zweimal nach Tipasa zurückgekehrt. Er hoffte so sehr, nochmals erleben zu können, was er damals erlebt hatte. Doch der erste Besuch bei strömendem Regen misslingt. Erst beim zweiten stellt sich die ersehnte Erfahrung erneut ein. Camus erlebt das Stehenbleiben der Zeit, den ewigen Augenblick des nunc stans: „Der Morgen schien erstarrt, die Sonne stand für einen Augenblick still. In diesem Licht und in diesem Schweigen zerrannen langsam die Jahre der Raserei und der Nacht. Ich lauschte in mir einem fast vergessenen Klang, als finge mein Herz nach langem Stillestehen ganz sachte wieder zu klopfen an. Und nun vernahm ich auch jene unhörbaren Geräusche, aus denen die Stille gewoben ist: das Continuo der Vögel, die leichten, kurzen Seufzer des Meeres am Fuße des Felsen, das Zittern der Bäume, das Rascheln der Sträucher, die flüchtigen Eidechsen. Und ich lauschte auch dem glücklichen Strömen in mir. Es war mir, als sei ich endlich in den Hafen zurückgekehrt, nur für einen Augenblick zwar, der aber nicht enden würde. Gleich darauf stieg die Sonne sichtbar einen Grad höher. Eine Amsel prädulierte kurz, und dann sprühte von allen Seiten der Gesang der Vögel auf, mit einer Kraft, einem Jubeln …“11

Eine Licht- und Erleuchtungserfahrung, die den verlorenen Sohn und die Natur in Resonanz versetzten. Das Herz beginnt wieder zu schlagen, der innere verschüttete Klang ist wieder zu hören und die Sinne nehmen die lebendige Mitwelt wieder wahr. Ein mystisches Erlebnis, das die inneren Kräfte für die kommenden Kämpfe aufs Neue stärkt.

Die Gegenwart der Götter ist spürbar und heilsam, sie löst die Starre und verbindet Camus’ Lebensstrom mit dem seiner Umgebung. Innere und äußere Natur stehen sich nicht länger teilnahmslos gegenüber, sondern fließen ineinander. Das für solche Erfahrungen notwendige Vokabular werden wir später noch genauer erkunden. Von den ergreifenden göttlichen Atmosphären wird noch ausführlich die Rede sein. Für den Moment markiert die erzählte Erfahrung Camus’ den Horizont, auf den wir uns zubewegen. Was immer Menschen in der Natur suchen, welches Vokabular sie dafür auch immer verwenden: Es geht um die Anwesenheit von etwas, das ergreift und betrifft, etwas auslöst und eine neue Verbindung nach innen und außen stiftet.

Praxis: ganz nah

Viel zu oft schauen wir nicht genau hin. Mit einer Lupe unterwegs sein, sich hinhocken oder besser noch sich auf den Boden legen und ganz genau hinschauen.

Draußen abtauchen

Подняться наверх