Читать книгу Draußen abtauchen - Uwe Habenicht - Страница 13

5.Sprechende Natur

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Woran liegt es, dass sich nicht ständig und überall in der Natur solche Erlebnisse und Erfahrungen, wie Camus sie gemacht hat, einstellen? Warum schweigt die Natur so oft?

Die Schriftstellerinnen Juli Zeh und Brigitte Kronauer beschreiben die Umstände, unter denen Natur sich sprechend oder eben auch verschlossen zeigen kann.

„Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutener war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. Kein Mensch konnte sich die steigenden Gas- und Ölpreise leisten. Deshalb kaufte man bei Kathrins Vater ein paar Bäume, schlug sie selbst, sägte sie klein und schob sie im Lauf eines langen Winters in den Ofen. Die meisten männlichen Dorfbewohner konnten verheilte Knochenbrüche oder Narben von Kettensägenverletzungen vorweisen. Der Wald hatte Erik umgebracht und Kron ein Bein zertrümmert. Der Wald war kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt. Man fuhr in den Wald, um Holz zu machen. Oder man suchte Pfifferlinge, für die es in Plausitz gutes Geld gab. Ober beteiligte sich an einer Treibjagd und nahm ein halbes Wildschwein mit nach Hause. Freie Zeit verbrachten die Unterleutener lieber woanders.“ 12

Für die Bewohner des Romans „Unterleuten“ von Juli Zeh ist der Wald ganz sicher kein Ort der Götter. Den „Gott des nördlichen Waldes“ von Paul Klee würde niemand aus Unterleuten suchen gehen. Die Unterleutener gehen in den Wald, um zu arbeiten, sonst nicht. Für sie stellt der Wald lediglich eine Ressource dar, die für den Lebensunterhalt gebraucht wird. Sie nutzen den Wald, arbeiten hart in ihm, um möglichst viel aus ihm herauszuholen, was sie brauchen können: Holz, Pfifferlinge und Wildschweinfleisch. Der Wald zeigt sich dabei von seiner harten und gefährlichen Seite: Er fordert seinen Tribut, er verletzt, zertrümmert Knochen und tötet sogar. Der Ur-Mensch, wie ihn die Unterleutener verkörpern, ist noch ganz im Kampfmodus mit den Naturgewalten. Sie ringen der Natur das Lebensnotwendige ab. In ihrem instrumentellen Verhältnis zum Wald gibt es keine Zeit und keinen Raum für absichtslose und staunende Blicke. Zum Staunen fehlen ihnen Muße und Distanz, die das Sehen und Wahrnehmen braucht. Wie dem Hammer alles zum Nagel, wird den Unterleutenern die Natur zum bloßen Roh- und Verbrauchsstoff.

Darin unterscheidet sich Kathrin, eine junge Frau aus dem Ort, von ihren Mitdorfbewohnern. Sie erfährt den Wald ganz anders. Sie geht im Wald spazieren, erholt sich dort, hockt sich nieder und schaut den Ameisen zu, wie sie ihren Hofstaat errichten. Beobachtend verweilt Kathrin im Wald. „Kathrin stellte eine Ausnahme dar. Wann immer sie konnte, unternahm sie einen Spaziergang in den Wald. Aus ihrer Sicht war der Wald etwas Magisches: ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte. Er brachte alle Fragen zum Schweigen. Um etwas über den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Todes oder die Ursache des Seins zu erfahren, genügte es, in die Hocke zu gehen und den Waldboden in Augenschein zu nehmen. Wer einen Ameisenstaat bei der Besiedelung eines Baumstumpfes beobachtete; wer sah, wie Grashalme auf einem Felsblock wuchsen; wer Pilze kannte, die in Grüppchen beisammenstanden wie dünnbeinige Partygäste und gemeinsam einen faulenden Ast verdauten – der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen ‚Stoffwechsel‘ lautete. Kathrin empfand dieses Wissen als beruhigend. Ihr gefiel die Vorstellung, dass die Stoffe, aus denen sie bestand, eines Tages in die Blüte einer Blume oder das glänzende Gefieder eines Vogels eingehen würden.

Kron hatte ihr beigebracht, den Wald zu lesen, lange bevor er selbst Waldbesitzer geworden war. ‚Du musst vor nichts Angst haben, meine Kleine‘, hatte er gesagt, wenn sie wegen eines kleinen Maulwurfs am Wegrand in Tränen ausgebrochen war. ‚Im Wald geht nichts und niemand verloren.‘“ 13

Kathrin erlebt den magischen Wald als lebendiges Gegenüber, „ein Lebewesen, in dem man herumlaufen konnte“, und als etwas, das für sie eine Botschaft bereithält. Dabei verbinden sich in Kathrins Haltung Beobachtung, Wissen, Tradition und Sinnstiftung auf eigentümliche Weise. Ihre unterschiedlichen Eindrücke und Beobachtungen münden in eine einzige Antwort: „… der wusste, dass die Antwort auf alle Fragen ‚Stoffwechsel‘ lautete“. Dieses Wissen um die Natur der Natur, um das Wesen der Natur, empfindet die junge Frau als ‚beruhigend‘, weil sie – ganz im Sinne der Metamorphosen Ovids – die Übergänge von einem Zustand in einen anderen auch auf sich selbst bezieht und sich damit selbst als Teil der Natur verorten kann. „Ihr gefiel die Vorstellung, dass die Stoffe, aus denen sie bestand, eines Tages in die Blüte einer Blume oder das glänzende Gefieder eines Vogels eingehen würden.“ Die sogenannten großen Fragen nach Sinn und Tod, nach dem Sein und der Ursache des Seins, all diese Fragen kommen in und durch die wissende und existenziell gedeutete Naturbeobachtung zur Ruhe: Der Wald „brachte alle Fragen zum Schweigen“.

Doch das Wissen, mit dem Kathrin den Wald erlebt, ist nicht ihre einzige Quelle, die ihre Sicht auf die Natur prägt. Ihr Vater, dem der Wald später ein Bein zertrümmern wird, hatte für sie die Botschaft des Waldes in einen einzigen Satz zusammengefasst: „Im Wald geht nichts und niemand verloren.“

Kathrins Erleben der Natur ist nicht eindimensional instrumentell wie das der Unterleutener, die Natur lediglich als nutzbaren Rohstoff ansehen. In Kathrins vielschichtigem Erleben der Natur durchdringen sich Beobachtung („wer beobachtete / wer sah“), biologisches Wissen („Stoffwechsel“), philosophisch abstrakte Reflexion („Sinn / Tod / Sein / Ursache“), existenzielle Deutung („Ihr gefiel die Vorstellung“) und persönliche Geschichte und Deutung („Du musst vor nichts Angst haben, meine Kleine“) gegenseitig.

Wenn Juli Zehs Beschreibung von Kathrins Naturzugang einer existenziell sinnstiftenden Haltung zutreffend ist, dann lässt sich ein solches Erleben von Natur offenbar nur als ein vielschichtiges und mehrdimensionales Geschehen beschreiben. Den „Wald zu lesen“ oder, allgemeiner formuliert, die Natur zu lesen, so dass sie spricht und Bedeutung gewinnt, ist offenbar ein vielschichtiges und mehrdimensionales Geschehen, bei dem unterschiedliche Tätigkeiten (Sehen, Wissen, Deuten), die wiederum in verschiedenen Disziplinen wurzeln, ineinanderfließen. Erst das Mehrdimensionale scheint sich zu einem sinnvollen Gesamteindruck und Ausdruck zusammenzufügen. Zum besseren Verständnis wird es also hilfreich sein, die einzelnen Zugänge nacheinander genauer anzuschauen.

Praxis: Landschaften hören

„Wenn der Mensch durch die Natur schreitet, sollte er von Musik begleitet sein. Sie gibt der Landschaft ein eigenes Gepräge, denn durch die Musik erscheint sie als ein feineres Element, wie sehr klare Morgenluft im Herbst. Musik weht mich durch die klaren, sommerheißen Täler an …“ 14

Sich an einen Ort in der Natur begeben oder durch die Natur gehen und der Musik der Landschaft, der Bäume, des Bachs und der Wolken lauschen.

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