Читать книгу Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt - Uwe Klöckner-Draga - Страница 6

I.
Münchner Kindl „Renate - Die Wiedergeborene“

Оглавление

Die bayerische Residenz- und Landeshauptstadt München hatte bereits in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende an der typischen Großstadtentwicklung dieser Zeit partizipiert und sich zu einer Metropole für den gesamten süddeutschen Raum entwickelt. Die Einwohnerzahl stieg innerhalb eines kurzen Zeitraumes von knapp 170.000 im Jahre 1871 auf 645.000 im Jahre 1914. Das hatte gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaftsstruktur und das gesellschaftliche Leben. Trotzdem konnten die Bewohner eine „kleinstädtische Atmosphäre“ in ihrer Stadt bewahren, in der das Festhalten an Traditionen zum Bedürfnis wurde. Vor allem architektonisch hatte München einiges zu bieten, wobei weniger die bayerischen Traditionen gepflegt wurden als vielmehr bedeutende Baustile früherer Epochen und anderer Länder kopiert wurden. Das verdanken wir König Ludwig I., der aus München eine Stadt schuf „die Teutschland so zur Ehre gereichen soll, dass keiner Teutschland kennt, wenn er nicht München gesehen hat.“ Künstler, Maler und Architekten lernten sie schätzen und lieben. Nicht allein deshalb, weil die Schwabinger Bohéme, die heute in München ebenso zur Legende geworden ist wie die Bohéme anderer Städte, sich zumeist aus Malern zusammensetzte, die so schöne Motive anderswo nicht vor den Haustoren fanden, sondern auch aus der Tatsache heraus, dass München architektonisch zu den reizvollsten deutschen Städten zählte und heute noch zählt.

Auch für die Dichter galt München lange Zeit als Dorado; und die Förderung, welche die Münchener Dichterschule durch fürstliche Mäzene erhielt, hat viel dazu beigetragen, den Ruf Münchens als Kunststadt zu festigen. Das Theater bekam vor dem Ersten Weltkrieg nicht die gleiche Förderung wie die Oper. Die Sprechbühne wird erst in den Nachkriegsjahren zur Geltung kommen. Aber die Zahl der späteren Bühnen- und Filmkünstler, die am Anfang des 20. Jahrhunderts im Schatten der Frauenkirche geboren wurden ist groß: Stummfilmstar Lee Parry gehört dazu, ebenso Curd Jürgens, Beppo Brem, Gina Falkenberg, Rudolf Fernau, Heli Finkenzeller, Alexander Golling, Joe Stöckel, Richard Häussler, Fritz Kampers, Liesl Karlstadt, Karl Valentin (in der Vorstadt Au), Carola Neher, Susi Nicoletti, Leo Peukert, Kurt von Ruffin, Agnes Straub und Renate Müller.

* * *

München, im Frühjahr 1906:

Dr. Karl-Eugen Müller, zurzeit Theaterkritiker einer Münchner Zeitung, sitzt in einer Wiederaufführung von Gerhart Hauptmanns Trauerspiel Florian Geyer und soll sich mit der Abfassung einer Theaterkritik beschäftigen. Unkonzentriert und kribblig verfolgt er das Stück auf der Bühne, denn bei seiner Frau Mariquita haben die Wehen eingesetzt. Doch der erwartete Sohn - natürlich muß es ein Sohn sein - läßt sich Zeit bis zum Morgengrauen und entpuppt sich an diesem regnerischen Vorfrühlingstag als stämmiges Mädchen.

Renate Maria Müller wird am Donnerstag, dem 26. April 1906 (im Zeichen des Stiers) im Münchner Stadtteil Schwabing geboren. Die Eltern haben beide großes Interesse für künstlerische Dinge. Die Mutter, Mariquita Müller, geborene Frederich, als Deutsche in Südamerika geboren, ist eine begabte Malerin und der Vater Karl-Eugen, ist Historiker und Altphilologe. Wer an Vorbestimmungen glaubt, der kann sagen, dass der kleinen Renate der Weg zur Bühne bereits an der Wiege geebnet wurde.

Renate ist ein fröhliches Baby und wird in der Familie „Rena“ gerufen. Die begeisterte Großmutter Emma Müller erzählt: „In Grünwald im Isartal lag auf einer weichen Felldecke mitten in einer grünen Wiese der kleine sechs Wochen alte Nackedei und strampelte. Dazu krähte Renatchen aus vollen Lungen. Sie fand das Leben offenbar wunderschön und lachte und lachte. Nicht so ein Kinderlächeln, sondern richtig lautes helles Lachen, dass jeder, der es sah und hörte, einfach angesteckt wurde. Und das Bild werde ich nie vergessen: wie mein Himmelsfuchs auf der grünen Wiese liegt und die ganze Familie drum herum steht und Tränen lacht.“ 1


Das Münchner Kindl im Alter von drei Jahren.


Vier Generationen: Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Renate, 1910.


Familienfoto aus dem Jahre 1910:

Vater Dr. Karl-Eugen Müller mit Renate und Mutter Mariquita mit Gabriele.

Renate verlebt mit ihrer 2 Jahre jüngeren Schwester Gabriele, mit der sie Zeit ihres Lebens verbunden bleibt, dem Kindermädchen Agathe (von den Kindern „Adaate“ genannt) und einigen großen Hunden glückliche Jugendjahre in der bayerischen Hauptstadt, oder genauer gesagt, in der Künstlerkolonie in Emmering. Dort, fünfundzwanzig Kilometer von München entfernt, haben sich die Eltern ein Landhaus mit einem riesigen Garten am Ufer der Ammer, einem Nebenfluß der Isar, gebaut. Als Kind soll die kleine Renate ein frecher, unfreiwillig komischer Fratz gewesen sein, kugelrund und alles andere als hübsch.

Sie wächst in einem liberal orientierten Elternhaus auf, das früh ihre Selbstsicherheit fördert. Diese Selbstsicherheit wird erst in den Jahren vor ihrem Tod sukzessive weniger.

Die kleine Renate kann drollig sein und steckt dann alle mit ihrem Lachen an. Mal ungebärdig, mal schrecklich lustig, dann wieder völlig dickköpfig bringt ihre Eltern, kaum dass sie sprechen kann, mit ihren tausend Fragen oft in Verlegenheit. Selbst wildfremde Leute, z. B. in der Straßenbahn, spricht sie an: „Onkel, warum hast du so gräßlich rote Haare?“ Oder: Renate geht mit den Eltern bei strahlendem Sonnenschein in München spazieren.

Plötzlich will sie einen Regenschirm aufspannen und ist von diesem Vorhaben nicht mehr abzubringen. Die Eltern versuchen es mit Zureden, Verbot und Strenge - nichts hilft. „Ich will, ich will, ich will!!!“ Der Dickkopf wird stärker, Renate setzt sich auf das Straßenpflaster und ist nicht mehr zu bewegen, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen. Karl-Eugen muß sich seine Tochter schließlich unter den Arm klemmen und sie nach Hause tragen.

Diese Eigenwilligkeit ist ein Erbe der Frederichs, der Familie ihrer Mutter. Renate lernt sehr schnell lesen und die ersten Märchenbücher können die Wißbegier des kleinen Mädchens kaum stillen. Tante Anna meint mitleidslos: „Wie gut, dass das Kind wenigstens klug ist, sonst hätte sie es mit ihrer Stupsnase und überhaupt dem Gesicht einmal schwer im Leben.“ 2

Im Frühjahr 1912 wird Renate eingeschult. Im Sommer besucht sie die Dorfschule in Emmering, im Winter die Münchner Volksschule. Den Lehrern an beiden Schulen fällt Renates reger Geist auf, vor allem ihre nicht zu stillende Wiß- und Lernbegierde. Auch bekommt sie Klavierunterricht und trällert, zu Geburtstagen oder zu Weihnachten, ganz ohne Scheu, den Gästen ihre Lieder vor.


Der erste Schultag, München 1912.

Für den Sommer 1914 ist eine Reise an die See geplant. Vorher wird der Großmutter Margarethe Frederich, der Mutter von Mariquita, in Hamburg ein Besuch abgestattet. Hier erfährt Familie Müller vom Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar. Als am 1. August plötzlich der Krieg ausbricht, fährt die Familie Hals über Kopf zurück nach München, ohne dass die Kinder das Meer sehen konnten.

Jubelnd und voller Freude ziehen die bayerischen Regimenter durch die Straßen Münchens, an die Front. Überall werden patriotische Ansprachen gehalten, Lieder gesungen und Hochrufe auf den Kaiser und den König ausgebracht. „Deutschland, Deutschland über alles!“ hallt es aus allen Kehlen. Der Krieg wird in ganz Europa ähnlich gefeiert. Diese Ausgelassenheit hält nicht lange an. Die ersten Verwundeten- und Gefallenenlisten ernüchtern die Bevölkerung. Gasangriffe und Stellungskrieg an den Fronten zeigen die Schrecken des Krieges und stürzen das scheinbar zivilisierte Europa in die erste große Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts.

Auch der siebenunddreißigjährige Karl-Eugen wird eingezogen. Unverletzt kehrt er nach kurzer Zeit wieder zurück und wird an der Heimatfront eingesetzt.

Während der Kriegsjahre gehen Renate und ihre Schwester in Emmering in die Dorfschule. Für die bayerischen Mitschüler sind die Namen Renate und Gabriele schier unaussprechlich fremdartig und so bekommen sie die Spitznamen „Propeller“ und „Granaten“. Die Mädchen fühlen sich in Emmering wohl und haben sich längst an das Landleben und die dortigen Lebensgewohnheiten angepaßt. Renate und Gabriele gehen sogar wie die Dorfkinder barfuß oder in Holzpantinen in die Schule. Die beiden Stadtkinder gehören zur dörflichen Gemeinschaft und haben einen großen Freundeskreis. Natürlich wollen sie mit ihren Freundinnen die anstehenden katholischen Feiertage begehen. Gabriele: „Eine Erinnerung hat sich schmerzhaft in unsere Kinderherzen eingegraben. Obzwar evangelisch, machten wir mit frischgestärkten weißen Kleidchen, riesengroßen Haarschleifen und ebensolchen bunten Schärpen die Fronleichnamsprozession in Emmering mit. Alles ging gut, wir hatten die Gebete in der Dorfschule abgehört, knicksten an den vor schriftsmäßigen Stellen und sangen brav mit hellen Stimmchen im Chor mit. Aber dann, in der Klosterkirche von Fürstenfeldbruck, dem Ziel der Prozession, durften wir ‚Ketzerkinder‘ nicht zum Altar! Ausgestoßen aus der Gemeinschaft und konnten doch gar nicht begreifen warum! Wir haben fassungslos geheult.“ 3


Der Vater als Kriegssoldat mit seinen Töchtern, links Renate, 1916.

1918: Nach vier Jahren Krieg ist die anfängliche allgemeine Begeisterung endgültig der völligen Ernüchterung gewichen. Fast jede Familie hat einen Vermißten, Verwundeten oder gar Gefallenen zu beklagen. Mit der militärischen Niederlage und der Abdankung Kaiser Wilhelms II. sowie aller deutschen Bundesfürsten am 9. November 1918, kommt es zum revolutionären Aufbegehren des Volkes. Vom Berliner Reichstaggebäude ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die erste „Deutsche Republik“ aus. In München wird Kurt Eisner zum bayerischen Ministerpräsidenten gewählt, dieser erklärt Bayern zur Republik. Stärkste Partei im Landtag wird die Bayerische Volkspartei. Im März 1919 brechen auch in München Unruhen aus. Revolutionäre Gruppen rufen die „Räterepublik Baiern“ aus, Reichstruppen werfen den Aufstand nieder. Renates Vater steht in dieser Zeit aus politischen Gründen mehrfach auf einer Geiselliste der „Herren Räte“. Der drohenden Verhaftung kann er nur entgehen, weil ein Freund ihm rechtzeitig einen Wink gibt.

Zur gleichen Zeit finden in Weimar Wahlen zur Nationalversammlung statt, wo die Sozialdemokraten zur führenden politischen Kraft in Deutschland angewachsen sind. Die Verfassung am 11. August 1919 legt das Fundament der „Weimarer Republik“, den Weg zu einer neuen demokratischen Gesellschaftsordnung. Mit der „Bamberger Verfassung“ wird Bayern am 15. September 1919 zum Freistaat innerhalb des Deutschen Reiches erklärt. Nachdem sich die Lage beruhigt hat, zieht Familie Müller wieder nach München, in den intellektuell-bohemienhaften Stadtteil Schwabing zurück, da Karl-Eugen die Chefredaktion der Münchner Neuesten Nachrichten übernommen hat. Gabriele erinnert sich: „Die Kriegsjahre waren nicht schön für Kinder in München, die immer Hunger hatten und nicht verstanden, warum die Mutter ihnen nur zwei Scheiben Brot gab. Und dann: Gemüse, Bratklopse, süße Puddings, Marmelade, Auflauf - alles aus Steckrüben! Wir können heute noch keine Kohlrüben essen.“ 4

Die Kinder gehen wieder regelmäßig zur Schule, die durch die politischen Wirren kurz unterbrochen war. Auf dem Schulhof sind sie als "Preißen" verschrien, weil Renate und ihre Schwester für bayerische Begriffe ein dialektfreies Hochdeutsch sprechen. Karl-Eugen, der aus der Pfalz stammt und Mariquita, die einen norddeutschen Tonfall hat, achten auf die Aussprache ihrer Kinder. Dennoch spricht Renate nach kurzer Zeit um nicht aufzufallen mit unverfälschtem Münchner Dialekt. Freundinnen von Renate erzählen, dass sie eine der begabtesten Schülerinnen des Lyzeums in München gewesen sei. In dieser Zeit entwickelt sich Renates Theaterleidenschaft, und mit ihren Schulfreundinnen veranstaltet sie zu Hause Aufführungen. Alte Faschingskostüme und die Kleider der Mutter sind die Fundgrube für die kindlichen Phantasien. Regie, Hauptdarstellerin und die Texte stammen natürlich von Renate Müller - die anderen Mädchen müssen nur das machen, was Renate ihnen sagt. Am Schluß sind sämtliche Mitwirkenden entweder erdolcht, erhängt oder zu Tode gemartert; Renate hat es so beschlossen!

In den Schulferien fährt die Familie gerne in die Alpen, wo ausgedehnte Bergwanderungen unternommen werden. Die Liebe zum Gebirge, zum bayerischen Landleben, wird Renate nie verlieren.

Im März 1920 erfolgt in Bayern eine erneute politische Wendung, diesmal nach rechts. Der parlamentarisch-demokratische Staat soll beseitigt werden; es kommt zum rechtsradikalen „Kapp-Putsch“. Die Reichswehr wirft auch diesen Aufstand nieder. Trotz der Unruhen verbringt Familie Müller die Sommerferien 1920 am Königssee, im südlichsten Zipfel Deutschlands.

Großes Bedauern gibt es bei Renates Freundinnen, als die Vierzehnjährige im Herbst 1920 München verlassen muß und mit der Familie in die damals Freie Stadt Danzig übersiedelt. Die eben noch kaisertreue Metropole und westpreußische Provinzhauptstadt war nach dem verlorenen Krieg im Laboratorium der Diplomatie neu entstanden. Renates Vater hat das Angebot angenommen, die Leitung der Danziger Zeitung zu übernehmen.

* * *

Die alte Hansestadt Danzig wurde im Friedensvertrag von Versailles (1919) von Deutschland getrennt und 1920 als Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes und des von ihm eingesetzten Hohen Kommissars gestellt. Die Freie Stadt Danzig war also ein souveräner Staat im Sinne des Völkerrechts mit einem Parlament (dem Volkstag), einer Regierung (dem Senat) und einem Staatsgebiet. Seine ca. 300.000 Einwohner wurden allerdings nicht nach ihrem Willen gefragt, sie waren verbittert, weil ihr Bekenntnis zum Deutschen Reich bei den Friedensverhandlungen offenbar ignoriert wurden. Trotz der prekären Situation der Stadt, versuchen die Danziger mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Sie genießen nun die Danziger Staatsangehörigkeit, deren Erwerb und Verlust sich nach Danziger Recht regelt. Besondere Vorrechte hat sich die junge Republik Polen im Hafen, bei der Bahn und bei der Post einräumen lassen. Die Stabilität des Freistaates steht auf wackligem Boden.

Von Swinemünde aus läuft das Schiff nach einem Sturm mit fünf Stunden Verspätung im Danziger Hafen ein. Für Renate und ihre Schwester beginnt nun ein neuer und bedeutsamer Abschnitt im Leben. Bereits beim ersten Besuch der Stadt sind sie von den prachtvollen Gebäuden, den Gassen und Winkeln der alten Hansestadt angetan. Am Anfang haben die Kinder es nicht leicht, denn in den Augen und Ohren der neuen Mitschüler sind die beiden Müller-Schwestern nur Bajuwaren, deren Sprache und unverständliche Ausdrücke wie „heuer“ statt „in diesem Jahr“ oder „Semmel“ statt „Brötchen“ schallendes Gelächter hervorrufen. Um nicht weiter verspottet zu werden, legt Renate sehr schnell den bayerischen Dialekt ab und bemüht sich wieder um ein reines Hochdeutsch. Renate: „In diesem Alter stellt man sich leicht um, und ich fühlte mich bald sehr wohl in diesem interessanten Milieu. In unserem Hause verkehrten viele Schriftsteller und Politiker.“ 5

Renate ist eine Träumerin, die nach dem Sinn des Lebens sucht, interessiert sich für die Geheimnisse des Daseins und widmet sich mit Hingabe ihren Interessen. Sie stürzt sich bereits als Pennälerin in die Literatur und Philosophie, verschlingt Nietzsche und Schopenhauer und begeistert sich für die moderne Lyrik. Auch die Schriften des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler gehören dazu. Sein 1920 herausgegebenes Erfolgsbuch „Preußentum und Sozialismus“ ruft eine große Wirkung hervor und beflügelt ihre Phantasien. Der Kunstgriff, durch den der Sozialismus hier eine neue Vergangenheit geebnet bekommt, wirkte auf die bürgerliche Jugend der Zwanziger Jahre ermutigend. Seine 2 Bände „Der Untergang des Abendlandes“, liest Renate sogar mehrmals. Spengler schuf hier eine von Goethe und Nietzsche beeinflußte Kultur- und Geschichtsphilosophie und unterscheidet in seinem Werk acht verschiedene Kulturen - in Kunst, Religion, Wirtschaft und Recht - deren Entstehung, Blüte und Verfall. Er sieht eine vergleichbare Gesetzlichkeit der gegenwärtigen westlichen Kultur, die ihren Höhepunkt längst überschritten hat und dem Verfall entgegensteuert. Bücher sind für Renate bereits damals ein wichtiges Ventil und in der väterlichen Bibliothek gibt es kaum ein Buch, welches sie nicht liest. Mit ihren Freundinnen und Klassenkameradinnen kann Renate darüber nicht sprechen, die haben ganz andere Interessen. Renate ist auch außerordentlich empfänglich für Poesie und schreibt in ein ledergebundenes Tagebuch selbstverfasste Verse und ihre geheimsten Empfindungen. Nicht in dem obligaten Stil vieler höherer Töchter, sondern wie Beispiele zeigen, in leidenschaftlichen freien Rhythmen.

Mit weniger Eifer besucht sie jedoch das Gymnasium mit seinen sieben Lateinstunden in der Woche. Zwar hat sie die Absicht zu studieren, um später einmal Journalistin zu werden, aber das Leben in Danzig ist viel zu faszinierend und abwechslungsreich, um sich ausschließlich um die Schule zu kümmern. Renate sieht sich vor allem als Tochter ihres Vaters. Karl-Eugen ist ihr Vorbild, ihr Katalysator, mit dem sie über alles sprechen kann. Gabriele: „Ich entsinne mich noch, mit welch ehrfürchtigem Schweigen ich nebenher ging, wenn bei den sonntäglichen Spaziergängen durch die Wälder von Oliva und Zoppot die große Schwester mit dem Vater über Schopenhauer und Nietzsche diskutierte und in heiligem Eifer Worte des ‚Zarathustra‘ in den sonntäglichen Wald hineindeklamierte. Sicher hat sie nicht alles verstanden, was sie damals las, aber mit Sechzehn, siebzehn Jahren muß man sich einfach mit Gott und der Welt herumschlagen und greift, da man nicht allein damit fertig wird, in jugendlicher Vermessenheit gleich zu den schwierigsten Problemen der Philosophie.“ 6


Die sechzehnjährige Renate (x) mit ihrer Danziger Schulklasse, 1922.

Der Vater unterstützt seine Tochter in ihrem Wissensdurst und nimmt Renate auch gerne zu Veranstaltungen mit. Zum Beispiel zum Stapellauf des Lloyddampfers „Columbus“, oder zur Einweihung des Flugplatzes von Langfuhr. Auch erlebt Renate den Schauspieler Eugen Klöpfer vom Berliner Lessing-Theater, als er ein Gastspiel in der Titelrolle in Gerhart Hauptmanns Schauspiel Michael Kramer im Stadttheater gibt.

Es folgt die Zeit der ersten Bälle, die in der damals ganz internationalen Danziger Gesellschaft gegeben werden. Renate erlebt ihr Debüt auf diesem Gebiet mit sechzehn Jahren an Bord eines britischen Kriegsschiffes, das der Freien Stadt seinen Besuch abstattet. Der Hochkommissar des Völkerbunds, der britische General Sir Richard Haking, gibt für die Offiziere einen Ball.

Da die 200 Seekadetten jeder eine Tischnachbarin haben sollen, werden auch die Töchter der Danziger Gesellschaft geladen. Auch Herr und Frau Müller erscheinen mit ihrer ältesten Tochter. „Aber nur dieses eine Mal!“ bestimmt Karl-Eugen. Dabei bleibt es natürlich nicht, denn aus dem Entlein ist in der Zwischenzeit ein reizendes Mädchen geworden, das seine Umgebung durch ihre aufblühende Schönheit den Kopf verdreht. Sie ist jetzt ein liebenswertes Mädchen und stets gut gelaunt. Das lebhafte, gesellige Leben der Ostseemetropole hat Renate erfaßt, und es lockt das Vergnügen mit Tanz, Verehrern und Erfolgen. Ihr Freundeskreis hat sich sehr vergrößert.

Auf einer anderen Abendgesellschaft hat der Gastgeber jede Tischkarte mit einem Vers versehen. Auf Renates Karte steht der Spruch: „...und als Rena Maria Molino, geht sie mal sicher zum Kino“. Diese Freunde scheinen von den Zukunftsplänen der nun Siebzehnjährigen mehr zu ahnen als sie selbst. Vielleicht fiel an diesem Abend der Funke in jenen Teil ihrer Seele, in dem die Worte Kunst und Erfolg bereits tief verborgen glimmten. Denn Renates berufliche Pläne schwanken jetzt zwischen Journalistin, Ärztin und Opernsängerin. Weil sie eine hübsche Stimme hat, bekommt sie bei der Kammersängerin Johanna Brun, die am Danziger Staatstheater engagiert ist, Gesangstunden. Dieses klassizistische Gebäude am Kohlenmarkt wird in Anbetracht seiner charakteristischen Form von den Danzigern liebevoll-respektlos „Kaffeemühle“ genannt. Nach dem Krieg wurde unter den politischen Umständen aus dem Stadttheater ein Staatstheater. Oper und Schauspiel sind hier untergebracht. Intendant Rudolf Schaper pflegt in seinem Haus vor allem Werke von Max Halbe, dessen naturalistische Dramen Renate beeinflussen. Voller Begeisterung und Eifer absolviert Renate ihre gesangspädagogische Ausbildung, geht aber der Familie mit ihren Tonleiterübungen auf die Nerven. Trotzdem ist ihr Sinn für die Bühne geweckt und Renate konzentriert ihre ganze Kraft auf die Musik und setzt sich nun in den Kopf, eine große Sängerin werden zu wollen. Renate: „Nur eines wußte ich: auf dem Gymnasium wollte ich nicht bleiben!“ 7

Da stehen sich nun die feindlichen Kräfte gegenüber: hier die Schule mit dem väterlichen Wunsch, dass Renate erst einmal das Abitur machen soll - dort die erträumte Zukunft als Opernsängerin. Schließlich kann Renate ihren Willen durchsetzten und erreicht, dass ihre Eltern sie mit dem Reifezeugnis für Unterprima von der Schule nehmen. Befreit und selig verläßt sie das rote Backsteingebäude des Mädchengymnasiums. Renate Müller hat ihren letzten Schultag hinter sich. Gleichzeitig heißt es Abschied nehmen vom Danziger Intermezzo, denn die nächste Station in Renate Müllers Leben heißt: Berlin.


Die Anfängerin Foto: Binder, Berlin

Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt

Подняться наверх