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II.
Der Weg zur Bühne

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„Es glaubt der Mensch, sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen.“

Johann Wolfgang von Goethe („Egmont“)

Berlin ist 1924 die interessanteste Stadt Deutschlands, nein Europas.

Mit dem Eingemeindungs-Gesetz vom 27. April 1920 war sie zur zweitgrößten Metropole Europas aufgestiegen, ist somit flächenmäßig eine der größten Städte der Welt. Nach dem verlorenen Krieg und der Überwindung der Inflation zeichnet sich eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung ab. Überall spürt man neuen Auftrieb, jeder will dabeisein. Die Prüderie der wilhelminischen Ära ist endgültig vorbei. Ob Künstler oder Intellektuelle, ob Handwerker oder Arbeiter, alle strömen in die vier Millionen Einwohner starke Kulturmetropole. Die Stadt ist nur auf Zukunft ausgerichtet und vereinigt Ordnung und Zügellosigkeit, Natur und Künstlichkeit, Empfindsamkeit und Krach, Schönheit und Häßlichkeit aber auch Gemütlichkeit und störende Hektik. Ein vielschichtiges Gebilde, das nicht nur Kunst- und Amüsierstadt ist, sondern auch noch Industriestadt, in der darüber hinaus sogar noch landwirtschaftliche Erzeugnisse produziert werden. Bis zum amerikanischen Börsenkrach 1929 ist die Stadt bunt, reich und glitzernd, mit einem ganz besonderen Lebensgefühl. Es ist der Auftakt für fünf sorglose Jahre, die als die „goldenen zwanziger Jahre“ in die Geschichte eingehen werden. Zwischen Charleston und Straßenkampf, Kokainpartys und Massenarbeitslosigkeit wird es der Nährboden für die braune Saat.

In dieses kosmopolitische Berlin kommt Familie Müller. Sie beziehen eine geräumige Wohnung in der Bregenzer Straße in Berlin-Schöneberg im Haus Nr. 9. Karl-Eugen ist einem Ruf als politischer Redakteur und Leitartikler beim liberalen Berliner Tageblatt, dem „BT“, gefolgt. Die im Dezember 1871 zum erstenmal erschienene Zeitung, ist das international beachtete Sprachrohr des liberalen Deutschlands der Weimarer Republik. Hier eine Anstellung zu bekommen ist eine neue Herausforderung, die Karl-Eugen Müller reizt, denn die von Chefredakteur Theodor Wolff geschliffenen Leitartikel (stets nur mit „T.W.“ gezeichnet) werden als nationale Institution angesehen und gerne im Ausland zitiert. Wolff ist bis heute unzweifelhaft eine der bedeutendsten Journalisten Deutschlands.

Berlin ist in den zwanziger Jahren die Zeitungsstadt Deutschlands, in der ein paar Dutzend Tageszeitungen erscheinen. Eine Glanzperiode des Zeitungsviertels hat begonnen, die wie ein einziger internationaler Diskutierklub das Geschehen der Welt erörtert. Karl-Eugen Müllers neue Wirkungsstätte ist das Mosse-Haus an der Jerusalemer - Ecke Schützenstraße, mitten im Berliner Zeitungsviertel. Der Journalist Fred Hildenbrandt erinnert sich: „Wir waren am Berliner Tageblatt 92 Redakteure. Ein Stab ohnegleichen. Diese jungen, älteren und alten Männer waren, zusammengenommen, ein Wunderwerk an Organisation, Präzision und Zuverlässigkeit. In der politischen Redaktion arbeitete der Kollege Karl-Eugen Müller. Ein mittelgroßer, stämmiger, sehr breitschultriger robust aussehender Mann mit rotblondem Haar und kurz gestutztem Schnurrbart. Im linken Auge funkelte ein Einglas. Dass einer vom BT ein Monokel trug, erscheint außergewöhnlich, denn dieses Augenglas galt gemeinhin ein Überbleibsel aus feudalen Zeiten bei feudalen Leuten oder solchen, die es scheinen wollten. Wir vom Feuilleton kannten ihn nicht näher. Unter den vielen Redakteuren der Zeitung bestand kein enger persönlicher Kontakt. Eine angenehme Loyalität herrschte im Hause. Ein guter Ton regierte. Man verstand sich großartig ohne viel Worte. Jenen Dr. Karl-Eugen Müller nun mochten wir alle seiner Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, seiner ruhigen und stets gelassenen Art wegen gern.“ 1

Das pulsierende Leben der Millionenstadt gefällt den Müller-Töchtern, Gabriele besucht weiterhin die Schule und Renate nimmt wieder Gesangstunden. Die Eltern haben nichts einzuwenden, doch Karl-Eugen stellt eine Bedingung: Renate soll wenigstens eine Schule für Stenografie und Schreibmaschine besuchen. Wenn es mit dem Gesangstudium doch nicht klappen sollte, hat sie wenigstens eine solide Ausbildung für eine Bürotätigkeit. Ohne Widerspruch akzeptiert Renate den Rat des Vaters.

In dieser Zeit tritt eine entscheidende Wende in Renate Müllers Leben ein. Eine Freundin der Familie, die am Deutschen-Theater beschäftigt ist, gibt den Rat, dass Renate unbedingt auch Bühnenpraxis haben sollte, wenn sie wirklich eine Opernkarriere einschlagen will. Denn für moderne Opernsänger sei es von entscheidender Bedeutung, dass sie zur darstellerischen Ergänzung der Gesangsausbildung auch mit der Sprechbühne vertraut werden und spielen können. Sie schlägt die Max-Reinhardt-Schauspielschule vor, die zu den wichtigsten und vor allem modernsten Schulen Europas zählt. Max Reinhardt, ein magischer Name für alle Schauspieler in Berlin, in Deutschland. Die ganze Theaterwelt ist von ihm und seinem Können, seiner kulturellen Größe, fasziniert.

Gesagt getan, durch Vermittlung und Beziehungen ihres Vaters, kann sich Renate zur Aufnahmeprüfung anmelden und macht vor Aufregung in der Nacht vor dem Einzelvorsprechen kein Auge zu. Obwohl das Schuljahr bereits begonnen hat, wird Renate noch aufgenommen, denn ihr Talent wird vom Gremium sofort erkannt und ohne Einschränkungen akzeptiert. Sie wird sogar direkt in die zweite Klasse aufgenommen. Es ist eine besondere Auszeichnung, denn in einer Satzung der Schule heißt es: „Es werden nur sehr begabte Schüler in beschränkter Anzahl aufgenommen.“

Die im Herbst 1905 gegründete Schule befindet sich im zweiten Stock des Hauses der Kammerspiele in der Schumannstraße 14. Die Anforderungen der Schule sind sehr hoch und viele der besten Schauspieler jener Zeit haben hier ihr Handwerk erlernt. Alexander Granach, Karl Ludwig Diehl, Otto Wallburg, Paul Graetz u.v.a. gehören dazu.

Geleitet wird die Schule von Direktor Berthold Held, einer von Reinhardts ältesten Mitarbeitern aus seiner Salzburger Theatertätigkeit. Held über die „Erziehung des Schauspielers“: „Ich sage absichtlich Erziehung und nicht Ausbildung, weil die Ausbildung nur die Erlernung eines Teilgebietes die Erwerbung von Fähigkeiten bedeutet, die Erziehung dagegen das Wesen des ganzen Menschen umfaßt. Die Schauspielkunst in ihren letzten Forderungen aber verlangt den ganzen Menschen, die Beherrschung aller geistigen, seelischen und physischen Kräfte, die leichte Beweglichkeit des Körpers sowohl wie das rasche Erfassen aller Gefühlszustände. Erfassen - und wiedergeben! Unterricht kann schädigen, wenn er anstatt das Wesen des Individuums zu erkennen und dessen Besonderheit zu fördern, Selbstgewolltes einzwängen will. Der Lehrer soll keine Treibhauspflanze züchten, keine regelrecht zugeschnittenen künstlichen Gewächse, denen die Kraft des Wachstums, die Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, gewaltsam beschnitten wird, er soll nichts an Echtheit der Empfindung rauben, aber doch zum Verständnis für Kultur der Kunst erziehen, er soll lehren, mit den vorhandenen Mitteln zu rechnen, und wird dadurch von selbst zu weiser Beschränkung anleiten. Die Aufgabe eines vernünftigen Lehrers ist es, darauf zu achten, dass durch den Unterricht eines reich veranlagten Menschen nicht die Entwicklung der Besonderheit seiner Persönlichkeit Schaden nehme, denn diese muß dem Künstler gewahrt werden. Das ist die Grenze, an der der Lehrer sich zurückzuziehen hat. Das bewußte Schaffen, das Handwerkliche gewinnt an Wert, man erinnert sich, dass Kunst von Können stammt. Darum muß bei der Erziehung des Schauspielers die größte Sorgfalt auf Erlernung aller technischen Fertigkeiten gelegt werden. Allem voran auf die Beherrschung des Wortes. Die Beherrschung der Sprache, mit Rücksicht auf Klang, Tonfarbe, Tonstärke, Deutlichkeit, Richtigkeit, mit allen den vielen Schattierungen des Ausdrucks. Gleichgewichtig ist die Beweglichkeit des Körpers, wozu Gymnastik-, Tanz- und Fechtunterricht unbedingt zu fordern und mancher Sport, wie Reiten, Schwimmen, zu empfehlen ist. Großes Gewicht lege ich darauf, dass der Schauspielschüler sehen und hören lerne. Um zu sehen, werde er in die Museen geführt. Und hören! Der Sprachunterricht geschehe auf musikalischer Grundlage, damit die Sprache klinge und Wohllaut gewinne, und weil dadurch das Gefühl für Rhythmus und Stil geweckt wird. Der heutige Schauspieler muß alles können, er soll Sprecher, Sänger, Tänzer, Musiker, Akrobat sein; er soll alle Stile und Spielarten beherrschen, den klassischen Vers, den leichten Konversationston, die stilisierte Sprache, alles. Die Schule soll dem Schüler für sein ganzes künstlerisches Leben den Rückhalt geben und ihn auch zum disziplinierten Menschen erziehen.“ 2

Max Gülstorff, Professor Ferdinand Gregori, Carl Heine, Albert Steinrück, Friedrich Kayssler u. a. bilden in Ensemblestudium, sowie in Atem-Sprech- und Stimmtechnik aus. Zu den Unterrichtsfächern gehören auch rhythmische Bewegung, Gehörbildung und Florettfechten, welches Paul Mürich seinen Schülern beibringt. Reinhardt selbst ist vorübergehend in Wien tätig und wird erst im Oktober 1924 wieder nach Berlin zurückkommen. Die künstlerische Leitung seiner Häuser führt in dieser Zeit der Schriftsteller, Theaterkritiker und Chefdramaturg Felix Hollaender. Der ewig zerstreut und geistesabwesend wirkende Romancier ist Onkel des Komponisten Friedrich Hollaender.

Der Stundenplan läßt den Schülern kaum Zeit für sich selbst, sie lernen und leben nur für das Theater. Natürlich lernt auch Renate zu deklamieren und übt die üblichen Vorsprechrollen des Gretchen und der Jungfrau von Orleans ein. In der elterlichen Wohnung erklingen jetzt keine Tonleitern mehr, sondern die melodischen Sprachübungen aus dem „Kleinen Hey“: „Qualmende Quelle, Quelle quetschender Qualen“ oder „Pfui Faun, pflücke Veilchen, Pfirsiche verlocken nicht“ usw. Vor allem soll die Bühnenpräsenz und die Einzigartigkeit der einzelnen Schüler geweckt und zur Entfaltung kommen. Renate besucht zwar nicht regelmäßig den Unterricht, lernt aber mit ganzem Herzen und Feuereifer. Sie befreundet sich mit einigen Kommilitonen, die später renomierte Schauspieler wurden, darunter O. E. (für Otto Eduard) Hasse, Werner Fuetterer, Alice Treff und Karin Evans, die den gleichen Lehrgang besuchen. Karin Evans erinnert sich: „Renate war eine tolle Erscheinung, ein Sonderfall in unserer Schule. Wir anderen konnten uns keine ausgefallene Kleidung, keine Seidenstrümpfe leisten. Renate kam immer sehr elegant gekleidet. Für uns war sie ein Rätsel, denn sie kam und ging zum Unterricht, wie sie es wollte; außerdem hatte sie damals schon unglaubliche Beziehungen zu wichtigen Leuten aus der Theaterwelt. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Prominente, die uns nicht einmal angeschaut hätten. Sie war ein Aushängeschild für die Schule.“ 3 Gemeinsam arbeiten und schwärmen alle für das Theater und haben die gleichen himmelstürmenden Pläne. Die Schüler treffen sich regelmäßig in der Kantine, kurz „D.T.“ genannt, an dessen Wänden Photos und Karikaturen sämtlicher Bühnengrößen hängen, die hier aufgetreten sind. Außerdem kann man hier in den Pausen berühmte Schauspieler auch hautnah erleben.

Als Lehrer für Szenenstücke wird der junge Lothar Müthel engagiert. Müthel ist bekannt für seine Sorgfalt, mit der er den Charakter einer Dichtung herausarbeitet. Er plädiert für eine reine, unverfälschte Wiedergabe des Bühnenautors. Um die Schüler besser kennenzulernen, läßt sich Müthel von allen etwas vorspielen. Die Begabtesten, unter ihnen auch Renate, bekommen kleine Röllchen bzw. wirken als Komparsen auf einer der fünf Berliner Reinhardt-Bühnen mit. Zum Beispiel in der Reinhardt-Inszenierung Shaws Heilige Johanna mit der umjubelten Elisabeth Bergner, oder in Bertolt Brechts Dickicht mit Fritz Kortner und Franziska Kinz; Regie führt hier Erich Engel. Die Studierenden sollen das Erlernte praktisch beweisen, Routine bekommen und sich „freispielen“. Das bedeute für Renate, dass sie zunächst ein bißchen auf der Bühne herumzugehen oder dazusitzen hat und als einzigen Text hin und wieder „Jawohl, Mama!“ sagen muss.

Ein weiterer Lehrer für Rollen- und Ensemblespiel, Erich Pabst, (von allen „der Papst“ genannt), ist gleichzeitig Regisseur bei den Reinhardt-Bühnen. Pabst wird für Renates künstlerische Entwicklung noch wichtig sein.

Ihre erste „richtige“ Rolle bekommt Renate in der Richard Gerner Neuinszenierung von Henrik Ibsens Die Stützen der Gesellschaft. Albert Bassermann spielt den Konsul Bernick, Helene Weigel die Martha und Else Bassermann sehen wir als Lona Hessel. Renate spielt darin das Nettchen Holt. Premiere ist am 9. Februar 1925 im Deutschen Theater, das zu den führenden Bühnen deutscher Sprache gehört.

„Beachtenswert ist die Aufführung durch die gute Vertretung der Nebenrollen,“ 4 lobt ein Kritiker. Und der gefürchtete Kritikerpapst Alfred Kerr, der seine Kolumnen mit römischen Ziffern versieht, schreibt am 10. Februar im Berliner Tageblatt über die Neuaufführung: „I. Dieses Stück ist veraltet. Ibsen sagt bekanntlich (im ‚Volksfeind‘): Eine Wahrheit lebt zwei Jahrzehnte. Die zwei Jahrzehnte sind längst um für die ‚Stützen der Gesellschaft‘. Was hat sich (nicht etwa durch den Weltkrieg) verändert? - Zwei Dinge: Der Baugrund. Die Bauart. III. Ibsen ist hier noch Schüler des Franzosenstückes. Er hat ja den Seribe, den Dumas, den Sardou dann erst abgestreift. Ibsen ist aus dem Unmodernen dann erst modern geworden - aber just das Abgestreifte wird nachgemacht. In Wahrheit ist der Bau, auch dieses überlebten Stücks, geniestark. V. Aufgabe des Spielmeisters: Drähte zu beschatten. Herr Richard Gerner beleuchtet sie. Eine Gelegenheitsvorstellung - für Bassermann, der das Herrenmenschliche prachtvoll stark, das Bereuende durchaus zureichend bringt. Im Äußerlichen gibt er Echtheitskunst; im Innerlichen ... Meisterschaft. Seine Frau dachte man sich bedenklicher als Lona Hessel. Sie kam öfters theatralisch; öfters mit Rührung. Sie hat aber nichts zerstört. Mathias Wiemann ist vielleicht eine Kraft. (Er gab den Johann Tönnesen.) Als aktiv zu nennen sind Hermine Sterler und Bild. Als passive Wirkungskraft Helene Weigel. Die still verschrumpfte Schwester des Konsuls. Das alte Mädchen (deren Auge, wie Jean Paul sagt, ‚wie das eines eingepökelten Herings glänzt‘. Ein Trauerspiel für sich. Sie bleibt im Gedächtnis.“

Bei dieser Inszenierung ist Kerr auf die Schülerin Renate Müller noch nicht aufmerksam geworden. Dafür erntet Renate ihre erste Anerkennung in der Rolle der Sophie in Frank Wedekinds Franziska. Die Premiere findet am 4. April 1925 im Theater in der Königgrätzer Straße (das heutige Hebbel Theater in der Stresemannstraße) statt, einem Haus, welches zu den Barnowsky-Bühnen gehört. Die Titelrolle spielt Tilla Durieux und der Herzog von Rothenburg wird von Hubert von Meyerinck gegeben. Regie führt diesmal Karlheinz Martin, der ein Verfechter des Expressionismus ist und hier mit Wedekinds Stück gewaltsam aber dennoch pietätvoll umgegangen ist. Seine Schauspieler konnte Martin zu Höchstleistungen anspornen und am Tag nach der Premiere steht in den Zeitungen: „Wedekinds aus Erbitterung und Enttäuschung geborene Weltanschauung hat wieder dieses, eines seiner letzten Stücke diktiert. Man wird sich Wedekinds Franziska fortan nur noch als Tilla Durieux vorstellen können. Martin steigert das Stück ins Hypermoderne und tut recht daran. Im zweiten Bild, der Lasterhöhle, lebt sich die von tausend Einfällen gewürzte Laune des Regisseurs aus.“ 5

„Die Aufführung der ‚Franziska‘ entfaltete noch einmal allen Glanz und alle Gefahren des Regietheaters. Die Stoßkraft der Handlung - fabelhaft. Das Umschlagen der Vorgänge wurde nicht immer klar. Regie muß Dichterregie, muß Schauspielerregie werden. Nicht schwache Werke, nicht schwache Schauspieler stark machen, sondern das wesentliche Werk, die Persönlichkeit entwikkeln. Wenn das erkannt wird, werden auch die Anregungen dieser starken, oft hinreißenden, oft irritierenden Franziska-Aufführung nicht vergeblich gewesen sein.“ 6

Im nächsten Stück, der Gustav Raeder-Posse Robert und Bertram oder Die lustigen Vagabonden, wird Renate als Zofe besetzt. Adolf Edgar Licho führt hier Regie. Paul Morgan und Franz Schulz haben das Stück für diese Inszenierung neu bearbeitet. Paul Graetz, Fritz Kampers, Erika Mann und Fritz Rasp stehen auf der Bühne - eine Elitebesetzung - und Renate Müller gehört jetzt schon dazu. Premiere ist am 5. Mai 1925 in der Komödie am Kurfürstendamm. Die Neufassung kommt trotz der routinierten Schauspieler nicht an und Fred Hildenbrandt urteilt im Berliner Tageblatt: „Auch wenn diese biedere alte Kutsche mit einigen aktuellen Witzen morganisiert und überschulzt und dann gewaßmannt und gegraetzt und noch gewangelt und durchflohrt wird. Was, ein moderner Motor, das rattert und knattert, aber der Chauffeur A. E. Licho schaltet zum Erbarmen, die morschen Bretter krachen, so knödelt das Gefährt mühselig vorbei, war es nicht entsetzlich langweilig? Wie, war nicht Carl Sternheim da, Oskar Wilde, Elisabeth Bergner, parodiert von Manfred Fürst, Wolfgang Hellert, Erika Mann? War nicht die Rede von Agnetendorf, Stresemann, Staatsanwälten, Präsidentenwahl? Aber Witze machen ist noch keine Bearbeitung. Gute Schauspieler reden lassen, noch keine Regie. Und eine weißhaarige Posse zum Jazz notzüchtigen, kein Heldenstück.“ 7

Auch Max Osborn, der ebenfalls zur Garde der angesehenen Berliner Theaterkritiker gehört, schreibt in der Berliner Morgenpost: „Ich habe das Gefühl, dass die Bearbeiter zu dem behaglich in sich ruhenden Volksstück einer weniger nervösen und gehetzten Zeit doch nicht die rechte innere Beziehung unterhalten. Nur so kann ich mir erklären, dass Morgan, der sonst in seinen vergnüglich gepfefferten Conferencen und Solonummern an witzigen und geistreichen Einfällen übersprudelt, vielleicht nicht über recht trockene Scherze hinauskam. Im Salon Ipelmeyer ging es sonst freilich lange nicht so belustigend zu, wie man erwartete. Karikaturen von Carl Sternheim, Oskar Wilde und Elisabeth Bergner blieben matt und wirkungslos. Amüsant war die Art, wie Lichos Regie die Gesangsposse in den Rahmen des zierlichen Raumes einspannte. Auch wie sie die Seitenlogen neben der Bühne mitbenutzte.“ 8

Inzwischen hat sich Renate wie besessen mit Haut und Haaren der Bühne verschrieben. Das Theater ist für sie wie ein Schlüssel zu ungeahnten seelischen Offenbarungen; hier entwickelt sie eine neue Sicherheit und lernt ihre Stimme und ihren Körper zu beherrschen. Die Zeit auf der Schauspielschule gehört zu den glücklichsten Lebensabschnitten in Renate Müllers Leben.

Bei einer Feier mit ihren theaterbesessenen Kommilitonen bekommt sie ihren ersten Schwips. Renate: „Ich hatte mir schon lange gewünscht, mal einen Schwips zu haben, so einen richtigen fidelen kleinen Schwips. Erstens, weil ich mir das reizend vorstelle, zweitens, weil ich der Überzeugung war, man müsse auch das mal durchgemacht haben. Als wir Schüler mal einen gemütlichen Bowleabend verabredeten, hielt ich die Gelegenheit für gekommen und verkündete laut, dass ich mir heute meinen garantiert ersten Schwips zulegen wolle. Der Abend wurde vergnügt und lustig und ich gab mich der Bowle mit Inbrunst hin - aber leider ohne Erfolg. Sei es nun, dass die Bowle zu schwach oder ich zu stark war, es gelang mir jedenfalls beim besten Willen nicht, irgendwelche Spuren einer leichten Umnebelung bei mir festzustellen. Jedes meiner Worte, jede Bewegung beobachtete ich aufmerksam, ging langsam durchs Zimmer, - nein, ich ging noch so sicher wie nur je. Resigniert kehrte ich zu meinem Stuhl zurück und - machte auf unsanfteste Art mit dem Boden Bekanntschaft. Schallendes Gelächter. ‚Erst den Stuhl wegziehen und dann noch auslachen, das ist eine Gemeinheit‘, schimpfte ich. ‚Wir den Stuhl? Aber Renate, Du hast einen Schwips.‘ Zur Versöhnung holte ich Werner Fuetterer zu einem Tanz. Und es stand auf - Ottuard. (Mit Namen Otto Eduard Hasse, einer der besten unseres Jahrganges.) ‚Nein, ich wollte doch mit Werner tanzen.‘ ‚Du hast aber mich aufgefordert.‘ ‚Nein Werner.‘ ‚Nein mich, scheinbar siehst Du nicht mehr deutlich.‘ Also das ging mir denn doch zu weit. Einen Blonden konnte ich doch schließlich noch von einem Dunklen unterscheiden! Was soll man aber machen, wenn alle einstimmig brüllen, ich hätte die beiden verwechselt? Ich bot den Wahrheitsbeweis an, dass ich nicht im mindesten beschwipst sei. Angenommen. Ich sollte auf einem Strich balancieren. Eine weiße Schnur quer durch das Zimmer bezeichnete meinen Leidensweg. Nanu, der Strich war doch eine Wellenlinie? Konnte ich wirklich nicht mehr richtig sehen? Ich faßte mich an den Kopf, zwickte mich in den Arm, also gefühllos war ich noch nicht, und das gute Köpfchen war auch noch da. Um mich herum todernste Gesichter. Schnurgerade, ich schien an mir selber zu zweifeln, nahm all meine Energie zusammen, spannte mein Rückgrat und die Beinmuskeln an und begann meinen Drahtseiltanz. Mit haarscharfer Genauigkeit setzte ich ein Bein vors andere und traf immer daneben. Die Linie unter meinen Füßen schien zu schwanken, bei jedem Fußtritt wich sie nach der anderen Seite aus. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Einmal drehte ich mich blitzschnell um, aber unbewegt saß Werner am Boden und hielt die weiße Schnur fest. Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er sie bei jedem Schritt hin und her zog, aber nie gelang es mir, ihn zu überführen. Ich hatte die Probe nicht bestanden. Und nun begann mein Leidensweg erst wirklich. Kein Widerspruch half. Mit sanfter Gewalt zog man mich aufs Sofa und verpackte mich unter drei Federbetten. ‚Das treibt am besten raus.‘ Jeder wußte noch ein anderes unfehlbares Rezept und im Laufe einer halben Stunde mußte ich folgende Heilmittel zu mir nehmen: 2 rohe Kartoffeln mitsamt der Schale, eine ausgepreßte Zitrone mit Pfeffer, drei Magenbitter mit Tomatenpüree (Prärieauster nannten sie das), einen Eßlöffel voll Salz nebst einer halben Zwiebel. Dazu unaufhörlich eiskalte Umschläge auf meine arme Stirn gepreßt, während mein Körper unter den Federkissen dampfte. All meine Abwehrversuche wurden energisch erstickt. Schließlich lag ich ganz apathisch da und ließ alles über mich ergehen, denn nun fühlte ich mich wirklich kreuzelend. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass alles Theater war. Trotzdem habe ich meinen Schwur gehalten. Denn niemals werde ich meinen ersten Schwips vergessen, der - in Wirklichkeit - gar keiner war.“ 9

Am 31. Mai 1925 geht das Schuljahr der Schauspielschule zu Ende. Zu der Abschlußaufführung kommen wie immer einige Theaterdirektoren und Agenten, um sich junge Talente auszusuchen. Fast alle Schauspielschüler finden dabei ein Engagement, der eine nach Greiz, der andere nach Schneidemühl, der dritte vielleicht nach Frankfurt am Main oder nach Breslau. Bei dieser Abschlußprüfung ziehen die Schülerinnen Evans und Müller das große Los, sie werden an Berliner Bühnen verpflichtet. Karin geht an das Deutsche- und Renate an das Lessing-Theater, das Arthur Hellmer gepachtet hatte.


Privatfoto aus dem Jahre 1926.

Doch bevor die neue Spielzeit in Berlin beginnt nimmt Renate ein Sommerengagement - vom 9. Juli bis 31. August - am Harzer Bergtheater, einer Freilichtbühne in Thale, an. Es ist die älteste Naturbühne Deutschlands. Dr. Ernst Wachler hatte sie 1903 nach dem Vorbild antiker Amphitheater in der Natur errichten lassen und formulierte seine Idee mit dem Werbespruch: „Hinaus ins Freie, in den Reichtum der Landschaft, dass ihr Duft und ihre Stimme hier auf den Zuschauer überfließe.“

Erich Pabst, der in Thale mit Dr. Wachler die Oberspielleitung übernommen hat, bietet einigen seiner Schüler die Möglichkeit, sich Bühnenerfahrung in der Provinz anzueignen. Mit von der Partie sind außer den ehemaligen Schauspielschülern Müller, Evans und Hasse, auch der Schauspiellehrer Lothar Müthel und die Schauspieler Kurt Arndt und Helmuth Rudolph.

Das Freilichttheater befindet sich auf dem Hexentanzplatz, am Osthang des Harzes, über Thale. Von dort hat man einen herrlichen Blick über die Ebene bis Magdeburg. Es ist nicht leicht für einen Anfänger auf dieser Bühne, die 1200 Personen faßt, zu bestehen. Sie hat riesige Ausmaße und natürlich keinen Vorhang. Die Gänge sind groß, die Gesten müssen ausdrucksstark sein, der Text muß besonders deutlich gesprochen werden, denn das Felsmassiv duldet keine falschen Töne.

Vor allem klassische Stücke werden hier gegeben, doch zum 60. Geburtstag des in Weimar lebenden Dichters Friedrich Lienhard, werden im Sommer 1925 auch seine Werke Gottfried von Straßburg, Heinrich von Osterdingen, König Arthur und Wieland der Schmied in Thale aufgeführt. Die achtzehnjährige Renate übernimmt in diesen Stücken, in denen es sehr teutonisch und mythologisch zugeht, die Rollen von schwertumgürteten deutschen Jungfrauen. Ihre interessanteste und größte Leistung in Thale ist aber die Rolle der Helena in Shakespeares Ein Sommernachtstraum. Das Publikum ist begeistert und die Kritiken erwähnen die Anfängerin lobend. Sogar überregionale Zeitungen, die sonst Provinztheaterleistungen keine Beachtung schenken, erwähnen diese besondere Leistung in Artikeln. Renate äußerte sich rückblickend über ihre Zeit in Thale kritisch: „Ich freue mich noch heute, dass ich nicht im Publikum sitzen mußte, um das mitanzusehen!“ 10

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Direktor Arthur Hellmer ist gebürtiger Österreicher und ist ebenfalls vom Theater besessen. Bereits im Jahre 1911 hatte er sein erstes eigenes Theater eröffnet, das Neue Theater, in Frankfurt am Main. In seinem Spielplan lag der Schwerpunkt auf der expressionistischen Dramatik. Hellmer hat ein Gespür für schauspielerisches Talent; auch die junge Helene Weigel gehörte zu seinen Entdeckungen, die er förderte.

Mitte der zwanziger Jahre versucht sich Hellmer auch in der Theatermetropole Berlin zu etablieren und pachtet drei Bühnen gleichzeitig: das Trianon-, das Kleine- und das Lessing-Theater. Das nahe der Kronprinzenbrücke, gegenüber dem Reichstag gelegene - 1889 mit Lessings Nathan der Weise eröffnete Theater - lebt von dem im Deutschen Theater erprobten Repertoire. 1925 sind an diesem renommierten Haus u. a.: Adele Sandrock, Olga Limburg, Lucie Höflich, Leopoldine Konstantin, Anton Pointner, Julius Falkenstein, Camilla Spira, Ida Wüst, Wilhelm Bendow und Albert Bassermann engagiert. Nach ihrem Thale-Gastspiel zählt nun auch Renate Müller zum Ensemble.

Renates erste Rolle an diesem Theater ist die einer belanglosen Hofdame in Edmond Rostands Der junge Aar (L’Aiglon). Rostands Historienspiel von dem „kleinen Adler“, dem Sohn Napoleons I, der so früh tragisch endete, ist eigentlich für das expressionistische Berlin nicht zeitgemäß. Aber da sich Klabund (Deckname des Schriftstellers Alfred Henschke) entschloß, es zu übersetzen, „kam doch ein Bühnenschmaus von mancherlei Reizen zu Tage.“ 11 Unter der Regie von Berthold Viertel lernt Renate viel. Während der Probenarbeit fällt dem Regisseur nicht nur Renates Talent auf, sondern auch, dass sie sich in ihrem Ehrgeiz nicht nur mit ihrem eigenen Text beschäftigt, sondern mit dem ganzen Stück, mit dem Autor und der Zeit, in der das Stück spielt.

Vierzehn Tage später bekommt Renate ihre große Chance: Kollegin Erika von Thellmann erkrankt und Renate kann ihre Rolle, die der schönen Tänzerin Fanny Elßler übernehmen. An der Seite von Lothar Müthel (Aiglon), Gerda Müller (Comtesse Camerata) und Dagny Servaes (Marie Louise) kann die junge Schauspielerin überzeugen. Renate liebt, lacht, weint und kämpft in ihrer Rolle und kann zeigen, dass sie die Grundlagen der Schauspielerei bei Reinhardt gelernt hat und umsetzen kann. Plötzlich springt der Funke über. Es ist jetzt ihre Rolle und Publikum und Direktion sind voller Anerkennung. Der Lokalanzeiger schreibt: „Berthold Viertel läßt alle Mimen des Theaters springen und erreicht einen stürmischen Erfolg damit. Eine Meisterleistung der Regie.“ 12 Und in der Vossischen Zeitung steht: „Applaus und Ovation ohne Widerspruch.“ 13 Auch das Berliner-Tageblatt spricht von einem „stürmischen Publikumserfolg dieses effektreichen Stückes.“ 14 Nachdem sich Erika von Thellmann am Theater zurückmeldet und ihre Rolle wieder übernimmt, kündigt Renate ihren Vertrag, da Direktor Hellmer ihr weder künstlerisch noch finanziell entgegenkommt, bzw. entgegen kommen kann. Hellmer konnte sich in Berlin nicht durchsetzen und gibt die Leitung des Theaters wieder ab.

Nichtssagende Rollen und zweite Besetzung sind für die ehrgeizige Renate nicht erstrebenswert. Sie sprüht vor Selbstbewußtsein, ist jung, schön, ehrgeizig und als der umstrittene Regisseur, Kritiker und Zeitschriftenherausgeber Joe Sherman das „Theater Junge Generation“ in der Klosterstraße 43. gründet, ist Renate voller Begeisterung mit von der Partie. Es ist ein Parallelunternehmen zur „Jungen Bühne“, die von Moritz Seeler geleitet wird.

Das Ensemble vom „Theater Junge Generation“ ist ein avantgardistisches Kollektiv, welches jeden Sonntagvormittag in einer Matinee ein Stück eines noch unbekannten Autors zu Uraufführung bringt. Selten vergeht so eine Aufführung ohne einen kleinen Theaterskandal und manchmal brauchen die Schauspieler viel Mut, um in dem Gelächter und Pfeifen weiterzuspielen. Die „Junge Generation“ will mit realistisch provozierenden Stücken die Fesseln des konventionellen Theaters sprengen. So kommt eine ganze Reihe seltsamer Erstaufführungen heraus, bei denen Renate trotzdem nicht unentdeckt bleibt. Man sieht sie in diesem Schauspielkreis in dem heute vergessenen Stück Brigitte von Albert Hirte, indem es sogar „blutschänderisch“ zugeht. Die Premiere findet am 29. November 1925 statt. Die Reaktion des Publikums ist geteilt, es ist entrüstet und amüsiert zugleich. Begeistertes Klatschen und gellendes Pfeifen. Das Stück kann schließlich nicht zu Ende gespielt werden. Berlin hat einen neuen Theaterskandal. Die Aufführung wird in den Zeitungen verrissen: „Wenn Lächerlichkeit töten könnte - Herr Joe Sherman wäre schon nach der Regie von ‚Klavier‘ nicht mehr am Leben gewesen. Gestern, wieder in einer Matinee, wieder in der Klosterstraße, prustete das Publikum, prusteten zum Schluß sogar die Darsteller. Das ‚Drama‘, das aufgeführt wurde, begab sich in zwei Teilen, hieß ‚Brigitte‘ und war von Albert Hirte. Unbeschreiblich. Unkritisierbar. Aber weiß man, ob der Autor das Stück überhaupt auf die Bühne, weiß man, ob er es in dieser Gestalt auf die Bühne lassen wollte? Was Herrn Sherman in die Hände fällt, ist verloren. Diesmal versteckte er seinen Namen. Diesmal verkroch er sich hinter den Inspizienten. Diesmal schien nur wie zufällig ein Teil der Presse benachrichtigt zu sein. Diesmal machte Herr Sherman Vertuschungsmanöver. Die Sonntag-Mittag-Existenz des Herrn Sherman könnte gleichgültig sein, wenn der Grad der Dreistigkeit, mit der hier die Öffentlichkeit belästigt wird, nicht an die Folgen denken ließe. Herr Sherman ist der neue Rottertyp. Er wollte sich zuerst auffällig im Theater festsetzen. Es mißlang. Jetzt wählte er die anonyme Methode. Er verwischt die Spuren. Er wanzt sich heimlich ein. Er macht sich an Unzufriedene heran, um schließlich nach zäher, bohrender Vorarbeit mit einem Konzessionsgesuch hervorzutreten. Als die Revolution kam, benutzten die Rotters die allgemeine Verwirrung, um, gestützt auf die Gutachten der um ihre Existenz besorgten Schauspieler, ihre Konzessionsfähigkeit durchzusetzen - trotz ihrer Vergangenheit. Auch Herr Sherman wird im Zustand einer allgemeinen Verwirrung, gestützt auf die Gutachten unzufriedener Schriftsteller und Schauspieler, die er zuerst ‚ans Licht zog‘, sich als Direktor aufspielen wollen - trotz seiner Vergangenheit. Fähigkeit löscht jede üble Vergangenheit aus. Unfähigkeit bestätigt sie. Herr Sherman bestätigt durch seine Gegenwart seine Vergangenheit.“ 15, kommentiert Herbert Jhering, der führende Theaterkritiker vom Berliner-Börsen-Courier. Renate Müller erntet trotzdem Anerkennung und Sympathie, und diese kommt von dem gefürchteten Alfred Kerr, der süffisant in seiner Besprechung bemerkt: „Die Brigitte spielt ein Fräulein Renate Müller. Man wird sich den Namen Müller merken müssen!“

Sherman läßt sich nicht entmutigen und bringt ein weiteres provokantes Stück heraus, das überhaupt keinen Namen trägt, sondern nur mit + + + bezeichnet wird. Mit dieser Aufführung versetzt Sherman sich den Todesstoß, sein Theaterunternehmen bricht mitten in der Saison zusammen. Einige Schauspieler stehen nun, wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, ohne Engagement da. Renate: „Für mich fielen immerhin einige gute Kritiken dabei ab, die mir meine erste Bombenrolle verschaffte.“ 16

Renate hat in dieser Zeit viele Männerbekanntschaften, die eine oder andere Affäre, will aber von einer festen Beziehung nichts wissen, denn sie lebt nur für das Theater, das wie ein Lebenselixier auf sie wirkt. In der Welt des Theaters kann sie der Wirklichkeit entfliehen. Die noch nicht Volljährige ist flügge geworden und ist aus der Wohnung ihrer Eltern ausgezogen. In Berlin-Wilmersdorf mietet sie ihre erste eigene Wohnung, in der Nachodstraße 28. Die Eltern stehen ihr dabei nicht im Wege und unterstützen ihre Tochter in all ihren Plänen. Und als Renate voller Stolz die Familie zum erstenmal zu sich zum Tee bittet, versichert sie ihnen: „In zwei Jahren muß ich prominent sein!“ - Ein Vorsatz, den Renate auch glücklich und viel umfassender in die Tat umsetzen wird, als ihr damals überhaupt bewußt sein kann. In der Gegenwart muß Renate aber erst einmal darangehen, die Miete zu verdienen. Möglichkeiten gibt es für dieses attraktive Mädchen mit den hübschen Beinen genug. Ihre Qualitäten werden nicht nur als Schauspielerin erkannt, sondern auch als Photomodell. Renate macht Reklame für Modeartikel. Sie ist ein Energiebündel und überaus beliebt. Mit ihrer Fröhlichkeit und Herzlichkeit steckt sie ihr Umfeld an. Schwester Gabriele erinnert sich: „Einmal saß ich mit ihr - damals war sie noch nicht prominent - in einem Kabarett und der Conférencier erzählte Geschichten, die ich gar nicht so furchtbar witzig fand. Aber Renate lachte so fröhlich und hell, dass es die gemäßigte Heiterkeit des Publikums übertönte. Alles schwieg, der Conférencier machte eine minutenlange Pause und dann lachte plötzlich der ganze Saal wie im Chor, angeführt von Renates hellem Solo, und die etwas müde Premierenstimmung dieses Kabaretts war gerettet.“ 17

Theaterdirektor Victor Barnowsky, der die Ambition hegt, ein zweiter Reinhardt zu werden, hat Renates künstlerische Entwicklung verfolgt und verpflichtet sie an sein Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Sie soll als Nachfolgerin Erika von Thellmanns die Rolle der Liedersängerin Tilly Hasselberger in der Komödie Der Garten Eden von Rudolf Bernauer und Rudolf Oesterreicher übernehmen. In vier Kapiteln werden Szenen aus dem Leben eines „unanständigen Mädchens“ gezeigt. Renate spielt an der Seite so großartiger Schauspieler wie: Georg Alexander, Heinrich Schroth, Olga Engel, Hilde Körber, Ilka Grüning und Hilde Hildebrand. Monatelang steht die neunzehnjährige Renate jeden Abend als Tilly auf der Bühne. Das ist eine neue Herausforderung, die der jungen Künstlerin viel Freude macht. Sie tanzt, weint und reißt das Publikum mit. In den Gazetten ist zu lesen: „Ein Riesenerfolg. So das richtige Stück für Berlin. Gemütvoll, phantastisch, kühn, mondän und witzig. Und trotz aller Unwahrscheinlichkeiten voll viel echten Lebens. In der Hauptrolle eine Schauspielerin, die Begeisterungsstürme erntet und verdient: Renate Müller.“ 18


Renate Müller in den zwanziger Jahren.

Renates Ehrgeiz wird nun weiter gewaltig angespornt, da sie nach jedem Aktschluß ein dutzendmal oder mehr vor den Vorhang muß. Barnowsky behält sie nach diesem erfolgreichen Gastspiel in seinem Ensemble. Ab und an wird ihr Talent auch in tragischen Rollen gefordert, wie bei der Uraufführung 1926 von Georg Kaisers Zweimal Oliver im Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie neben dem begnadeten Alexander Moissi und Max Gülstorff, ihrem ehemaligen Schauspiellehrer, wirken kann. Doch vorwiegend wird die vielbeschäftigte Schauspielerin in modernen Gesellschaftskomödien oder in Schwänken eingesetzt. Auch andere Berliner Bühnen locken mit neuen Theaterangeboten; so arbeitet Renate unter anderem bei Direktor Theodor Tagger im Theater am Kurfürstendamm und am Renaissance-Theater in der Hardenberg-/Ecke Knesebeckstraße. Sowie bei Heinz Saltenburg, der das Deutsche Künstler-Theater in der Nürnberger Straße 70/71 leitet.

Karheinz Martin inzeniert einen Wedekind-Abend und präsentiert im Renaissance-Theater dem Berliner Publikum eine glanzvolle Besetzung: Tilla Durieux, Valeska Gert, Margo Lion und Renate Müller. Der Dreizehnte Stuhl von Bayard Veiller heißt das Stück, das Erich Pabst ebenfalls im Renaissance-Theater herausbringt. Diesmal steht Renate mit Rosa Valetti, Lotte Stein und Hans Leibelt auf der Bühne. Nach diesen ersten Erfolgen ist die junge Schauspielerin in der Berliner Theaterszene bekannt geworden. Auch die Kritiken sind für Renate meist wohlmeinend und erfolgversprechend. In einer Besprechung heißt es: „Eine schöne Hoffnung für größere Aufgaben scheint Renate Müller zu sein. Ihre blendende Erscheinung hindert sie nicht an einer künstlerisch tief empfundenen Leistung. Sie hatte den einzigen menschlichen Ton in dieser Aufführung.“

* * *

Renate klettert in den folgenden Monaten die Karriereleiter immer weiter hinauf. Ihre Einkünfte erlauben es ihr nun, einen neuen Wohnsitz zu nehmen: Kaiserallee 171, ebenfalls in Berlin-Wilmersdorf (westlich von Schöneberg). Seit Herbst 1927 gehört sie zum Verband der Saltenburg-Bühnen, zu dem auch das elegante Lustspielhaus am unteren Ende der Friedrichstraße gehört. Geleitet wird es vom Doktor der Germanistik, Martin Zickel, der bereits um die Jahrhundertwende die „Sezessionsbühne“ am Alexanderplatz, ein Theater mit Niveau, gegründet hatte. In der aktuellen Theaterszene ist er für seine häufig wechselnden Amouren bekannt und verschrien.

An diesem Hause hat Renate Müller am 21. Dezember 1927 ihre nächste Premiere: Unter Geschäftsaufsicht heißt der Schwank von Franz Arnold und Ernst Bach, der eigens für das Zugpferd des Theaters, den Komiker Guido Thielscher, geschrieben wurde.

Wie alle „richtigen“ Berliner kommt Thielscher aus Schlesien. Der kleine, kugelrunde Mime gehört zu den populärsten Künstlern Berlins. Sein Handwerk hat er beim Zirkus gelernt, als Artist. 1877 trat er im Berliner Belle-Alliance-Theater zum ersten Mal als Schauspieler auf. Dann folgte das Central-Theater. Aufsehen erregte Thielscher, als er an das Deutsche Theater verpflichtet wurde. Hier spielte der Possen-Komiker in Werken von Fulda, Schnitzler, Sudermann, Hauptmann und Ibsen, ein Beweis für seine schauspieleriche Vielseitigkeit. Später kehrte er zur Posse und zum Schwank zurück und wurde mit Charly’s Tante zum absoluten Liebling der Berliner.

In Unter Geschäftsaufsicht spielt Guido Thielscher den Buchhalter Haselhuhn aus Merseburg, der in einem Geschäft Ordnung schaffen soll und natürlich nur Unordnung hinterläßt. In gewagten Situationen, hart an der Grenze zum Schmierentheater, entfaltet er seine entwaffnende Liebenswürdigkeit und die ihm eigene Drollerie. Ein Lächeln, ein Zucken der Mundwinkel genügen und Thielscher versetzt sein Publikum in unbändige Heiterkeit. Renate spielt wieder die Rolle einer eleganten Dame, diesmal mit Namen Puffy. Mit ihren Reizen sorgt sie für allerlei Verwirrung. Olga Limburg, Käte Lenz und Hans Zesch-Ballot sind ebenfalls mit von der Partie. Franz Arnold inszeniert mit viel Humor und Leichtigkeit, so dass das begeisterte Publikum aus dem Lachen nicht heraus kommt. Das Stück wird zum Dauerbrenner in der Berliner Theatersaison. Thielscher wird von den Kritikern wie immer gelobt und über Puffy ist zu lesen: „sehr natürlich und anmutig die blonde Renate Müller.“ 19

Es gibt aber auch kritische Stimmen, die sich darüber wundern, dass Renate Müller sich für diese „Klamotte“ hergibt. 20

Thielscher ist von Renate angetan, und als er am 27. März 1928 sein 50-jähriges Bühnenjubiläum feiert, bittet er sie nach der 100. Aufführung von Unter Geschäftsaufsicht auch im anschließenden Nachtkabarett des Lustspielhauses mitzuwirken. Als sogenanntes „Thielscher-Girl“, in einer zwölfköpfigen Tänzerinnentruppe des Impresarios Thielscher, steht sie zusammen mit Alice Hechy, Trude Hesterberg, Charlotte Ander und Marlene Dietrich auf der Bühne.


Presseanzeige zum Theaterstück,1927.

Die Berliner Morgenpost schreibt: „Wer ‚unser Guido‘ ist, braucht man keinem Berliner zu erzählen. Seit 50 Jahren ist unser Guido Thielscher ein Stück Berlin und wenn Paul Morgan ein Quodlibet dichtet, dessen Titel kurz und bündig ‚unser Guido‘ heißt, so braucht es keinen Kommentar und keine Erklärung dazu. ‚Unser Guido‘ war eine der Attraktionen, die den Gästen bei dem Nachtkabarett nach der Thielscherfeier im Lustspielhaus vorgesetzt wurden. 25 der größten Kanonen, alphabetisch von Adalbert bis Westermeier geordnet, führen auf, um unseren Guido liebevoll zu seinem Jubiläum zu veräppeln. Wir haben Tränen gelacht, Thielscher mit an der Spitze. Als Conferencier wirkte Willi Schaeffers, aufgemacht als Thielscher-Imitation in

‚Charlys Tante‘, von zwerchfellerschütternder Komik. Dann Paul Grätz, Willy Prager, Otto Reutter! Eine ununterbrochene Kette von Superlativen der Brettlkunst. Aber den Vogel schossen doch wohl die Thielscher-Girls ab, auch wieder die größten Kanonen, ebenfalls alphabetisch geordnet, zwölf Schönheiten, von Charlotte Ander und Marlene Dietrich bis Renate Müller und Molly Wessely. Unser Guido war begeistert als die Girls mit dem Chor schlossen: ‚Und zum Schluß und zum Schluß gib uns jeder einen Kuß!‘ Das ließ sich Thielscher nicht zweimal sagen. Raus aus der Loge, rauf auf die Bühne, und da die ganze Reihe durchgeküßt.“ 21


Thielscher Girls:

Charlotte Ander, Marlene Dietrich und Renate Müller. Berlin, Lustspielhaus 27. März 1928.

Zickel bringt Renate auch in der deutschen Erstaufführung des amerikanischen Gesellschaftsstücks Trixie, von Cosmo Hamilton, heraus. In New York hatte das Lustspiel einen Aufführungsrekord erreicht, nun soll es in Berlin ebenfalls ein Renner werden. Renate spielt die Titelrolle: Beatrix Vanderdyke (Trixie) ist eine mondäne extravagante Millionärstochter mit Herz, aber auch Launen, die Abenteuer sucht. Als sie von ihrer Familie zu ungewöhnlicher Stunde im Atelier eines Malers von üblem Ruf erwischt wird, rettet sie sich mit dem Schwindel, sie sei mit Pelhem Franklin (gespielt von Johannes Riemann) heimlich verheiratet. So unsinnig wie die Konstruktion der Handlung ist ihre Fortführung. Die beiden spielen nach außen Eheleute und raufen sich, wenn sie alleine sind. Riemann hat in seiner Rolle die Zähmung einer Widerspenstigen von heute zu vollziehen und Renate sorgt auf der Bühne wieder für Spaß, Stimmung und einem Schuß Sex-Appeal. Ihre Partner sind Harry Hardt, Olga Engel und der bereits erwähnte Johannes Riemann, ein junger und schon bekannter Schauspieler, mit dem sie oft vom Film spricht, zu dem sie noch keine richtigen Verbindungen hat. Die Premiere von Trixie findet am 1. September statt. Die Produktion wird freundlich besprochen, ist aber abgesehen von der prominenten Besetzung kein Ereignis. Max Osborn in der Berliner Morgenpost: „Die zwei Schauspieler, von denen die Aufführung getragen wird, und die mit ihrem Temperament und ihrer Liebenswürdigkeit dem Abend wahrhaftig zu so etwas wie einem Erfolg verhalfen, hatten hier die beste Laune: die hübsche, gutgewachsene, von Herzen anmutige Renate Müller mit dem Köpfchen eines amerikanischen Farbendruckplakats, und Johannes Riemann, der die Sache mit annehmbarer Routine abmachte.“ 22


Renate Müller mit Max Gülstorff in „Zweimal Oliver“, Theater in der Königgrätzer Straße, 1926.

Im Lokalanzeiger ist zu lesen: „Ein flottes, elegantes und liebenswürdiges Spielchen, das seine besondere Bedeutung für Berlin lediglich deswegen hat, weil Renate Müller mit der Gestaltung dieser Rolle in die erste Reihe der Darsteller gerückt ist. Da sie neuen und allerneuesten Ansprüchen an die Frauenfigur vollkommen genügt, wurde ihr der Erfolg etwas leicht gemacht. Aber sie ist im Zusammenspiel mit Riemann wirklich erstklassig. Ihre charmante Pikanterie, ihr Temperament, das einmal bis ins leicht Grobe schäumt, ihre nicht nur sympathische, sondern auch gut angewandte Sprache sind Buchungen auf dem Pluskonto des Abends.“ 23 Und der Berliner-Börsen-Courier spricht über „die junge Renate Müller, eine frische, begabte, temperamentvolle Schauspielerin“. 24


Mit Johannes Riemann in „Trixie“, 1928

Der Berliner-Lokalanzeiger fragt in seiner Ausgabe vom 17. September 1928 bekannte Schauspielerinnen der Stadt: „Was tun Sie, wenn Sie nicht Theater spielen?“ Auch Renate Müller wird interviewt: „Eine Dame von Welt, elegant und mondän. Sie spielt auf der Bühne schöne Frauen, also sich selbst. Gegenwärtig im Lustspieltheater, bald aber bei Jessner im Schauspielhaus. ‚Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich den Weg zum Theater fand, denn ich stand bereits vor meinem Abitiurium, als mich diese Leidenschaft packte. Zuerst wollte ich Sängerin werden, und nur, um mich mimisch und darstellerisch auszubilden, ging ich in die Schauspielschule Reinhardts, wo ich, wie es gewöhnlich geschieht, eines Tages entdeckt wurde und plötzlich auf der Bühne stand als Fanny Elßler in ‚L’Aiglon‘. Was ich am liebsten tue, wenn ich nicht Theater spiele? Ach, es wäre so schön, den Vormittag zu verschlafen, um abends wieder lustig zu sein. Aber ich habe keine Zeit dazu und tausend Pläne im Kopf. Ich will meine Gesangstudien fortsetzen, ich will Englisch lernen, Tennis spielen, Auto fahren, Bücher lesen. Ich möchte so viel tun ... aber der Tag ist ja so kurz. Was ich liebe? Blumen, ein neues Kleid, meinen Balkon, die Gegenwart und die Zukunft. Was ich erstrebe: Erfolg auf der Bühne. Und was ich mir wünsche? Alles oder nichts!“

Am 2. Oktober folgt eine weitere Premiere: Ladislaus Fodors Arm wie eine Kirchenmaus. Der ungarische Autor schildert die Geschichte eines jungen Mädchens, arm wie eine Kirchenmaus, aber redegewandt, unerschrocken, und fabelhaft tüchtig, die sich eine Sekretärinnenstellung bei einem erfolgreichen Bankpräsidenten erkämpft und schließlich auch sein Herz erobert. Am Schluß wird sie von ihm sogar geheiratet.

Der Inhalt dieses Lustspiels hat große Ähnlichkeit mit dem Drehbuch zu dem Tonfilm Die Privatsekretärin, mit dem Renate Müller später einen Sensationserfolg erzielen wird. In der erfolgreichen Bühnenfassung (von Siegfried Geyer) spielt Erika von Thellmann die Hauptrolle, der Susie Sachs. Renate sehen wir als Sekretärin Olly, die ihren Bankdirektor (gespielt von Johannes Riemann) „erotisch irritiert und glaubhaft verkörpert.“ 25

* * *

Am Staatstheater


Das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt

Im Herbst 1928 schließt Renate Müller einen Vertrag mit dem Preußischen Staatstheater. Es ist die Krönung ihrer Bühnenlaufbahn, denn diese Bühne haben die erlauchtesten Vertreter der deutschen Schauspielkunst betreten, es ist gewissermaßen „geheiligter Boden“. Hier ein Engagement zu bekommen bedeutet den künstlerischen Durchbruch erreicht zu haben. Seit 1919 wird das Theater im Schinkel-Bau am Gendarmenmarkt von Leopold Jessner geleitet, der seit seinem Amtsantritt die Konservativen gegen sich hat, da nun „die letzte christliche Direktion“ im Berliner Theater in jüdischen Händen ist. Jessner versteht das Theater als „Stätte der Erhebung, der edlen Unterhaltung“, trotzdem bleibt der neue Intendant in den kommenden Jahren für die „Völkischen“ der „artfremde Kulturjude“. In Theaterkreisen gilt er als Rivale und Gegenspieler Max Reinhardts. Mit einer Aktualisierung seines Klassikerrepertoires will Jessner seinem Haus einen Bezug zur Gegenwart geben. Er setzt große Regieakzente und erreicht sein erklärtes Ziel, das Staatstheater mit höchsten Ansprüchen zu führen. Bereits sein 1919 aufgeführter Wilhelm Tell wurde zum Freiheitsschrei gegen Staatstyrannei und spiegelte die Nachkriegssituation in Deutschland wider. Berühmt und stilbildend wurde jedoch seine Inszenierung von Shakespeares Richard III. (1920) wo der Übergang vom Bühnenbild zur Bühnenarchitektur wahre Triumphe feierte. Er suchte durch symbolische Mittel (z. B. die Treppe als Spielfläche) die Idee eines Stückes deutlich zu machen. In seinen Inszenierungen ist Jessner besessen von seinen Visionen, die auch seine Schauspieler mitreißen. Diese Wirkung liegt im Unerklärlichen, Aufrüttelnden, das bezwingt und den Eindruck der Einmaligkeit hervorruft. Für eine junge Schauspielerin wie Renate Müller ist das die Erfüllung schlechthin, und Intendant Jessner gibt ihr die Möglichkeit, sich an seinem Haus weiter freizuspielen und ihr Können zu verfeinern.

Renates erster bedeutender Bühnenauftritt unter Jessner ist gleichzeitig auch ein Stück Theatergeschichte. Für den am 11. Februar 1929 verstorbenen Schauspieler und Maler Albert Steinrück gibt das Staatstheater am Gendarmenmarkt eine Gedächtnisvorstellung von Wedekinds Der Marquis von Keith. Steinrück hatte sein Leben lang aus dem Vollen gelebt und so wenig an den Tod gedacht, dass nun das Geld für seine Beerdigung fehlt. Daraufhin setzt die Bühnengenossenschaft eine Benefiz-Veranstaltung an.

Es wird ein Stück von Frank Wedekind ausgewählt, weil Steinrück in seiner großen Münchner Zeit, der Zeit des „Simplicissimus“, der erste wirklich überzeugende Marquis von Keith war und Wedekind den Freund „meinen einzigen Schauspieler“ nannte. Herbert Ihering: „Für ihn hatte Steinrück die sachliche Härte der Diktion, die Knappheit der Gebärde und hinter dem lehrhaften, beinahe moralisierenden Fanatismus die Magie der einsamen Persönlichkeit.“


Schauspielerin am Staatstheater in Berlin, 1929. Foto: Binder, Berlin.

Jessners Inszenierung wird nur ein Mal am 28. März in einer Nachtvorstellung aufgeführt. Es ist das gesellschaftliche Ereignis, an dem die Hautevolee von Berlin teilnimmt. Im Parkett, in den Rängen, bis zur Galerie hinauf, sieht man viele bekannte Gesichter. Darunter Oberbürgermeister Gustav Böß, Max Reinhardt und Albert Einstein. Im Foyer wird eine Schauspielerin von einem Reporter gefragt, ob sie nicht auch auf der Bühne mitwirke. Sie antwortet: „Ich bin nicht prominent genug, um zu statieren.“ Kurz vor halb zwölf tritt Heinrich Mann vor den Vorhang und spricht einige herzliche Worte in Erinnerung an den toten Freund.


Programm der Gedächtnisfeier für Albert Steinrück vom 28. März 1929.

Dann steigt die Komödie. Alles, was in der deutschen Theaterwelt Rang und Namen hat, nimmt an dieser Aufführung teil und das Publikum schwelgt in Berühmtheiten, die sich kaum zählen lassen. Von Werner Krauss, Heinrich George, Otto Wallburg, Conrad Veidt, Fritz Kortner, Paul Wegener bis Rudolf Forster. Von Elisabeth Bergner, Carola Neher, Tilla Durieux bis Mady Christians. Je größer die Prominenz, je kleiner die Rolle: Fritzy Massary und Käthe Dorsch spielen Dienstmädchen. Trude Hesterberg und Tilly Wedekind agieren als Bäckerweiber. Auf dem Programmzettel ganz unten - drei Kellner: Hans Albers, Ernst Deutsch und Kurt Goetz. Je entfernter von der Haupthandlung, um so mehr Freiheit zu improvisatorischer Laune.

Als Gäste des Marquis von Keith stehen auf der Bühne u.a.: Asta Nielsen, Henny Porten, Maria Koppenhöfer, Elsa Wagner, Paul Otto, Mathias Wiemann, Marlene Dietrich und Renate Müller. Jessner hat Mühe seine Schauspieler zu zügeln, sie sind so spielfreudig, dass sie fast an Wedekind vorbeispielen. Der Hilfsinspektor ist Karlheinz Martin, das Bühnenbild stammt von Ernst Pirchan und die Bühnenmusik liefern die Weintraub Synkopators. Dem Ehrenausschuß gehören an: Victor Barnowsky, Georg Bernhard, Albert Einstein, Gustav Hartung, Max Liebermann, Reichstagspräsident Paul Löbe, Max Reinhardt, Werner von Siemens, Franz Ullstein, Bruno Walter und Theodor Wolff. Auch finanziell wird der Abend ein ungewöhnlicher Erfolg. Die Einnahmen kommen der Witwe Steinrücks sowie engagementlosen Schauspielern zugute.

Renate kann sich nun im Kreis der berühmtesten Berliner Bühnen- und Filmstars mühelos behaupten. Sie hat sich zu einer emanzipierten Frau entwickelt, die nach ihren eigenen Regeln lebt und handelt. Sie ist vielbeschäftigt, besucht häufig Nachtclubs und ist gern gesehener Gast auf jeder Party. In ihrer neuen Wohnung in der Landshuter Straße 27 veranstaltet sie Künstlerfeste, wo sich dann etwa dreißig bis vierzig Personen versammeln: Schauspieler, Filmleute, Musiker, Journalisten, Maler. Zu ihrem Freundeskreis gehören u. a. Fritz Lang, Carl Froelich, Otto Wallburg, Robert Siodmak und natürlich Karin Evans.

Renate Müllers Karriere verläuft weiter zielstrebig, sie wird jetzt in mehren Stücken eingesetzt und überzeugt durch ihre Wandlungsfähigkeit. Sogar Kerr richtet sein Augenmerk verstärkt auf die junge Schauspielerin - und das hat seinen Grund.

Der spätere Feuilltonchef des renommierten Berliner Tageblatts, Fred Hildenbrandt, erinnert sich: „Eines Vormittags kam er (Dr. Karl-Eugen Müller) in mein Zimmer, nahm das Einglas aus dem Auge, klemmte es wieder fest und sagte zu meiner Überraschung: ‚Hören Sie mal, ich habe gehört, Sie tanzen gern. Meine beiden Töchter geben am Samstag ein gewaltiges Atelierfest. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie hin.‘ - Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass der Kollege Dr. Müller Töchter hatte. Ich dachte sofort, es müßten hübsche Töchter sein. Denn sonst wäre Dr. Müller mit seinen Einladungen sparsam gewesen. Ich sagte blindlings zu. Denn damals war in Berlin die große Zeit der Budenzauber, der Kostümfeste und besonders der Atelierfeste, und dafür war ich immer zu haben. Das Atelierfest bei Müllers war großartig. Es hatte das gewisse Etwas, das man lange nicht bei allen solchen Abenden vorfand. Dieses gewisse Etwas war stets das Entscheidende. Es kam meistens von den Gastgebern und bereitete unverzüglich vom ersten Moment an gute Laune und Heiterkeit. Die beiden Müllerstöchter Renate und Gabriele strömten gute Laune und Zutraulichkeit und Unbekümmertheit und Herzlichkeit mit solcher Heftigkeit aus, dass es Überwindung kostete, nicht kurzerhand aller beider Lippen zu küssen, ganz egal, was es dabei absetzen konnte. Sie kennenzulernen, machte die nachglühende Schönheit vieler versäumter Augenblicke wieder gut. Karl-Eugen Müller seinerseits hatte jedem Gast strikt verboten etwas mitzubringen, er hatte selber für auserlesene Getränke gesorgt, und in solchen Auslesen war er ein anerkannter Fachmann. Des lauten Lobes war kein Ende. Und auch des Tanzens war kein Ende. Gleich bei der ersten jungen Dame, die ich aus dem Gewühl griff, erschrak ich ein bißchen. Sie hatte nichts an. Das heißt, sie hatte doch etwas an, denn so zügellos ging es bei Müllers nicht zu. Aber die schlanke Schönheit, mit der ich tanzte, nein, sie konnte einfach nichts anhaben. Aber sie hatte doch etwas an. Etwas Purpurrotes. Doch es war so dünn, dass sie einfach nichts anhatte, wenn man mich recht verstehen will. Und sie tanzte so eng, dass mir Hören und Sehen verging, obwohl mein Beruf mir Hören und Sehen zur ersten Pflicht machte. Dann holte ich mir, nach Luft schnappend, Renate. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie war eine Schönheit, wunderbar gewachsen, mittelgroß, von zarter Üppigkeit der Formen, wenn es so etwas wie zarte Üppigkeit überhaupt geben sollte, sie war vergnügt, sie war außerordentlich witzig, sie war sehr klug, sie hatte alle meine Aufsätze gelesen, wovon ich ihr kein Wort glaubte. Und sie hatte etwas an. Gabriele, war dunkelhaarig mit Augen wie Blendlaternen und der erloschenen Stimme einer verlorenen Seele. Aber diese verlorene Seele sagte wunderbare Dinge, und wenn ich nur drei ihrer Sätze behalten hätte, wäre ich als Schriftsteller ein gemachter Mann.

Wie bei allen solchen Festen wurde jeder mit jedem für diesen Abend per du. Ich fragte Renate: ‚Was tust du eigentlich so im Leben?‘

Sie sah mich geradezu erschrocken an: ‚Das weißt du nicht? Das hat Vater dir nicht gesagt? Ich bin Schauspielerin bei Jessner am Staatstheater.‘

Ich sagte: ‚Ach du meine Güte.‘ Ich traute nämlich Schauspielerinnen nicht über den Weg, Ich war und bin mit vielen befreundet. Aber ich traute keiner. Renate sagte: ‚Ich bin natürlich noch nichts. Ich bin eine Null. Aber in ein paar Tagen haben wir Premiere. Und da hat mir Jessner, der Gute, eine kleine Rolle gegeben, meine erste Rolle.‘

Ich sagte: ‚Jessner, der Gute. Hoffentlich kannst du was.‘

‚Wer schreibt bei euch die Kritik?‘ fragte sie und sah mich erwartungsvoll an.

‚Ich nicht.‘ - Ich wußte übrigens nicht, wer die Kritik schreiben würde.

Entweder war es unser Höllenhund Alfred Kerr oder unser herzensguter Fritz Engel.

Ich sagte: ‚Glaubst du, dass du etwas kannst?‘

Sie lachte etwas zerfahren. ‚Du bist gut! Ich bin eine besessene Schauspielerin. Weißt du, was das heißt? - Das heißt, dass ich sogar, wenn ich nichts könnte, glauben müßte, dass ich etwas kann. So verrückt bin ich.‘

Ich sagte: ‚Du meine Güte!‘ Denn alle Schauspielerinnen waren verrückt. Ich sagte: ‚Und was hast du in deiner Rolle zu tun?‘

‚Ein paar Sätze zu sprechen. Und dann muß ich ein bißchen tanzen.‘

Ich sagte nichts. Es war zu wenig, als dass man hätte etwas sagen können. Plötzlich fuhr sie mich an und kniff mich in den Arm: ‚Glaubst du, Kerr geht hinein?‘

Ich wußte es nicht, aber ich begriff das Schwergewicht dieser Frage. Unser aller herzensguter Fritz Engel war der Senior in der Theaterkritik, ein älterer milder, sehr korrekter, sehr liebenswürdiger Kollege. Seiner ganzen Wesensart nach räumte er in den Theatern und unter den Ensembles nicht mit dem Flammenwerfer auf, noch sang er gewaltige Hymnen mit Orgelwucht. Alfred Kerr aber mit seinem brennenden Temperament, mit seinem wütenden Elan, mit seiner glühenden Unbedingtheit war das große Kritikergenie des ganzen Reiches, ein Klassiker, wofür ich ihn heute noch halte und immer halten werde. In seinen leidenschaftlichen Händen konnten Leben oder Tod, Triumph oder Vernichtung eines Stückes liegen, und er war das schwarze oder das heitere Los der Schauspielerschaft. Seine ätzende Ironie (der Kern seiner Begabung), seine profunde Sachkenntnis und ein traumhaft sicherer Instinkt für Talente, Halbtalente, Bluffer und Nichtskönner waren unangreifbar und wurden nur von Schwächeren seines Berufes bestritten. Seine unbekümmerten, oft von neuen Worten und Begriffen, die es bisher in deutscher Sprache nicht gegeben hatte, funkelnden Lobgesänge vermochten sozusagen über Nacht eine unerwartete Karriere zu begründen. Das wußte ich, das wußte Berlin, das wußte jedermann, und das wußte auch Renate Müller.

Sie sagte: ‚Ich wollte, Kerr ginge hinein.‘

Ich sagte ziemlich zögernd: ‚Hör mal, du Schlange, ich werde mich erkundigen, ob Engel oder Kerr schreibt. Und wenn ich dich anrufe und sage Kerr, und du bekommst Zustände, ist das deine Sache.‘

‚Zustände habe ich sowieso.‘

‚Dann bist du abgehärtet.‘

Wir standen aus der Ecke auf, in der wir uns unterhalten hatten, nur gestört von den Liebkosungen, denen sich dicht bei uns zwei junge Leute hingaben.

‚Verdammt noch mal‘, sagte ich, ‚habt ihr alle so schöne Brüste?‘ Renate sagte: ‚Ja, alle.‘

Rings um mich entdeckte ich nämlich in diesem Moment, dass alle Mädchen und Frauen hier auserlesene Busen besaßen. Auch Renate - auch Renate.

Ich grübelte, während wir tanzten. Ich hätte gern irgend etwas für Renate getan. Aber was? Ich dachte, wenn sie auf der Bühne denselben Charme zeigt, den sie hier hat, wenn sie auf der Bühne genauso landfrisch, so hübsch aussah, wenn sie genauso natürlich und unbefangen blieb wie an diesem Abend, dann mußte vielleicht diese wirklich reizende Person auch in einer kleinen Rolle Erfolg haben. Wenigstens einen kleinen, wenigstens ein bißchen. Und Alfred Kerr behielt oft Kleinigkeiten, die ihm gefallen hatten, im Gedächtnis, Kleinigkeiten, die schwachen Kritikeraugen nicht auffallen. Dass ihm solche Kleinigkeiten auffielen, war Glückssache.

Ich grübelte, Renate an meinem Herzen, während wir tanzten. Und ich grübelte lange.

‚Es ist hübsch, dass du nicht sprichst, während wir tanzen‘, sagte die Müllerstochter.

‚Oh Gott‘, sagte ich, ‚rede um Himmels willen bloß nicht so viel.‘

Ich war mit mir einig geworden. Ich hatte mich zu einer ganz und gar unausdenkbaren, unmöglichen und lebensgefährlichen Unternehmung entschlossen, wobei ich an das uralte Wort dachte: Schlage dich nur tapfer durch, wer auch dabei geschlagen werde. Meine Freunde, haltet die Luft an! - Am anderen Morgen, dem Tag der Premiere, ging ich einen Stock höher. In das kleine Zimmer, in dem der Dr. Kerr seine Korrektur zu lesen pflegte. Seine ärgerliche Stimme: ‚Herein!‘ Er war immer ärgerlich, wenn man ihn beim Korrekturlesen störte. Ich schluckte ein paarmal, dann sprang ich mit einem Hechtsprung in das Unmögliche.

‚Herr Doktor Kerr, ich möchte Sie korrumpieren und bestechen.‘

Er wandte den Kopf, senkte ihn etwas und sah mich über den Rand seiner Lesebrille an, dann legte er den Bleistift auf den Tisch. ‚Setzen Sie sich und legen Sie los.‘

Ich setzte mich auf den äußeren Rand des Stuhls und legte los. Und wieder einmal merkte ich, dass ich einen ‚guten Tag‘ hatte. Ich erzählte Doktor Kerr alles, was auf dem Atelierfest passiert war. Ich erzählte bis zum gefährlichen Ende. ‚Sie tanzt wundervoll‘, schloß ich. Dabei hatte ich das Gefühl eines Schwimmers, der sich an das eiskalte Wasser gewöhnt hat.

Er fragte: ‚Hat sie auch in dem Stück zu tanzen?‘

‚Ja.‘

‚Und glauben Sie, dass sie auch in dem Stück wundervoll tanzt?‘

‚Ja.‘

‚Und Sie glauben, dass sie auch in dem Stück so unglaublichen Charme hat, wie Sie mir erzählten?‘

‚Ja.‘

Die Sache wurde brenzlig. Denn der Unterschied zwischen ihm und mir bestand darin, dass er die Geschichte nicht ernst nahm und ich sie todernst nahm.

‚Und halten Sie sie für ein Talent?‘

‚Ja.‘

Meine Sturheit brachte ihn jetzt zum Lachen. Er setzte seine Brille ab und wieder auf. ‚Schön. Gut‘, sagte er. ‚Wenn dies alles der Fall ist, werde ich mich korrumpieren lassen.‘

Mit diesem fragwürdigen Erfolg zog ich ab. Aber was konnte ich von ihm erwarten? Sich bei ihm für eine Schauspielerin einzusetzen, hatte etwas Riskantes. Er konnte annehmen, ich hätte mit der reizenden jungen Dame ‚etwas‘. Ich hätte nichts dagegen gehabt, gar nichts, aber es hatte sich nun einmal nichts ereignet, und ich war auch niemals darauf aus gewesen. Wie würde Kerr reagieren? Er war unberechenbar und konnte teuflisch sein. Er besaß eine Vorliebe für gepfefferte Capriccios, in denen er manchmal ganz zusammenhanglos jemanden lächerlich machte, der niemals darauf gefaßt gewesen war. Auch die Größten der Großen entgingen solchen blitzschnellen und verletzenden Florettstichen nicht. Versagte das Müllerstöchterchen und machte Kerr auch nur eine winzige spöttische Bemerkung über sie, war ihre Sache dahin und vorbei. Also kam jetzt alles auf Renate an. Denn wenn sie versagte, war auch meine Sache bei Dr. Kerr dahin, ich war blamiert, und er würde mich fortan für schwachsinnig halten.

Ich holte mir das Müllerstöchterchen ans Telefon. Ich war wütend, dass ich mich zu dieser Unternehmung hatte hinreißen lassen. Ich sagte ihr kurz, dass Kerr in die Premiere gehe; ich hörte einen tiefen Seufzer und hängte ein. Die Premiere. Am selbigen Abend. Im Staatstheater. Namen und Autor des Stückes weiß ich nicht mehr.

Der andere Morgen. Ich ging in die Setzerei und ließ mir die Fahnenabzüge von Kerrs Kritik geben. Ich durchflog sie. Und da stand es. Da stand ein einziger Satz über die Schauspielerin Renate Müller, meine Müllerstochter. Der Satz äußerte starkes Wohlgefallen an einem neuen Talent, einer neuen Anmut und an einer neuen reizvollen Erscheinung. Der Satz genügte. Er bewies wieder einmal die ungeheure Macht und den sagenhaften Einfluß, den eine Kritik von Alfred Kerr haben konnte. Denn von diesem Tage an begann die Karriere von Renate Müller.“ 26


Privatfoto aus dem Jahre 1929

Ende April 1929 beginnen für Renate die Proben zu Hans Meisels Störungen, einer Komödie, die sich in einer Familienpension abspielt und die Eigenheiten der dort wohnenden Menschen widerspiegelt. Meisel, der 1927 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde, soll nun mit dieser Uraufführung im Staatstheater geehrt werden.

Erich Engel versteht es bereits auf den Proben, gute Laune bei seinen Schauspielern zu entfachen und kann mit seiner modernen Regie und der Originalität seiner Darsteller eine gelungene Inszenierung verbuchen. Unterstützt wird er u. a. durch die exzellenten Bühnenentwürfe von Bernhard Klein. Für das Publikum völlig neu: deckenfreie Rollkulissen, der Bühnenumbau wird vor den Augen der Zuschauer getätigt. Renates Bühnenpartner sind diesmal Elsa Wagner, Julius Falkenstein, Paul Bildt, Hans Leibelt und Veit Harlan. Harlan ist zwar ein ausgezeichneter Schauspieler und Kollege, wird sich jedoch in wenigen Jahren an die Spitze der nationalsozialistischen Filmregisseure setzen. Sein Jud Süß (1940) wird zu den antisemitischsten und niederträchtigsten Filmen der Nazis gehören.

Renate Müller spielt in Störungen die Schweizerin Lilo Derain, die sich mit viel Raffinesse einem introvertierten jungen Russen (Harlan) nähert. Die Premiere findet am 4. Juni statt. Publikum und Kritiker reagieren gespalten. In den Gazetten ist am Tag danach zu lesen: „Erich Engel hatte für die Regie hundert Einfälle und alle hundert waren gut. Eine Schauspielerschaft von erstem Rang folgte ihm in guter Laune. Die beiden Liebenden: Veit Harlan und Renate Müller, schlurfende Passivität gegen aufgeregtes Dekolleté, amüsanter Kontrast.“ 27

In einer anderen Zeitung über Renate: „Reizvoll und kühl die Derain von Renate Müller.“ Und Emil Faktor meint im Berliner-Börsen-Courier: „Renate Müller war als junge Schweizerin recht lieb, so'weit es die von allzuviel Störungen heimgesuchte Rolle ihr ermöglichte.“ 28 Und Kerr verkündet: „Renate Müller. Bezaubernd. Nicht nur was Gutaussehendes. Nicht nur was Melodisches. Hier ist eine Herrlichkeit. Ein zugleich volkhaftes, zugleich adliges Geschöpf.“ 29


Pressezeichnung zu Hans Meisels „Störungen“ am Staatstheater, 1929.

Die erste Produktion in der neuen Spielzeit am Staatstheater ist René Schickeles Kriegsstück Hans im Schnakenloch, das 1917 in Berlin uraufgeführt wurde und jetzt ohne Kürzungen unter der Regie von Walter Gynt neu inszeniert wird. Renate Müller (als Zweitbesetzung) agiert auf der Bühne u. a. wieder mit ihrem ehemaligen Lehrer Lothar Müthel, sowie mit Alexander Granach, Albert Florath und Fritz Odemar. Gleichzeitig probt sie die Rolle der Edelnutte in Gustav Wieds Satire 2 X 2=5, welche am 4. September im Schillertheater herauskommt. Diesmal führt Emil Rameaus die Regie. Er kann dem Stück jedoch zu keinem Erfolg verhelfen. Die Darstellungen von Veit Harlan, Aribert Wäscher, Hans Leibelt und Elsa Wagner werden in den Kritiken jedoch gelobt. Auch Renates Leistung wird in der Vossischen Zeitung kommentiert: „Renate Müller, ungemein appetitlich, ist als Edelnutte um einige Grade zu edel.“ 30 Die Fachwelt erkennt mit der Zeit immer mehr ihre verfeinerte Darstellungsbreite an.

Den stärksten Eindruck und ihren künstlerischen Durchbruch erzielt Renate auf der Bühne in der Rolle als derbes, erdgebundenes schwäbisches Bauernmädel Rösle Biener in Hermann Essigs Uraufführung Des Kaisers Soldaten. Regisseur Jürgen Fehling gibt ihr hier die Gelegenheit, sich von einer ganz neuen Seite zu zeigen und vom Rollenfach der Lustspielnaiven und Salondame wegzukommen. Wir sehen Renate als triebhafte Bauerntochter, die ihren Bräutigam vor dem Wehrdienst retten will und ihn überredet, sich einen Finger abzuhacken. In dieser Rolle sind Charme und Schönheit unpassend. Renates blonde Haare sind unter einem Kopftuch versteckt und sie trägt ein derbes kariertes Kleid, dazu Holzpantinen. Mitte September 1929 beginnen die Proben mit den Kollegen: Maria Koppenhöfer (Mutter Auwerter), Walter Werner (Vater Auwerter), Elsa Wagner (Mutter Eisenbraun) Hans Leibelt (Vater Eisenbaum), Alexander Granach (Rekrut Jubilatz) und erneut mit Veit Harlan (Fritz Eisenbraun).

Fehling ist bereits damals eine Autorität in der Theaterszene, ein Könner, ein genialer Regisseur aber auch ein Wahnsinniger, was seine Theaterarbeit betrifft. Es gibt nicht viele Schauspieler, die die Kraft haben, seine Proben durchzustehen. Seine strenge, präzise und engagierte Regieführung ist gefürchtet. Während der wochenlangen Probenarbeit holt er das Letzte aus den Schauspielern heraus und legt bei Renate Empfindungen frei, die sie bewußt bis jetzt nicht gelebt hat. Renate ist in dieser Zeit so aufgewühlt, verzweifelt und unsicher, dass sie ihren Eltern gesteht: „Ich schaffe es nie, diese Anspannung ist nicht auszuhalten!“ - Aber Fehling spornt sie zu neuem Schaffen an, verlangt sprachliche Präzision und musikalische Modulation der Sprachtechnik. Mit Besessenheit feilt Renate an ihrer Rolle und übt noch stundenlang abends weiter und kann während Probenarbeit kaum schlafen. Als das Stück am 1. November 1929 im Schillertheater herauskommt, wird es für Renate ein großer persönlicher und künstlerischer Erfolg, an den sie nicht mehr geglaubt hatte.

Die Müller hat sich endgültig als professionelle Bühnenschauspielerin am Staatstheater etabliert und in einer Zeitung kann sie lesen: „Da wuchs, ohne dass man es merkte, eine junge Schauspielerin zur großen Künstlerin heran.“ Der Börsen-Courier: „Das zweiseitig engagierte Dorffräulein wird von Renate Müller mit Temperament gefüllt. Die Rolle liegt weit ab von dem ihr vertrauten Salonmilieu und wird von ihr ohne jede Differenz behauptet. Auch hier Wandlungsfähigkeit in überraschendem Maße.“ 31

Auch der Lokalanzeiger ist voller Lob: „Sehr viel Freude durfte man an Renate Müller haben. Wie sie das Bäuerliche, Frische und Einfache traf, wird sie manchen, der sie früher in modernen Rollen sah, angenehm überrascht haben.“ 32 Und Kerr über die „Müllerin“: „Das Maidle (bezaubernd von Renate Müller dahingelebt; mit einer gesetzten Dorfanmut; jung-madamig; derbhold) ... das Maidle will einen, der nicht drei Jahr beim Militär wegbleibt.“" 33

Und im 8-Uhr-Abendblatt hieß es: „Wie aber hätte der arme Essig, der nach Aufführung gierte, im kaiserlichen Deutschland ein anderes Finale machen können oder dürfen? Er läßt jedoch, ob unbewußt oder pfiffig, eine Chance offen: durch kleine Umbiegungen kann das ganze Stück ebenso ins Höhnisch-Antimilitaristische wie ins Triumphal-Militaristische gesteigert werden. Jürgen Fehlings Aufführung, ehrlich dem Dichter dienend, entschied sich, neutral wie dieser, für keine der beiden Tendenzen, wodurch allerdings leider der Militarismus das letzte Wort auf der Bühne wie im Stück losschmettert. Aber diese Aufführung war großartig in einer naturalistischen Unbarmherzigkeit, die mit der des Dichters wetteiferte, das furiose Pastorale symphonisch gliederte und durchkomponierte und wackere Schauspieler sich wacker ausleben ließen in Schreien, Brüllen, Schimpfen, Hauen, Holzen, Stechen. Die Zensur ‚sehr gut‘ gilt für alle.“34


Mit Hans Rehmann in „Des Kaisers Soldaten“, 1929


Premierenzettel von „Des Kaisers Soldaten“, Schiller-Theater, Berlin, November 1929.

Doch die BZ am Mittag meint über Fehlings Inszenierung: „Zweck und Sinn der Aufführung dieses (zwar absichtslos) militaristischen, die Zeit vorkriegsmäßiger Soldatenspielerei unbewußt glorifizierenden Stücks? An einer staatlichen Volksbühne! Wenn nur, um der Witwe des vor zehn Jahren gestorbenen Hermann Essig Aufführungshonorar zukommen zu lassen, dann gut. Aber die staatliche Schaubühne ist keine Wohltätigkeitsanstalt für Hinterbliebene. Oder: hat sich Fehling das Stück gewählt, weil es ihn mit besonderen Inszenierungsreizen lockte? Zu begreifen, aber es gibt zur Befriedigung wohl zu verstehenden Tatendranges zeitnähere Dramen, als dieses nur noch historisch anzusehende, aus Vorkriegsgeist geborene Stück. Als Aushebung, Rekrutentum, Soldatwerden noch im sozialen Leben, in der Volkspsyche eine Rolle spielen, die heute jahrhundertweit weg liegt. Jürgen Fehling legt den Hauptton auf die Komödie im Drama. Sein Thema ist die Militärseligkeit junger Bauernburschen, der Überschwang bebänderter Rekruten, das traditionelle Hingerissensein junger Dorfweiblichkeit. Saufen und Raufen. Klingklanggloribusch. Hier verläßt er alle Realistik und geht zur grotesken Typisierung. Aufmärsche, Übermut, Prügelei. - Sehr lustig, witzig hineinkomponiert in Rochus Glieses lächelndes Bühnenbild.“ 35

Und Renate über ihre Zusammenarbeit mit Fehling: „Selten habe ich so viel gelernt und für meine künstlerische Entwicklung gewonnen, wie damals unter Jürgen Fehlings herrlicher Regie.“ 36

Für Renate Müller überstürzen sich jetzt die Ereignisse: Rollen und Proben, Filmangebote und das Theater. Für Privatleben bleibt wenig Zeit. Beruflich hat sich Renate erfolgreich durchgesetzt, Intendant Jessner ist mit den Leistungen seiner Schauspielerin sehr zufrieden und setzt sie in seiner nächsten Produktion ein: Harte Bandagen, von Ferdinand Reyher. Das Stück behandelt ein zeitgemäßes Thema: den Sport, insbesondere den Boxsport. Mit der Hauptrolle wird Gustav Knuth vom Altonaer-Theater besetzt, der in Berlin damals noch völlig unbekannt ist. Ferner wirken die Kollegen Alexander Granach, Paul Bildt, Hans Leibelt, Lothar Müthel, sowie die Damen Lotte Lenja und Renate Müller (als Seidennutte Sybill) mit. Fritz Kortner inszeniert.

Nach einer langen Probenzeit von mehreren Wochen, muß Kortner - wegen anderer Theaterverpflichtungen - aus der Produktion aussteigen und Professor Jessner beendet die Arbeit.

Zur Premiere am 31. Dezember 1929 findet sich wieder geballte Prominenz im Staatstheater ein: Reichskanzler Hermann Müller, Reichstagspräsident Rudolf Hilferding, Albert Bassermann, Hans Albers u.v.a. sind die Silvestergäste von Jessner. Doch die Aufführung wird von der Kritik verrissen. Das Stück fällt mit Pauken und Trompeten durch, wird aber in dem Film Liebe im Ring wenige Monate später eine erfolgreiche Auferstehung finden.

Jessner hat als „bekennender Sozialdemokrat“ und „bekennender Jude“ die politischen und kirchlichen Konservativen weiterhin gegen sich. Aus diesem Grunde wird seine Repertoirepolitik immer wieder kritisiert: „Die Kritik am Staatstheater hat da einzusetzen, wo es nicht den Ausgleich zwischen dem beharrenden und dem vorwärtsweisenden Repertoire findet, wo es Lücken lässt. Diese Lücken sind heute, besonders am Staatlichen Schauspielhaus, groß. Das muß offen ausgesprochen werden. Das Staatstheater verschlingt ein Riesendefizit, weil nicht genug probiert wird. Hier liegt die einfache und banale Lösung. Die Theaterfrage am Gendarmenmarkt und am Knie ist kinderleicht zu beantworten. Sie hat nichts mit ‚modern oder unmodern‘ zu tun. Sie ist, das Banalste ist das Richtige: eine Fleißfrage. Jessner verbraucht zu viel Zeit mit Diplomatie, um Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen. Er hätte sie nicht nötig, wenn er arbeitete.“ 37 schrieb Jessner-Gegner Ihering bereits im März 1929.

Jetzt wird nach dieser „Blamagen-Inszenierung“ der Ton gegen Jessner noch schärfer und Ludwig Sternaux vom Berliner-Lokalanzeiger veröffentlicht unter der Überschrift: „Jessner k.o“: „Unbegreiflich die Wahl des Stücks. Dass die mit Fachausdrücken gespickte Sprache, ein deutsch, wie es im Sportpalast zu Hause, nur Eingeweihten und Gesalbten verständlich, ist das persönliche Pech dessen, der dort nicht Habitué ist. Jessner scheint es zu sein, es gehört das zweifelsohne zu den Aufgaben und Verpflichtungen des Generalintendanten. Aber nicht entgangen sein dürfte Herrn Jessner, der doch ein geistiger Mensch ist, die vollkommene geistige Öde dieses Opus, der sinnfällige Mangel an jedem seelischen Gehalt, die kindliche, ja kindische Naivität der Konstruktion, die grenzenlose Langeweile, die diese fünf Bilder atmen. In der Rolle des Boxers Phil Marvin ein neuer Mann: Gustav Knuth. Echt vielleicht in der unproportionierten Figur mit dem kleinen Kopf, dem ausdruckslosen Gesicht, aber im übrigen ohne Gestaltungskraft, ohne Wärme. Furchtbar ordinär Paul Bildt, ein Manager aus dem Scheunenviertel, wohlfeiler Kaschemmenhumor Alexander Granach. Billige Sportpalasttypen Hans Leibelt und Wolfgang Heinz. Die Weiblichkeit: Lotte Lenja und Renate Müller. Letztere hyperelegant, schöne Erscheinung, ganz jener Luxuspöbel, der in der Tiefe Sensationen sucht, Frau Lenja wieder eine dieser Gestalten, die alle Bars bevölkert, Halbwelt der Vorstadt.“ 38


Renate Müller (r) mir dem Ensemble von Ferdinand Reyhers „Harte Bandagen“, Staatstheater, Berlin 1930. Links: Lotte Lenja, daneben Gutsav Knuth.

Und der Berliner-Börsen-Courier seufzt: „Ein primitiver Reißer, stofflich pakkend. Boxer und Manager - naive Jungens, gerissene Jungens ... Training und Weiber: die ganze Atmosphäre der Trainingslager und Sportpaläste ist darin. Aber mit den Mitteln des alten Theaters dargestellt. Ein gutes Stück für ein Vorstadttheater oder für eine Reißerbühne...“ 39 Der konservative Arthur Eloesser schreibt in der Vossischen Zeitung: „Warum Renate Müller die Rolle von Lotte Lenja und Lotte Lenja die Rolle von Renate Müller spielte, darüber würde ich nachdenken, wenn ich nicht lieber vergessenen möchte. Das Staatstheater legt immer ziemlich harte Bandagen an, wenn es sich um das ganze Geschlecht handelt.“ 40 Doch Max Osborn schwärmt von der „bildhübsch-verlockenden Renate Müller“ 41

Gustav Knuth in seinen Erinnerungen: „Wir Schauspieler trugen an diesem Debakel noch die geringste Schuld. Dennoch: Wo immer ich mich in den nächsten Tagen zeigte, wurde ich auf dieses Fiasko angesprochen. Es war eine Qual! Eines Abends rettete ich mich ins ‚Kabarett der Komiker‘ am Lehniner Platz und dachte, hier würde ich endlich meine Ruhe finden. Aber nicht doch! Die fixen Kerle hatten bereits eine ätzende Szene über den Durchfall von

‚Harte Bandagen‘ in ihr Programm eingebaut. Den Rest gab mir jedoch ein Kollege, den ich auf einer Gesellschaft traf. Kaum hatte er meinen Namen aufgeschnappt, da sagte er: ‚Was? Wie heißen Sie? Knuth? Dann sind Sie das, der dem Jessner das Genick gebrochen hat!‘ Da merkte ich, wo ich war. Nämlich in Berlin. In dieser Stadt waren nicht nur die Kritiker hart. Auch das Publikum gab keinen Pardon.“ 42

Die sogenannte „Jessner-Krise“ kommt zum Höhepunkt und Jhering wettert am 2. Januar 1930: „Ein vergreistes Theater, eine lähmende Starre. Hoffnungslosigkeit, wenn nicht die Leitung wechselt. Es muß gesagt werden. Nichts falscher, als zu argumentieren: Jessner sei aus politischen Gründen zu halten. Nein, schlimmer kann es nicht werden. Diese Frage hat mit Links und Rechts nichts mehr zu tun. Jessner ist heute weder links noch rechts. Er hat sich als Intendant abgenutzt. Wer diese Tatsache verschleiert, erweist Jessner selbst keinen Dienst. Der Regisseur Jessner wird sich wieder finden. Für ihn gibt es Aufgaben genug. Für den Intendanten Jessner gibt es keine Aufgaben mehr. So taumelt das Staatstheater zwischen Konventionalstrafe und Neuverpflichtungen hilflos hin und her! Kein Ziel, keine Disposition, keine Leitung. Von den sinnlos verschleuderten Geldern kann ein neues Theater leben! - Nein, die Geduld ist zu Ende. In einer Zeit, wo die öffentlichen Theater als kulturelle Institute ihre Existenz dringend zu erweisen haben, versagen die Schauspielhäuser vollends. Heute, wo nur durch Leistungen die Notwendigkeit staatlicher Zuschüsse erklärt werden kann, fällt hier alles auseinander. Wer Jessners gute Zeit mitgemacht hat, weigert sich, diese mitzumachen. Am Staatstheater gehört eine frische, unverbrauchte Kraft, eine geistig repräsentative Persönlichkeit - kein Regisseur und kein Schauspieler.“

Als Konsequenz der allgemeinen Verdrossenheit über seine künstlerische Stagnation und des Einflusses der politischen Rechten, wirft Leopold Jessner das Handtuch und legt die Leitung der Staatlichen Schauspielhäuser nieder. Am 20. Januar teilt er seinen Schauspielern in einem Abschiedsbrief mit: „Sehr verehrte Kolleginnen und liebe Kollegen! Nachdem ich von der Leitung des Staatlichen Schauspielhauses geschieden bin, ist es mir ein wirkliches Herzensbedürfnis, Ihnen noch einmal für die treue, kollegiale, hingebende Mitarbeit zu danken, die Sie mir während meiner beinahe elfjährigen Tätigkeit zuteil werden ließen. Es ist wohl nur selbstverständlich, dass eine Arbeit, die auf letzten Einsatz der Nerven gestellt ist, nicht immer eine völlig reibungslose sein kann: Sie darf es gar nicht sein, denn die Reibung erst erzeugt Funken. Aber ich kann Ihnen offen sagen, dass die Gesamterinnerung an die Zeit meiner Berliner Intendantentätigkeit ungetrübt und eine der schönsten meines Lebens bleibt. Wir haben zusammen manche Schlacht geschlagen, manchen Sieg erfochten und manche Niederlage erlitten. Aber über dem Einzelschicksal der jeweiligen Aufführung, des jeweiligen persönlichen Erfolges oder Mißerfolges fanden wir uns jederzeit in dem Gedanken, der allein der Sache des Theaters galt und in der wir uns wahrlich vom ersten bis zum letzten Tag verstanden haben. Ich danke Ihnen herzlich und wünsche Ihnen und Ihrem neuen Leiter alles Gute in Ihrem Leben und in Ihrer Kunst.“

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Unter Jessners Leitung wurde noch das nächste Stück beschlossen und disponiert: Liebesleid und -Lust von William Shakespeare.

Endlich geht Renates lang gehegter Wunsch, Shakespeare am Staatstheater spielen zu dürfen, in Erfüllung. Als Prinzessin von Frankreich hat sie wieder hervorragende Kollegen an ihrer Seite: Granach als König von Navarra, Aribert Wäscher spielt den Biron, Elfriede Borodin die Rosalinde, Hans Leibelt als Bauer Schädel, Albert Florath gibt den Don Adriano, Veit Harlan als Longaville und in der Rolle des Haushofmeisters sehen wir den renommierten Paul Bildt.

Fehling führt Regie und seine Probenarbeit ist wieder mal äußerst anstrengend. Fehling verlangt überaus exakte Intonation und kann in Renate erneut unbekannte Aspekte des Theaterspielens wecken. Premiere ist am 18. März 1930 im Staatstheater am Gendarmenmarkt.


Programmzettel, März 1930.

Richard Riedel schreibt in Der Tag: „Soll diese Aufführung einen Umschwung im Programm und Einstellung der Staatstheater bedeuten? Dann wollen wir sie, eine Frühlingsschwalbe nach diesem Winter unseres Mißvergnügens, doppelt freudig begrüßen. Es kommt selten vor, dass sich jemand an dieses sehr frühe Shakespeare-Lustspiel heranwagt. Es ist unverkennbar das unausgegoorene Frühwerk des Genies. Eben deshalb soll man es kennen und mit ihm dem großen Menschen Shakespeare näherkommen. Die innere Gegensätzlichkeit hatte der Spielleiter zart und doch wirksam herausgearbeitet.

Das anmutige und lebendige Damengefolge wurde von Renate Müller sympathisch geführt; der Übergang von der Heiterkeit zum Ernst gelang ihr, der Regie angepaßt: sinnvoll abgedämpft und wahr. Die Bühnenmusik wurde stimmungsvoll mit Originalmelodien aus der Elisabethanischen Zeit bestritten. Die Aufführung, vom Publikum sehr herzlich aufgenommen, ließ die kühne Hoffnung aufkommen, in den nächsten Spielzeiten den ganzen Lustspiel-Shakespeare zu sehen - so wie ihn Fehling für uns neu entdeckt hat: als rhytmisches naiv sinnfältiges Welterlebnis.“ 43


Mit Paul Bildt in „Liebesleid und Lust“, Staatstheater Berlin, März 1930.

Alfred Kerr kommentiert im Berliner Tageblatt: „I. Hätte Jürgen Fehling dieses Lustspiel des Anfängers William Shakespeare nicht ausgeurnt - man könnte trotzdem weiterleben. Darin bin ich seltsam. II. Eine Munterkeit, die keine wird. Eine Komik, die jemand mit etwas betretenem ‚hi,hi‘ zugibt. Warum soll man sich anstellen, als ob das lustig wäre. Mitmenschen! - unsere Lustigkeiten sind anders. ‚Heute ist heut.‘ IV. Und standen doch gute Mimen (wie Wäscher, Bildt, Granach, die Müllersche Renate, Fräulein Elfirede Borodin, Harlan) in sehr unkleidsamer Gewandung auf den Brettern. VIII. Shakespeares ärmliches Lustspiel ist Vorwand, um den Übergang zwischen Jessner und Legal auszufüllen. ... Neue Dramen und neue Dramatiker schwitzt auch Legal nicht aus der flachen Hand. Dramen in Auftrag zu geben, o Gott, schafft noch keine Dramatiker.“ 44

Jhering verreißt in seiner Besprechung das Stück, die Schauspieler und natürlich vor allem Jessner. Über Renate schreibt er: „Es ist eine Zumutung, Frl. Renate Müller, die in anspruchslosen Rollen möglich ist, in einer klassischen Partie herauszustellen. Renate Müller kann sich im Kostüm und in der klassischen Diktion nicht bewegen. Sie bleibt ausdruckslos und unbeholfen, matt, witzlos, mühselig.“ 45

Osborn schließt sich der Kritik an: „Renate Müller, Augenschmus wie stets, doch ohne rechten Charakter, und in der Rede besonders ungepflegt.“ 46

Trotzdem ist die Müller in die Reihe der Staatstheaterstars aufgerückt und ihr Vertrag soll auch für die kommende Spielzeit unter dem neuen Intendanten verlängert werden. Doch zur Vertragsunterzeichnung kommt es nicht mehr, denn Renate will sich nicht mehr fest an ein Theater binden und schlägt den neuen Kontrakt aus. Ab jetzt will sie sich auf ihre Filmkarriere konzentrieren. Sie verläßt vorzeitig das Staatstheater und gib ihre Rolle in Liebesleid und Lust an ihre Kollegin Margarete Schön ab.

In der Zukunft wird die Leinwand Renates ganze Arbeitskraft in Anspruch nehmen, denn die Angebote die ihr unterbreitet werden sind mehr als verlockend und Renate Müller stürzt sich voller Begeisterung in das neue Metier Film.

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Die Leitung der Staatlichen Schauspielhäuser hat nun der Schauspieler und Regisseur Ernst Legal übernommen. Jessner bleibt noch bis März 1933 als Regisseur in Deutschland tätig, dann nehmen ihm die Nazis die schöpferische Kraft. Er emigriert 1937 in die USA, wo er als Präsident des „Jewish Club of 1933“ wirken kann. Letzter ehrende Höhepunkt seines Lebens wird sein 65. Geburtstag, auf dem Lion Feuchtwanger eine Festrede hält.

Leopold Jessner starb am 13. Dezember 1945 in Los Angeles an gebrochenem Herzen. Sein Nachruhm blieb im Gegensatz zu dem von Max Reinhardt blaß.

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Portraitstudie aus dem Jahr 1930

Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt

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