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Kapitel 4
ОглавлениеGrünlich weißes Licht durchflutete den sechseckigen Raum. Aus einer Wand ragte ein Labortisch. Auf ihm standen nebeneinander in bizarrer Anmut getrocknete Organe, Wärme abstrahlende Kristalle und wild auf der Platte herumpatschende Extremitäten von Tieren, die aus merkwürdigen Gefäßen wuchsen. Gleich gegenüber war ein riesiges Regal mit unzähligen Glasbehältern, in denen die unterschiedlichsten Organe schwammen.
Im Zentrum des Raums flammte plötzlich ein greller Lichtkegel auf, in dem sich ein kleiner Mann über einen OPTisch beugte. Durch seinen roten Overall und seinen beachtlichen Körperumfang erinnerte er eher an eine reife Tomate als an einen Chirurgen. Er malte einen schwarzen Strich rund um den kahlen Kopf des riesigen, nackten Mannes vor ihm auf dem Tisch. Nachdem er den Strich auf der Stirn geschlossen hatte, nahm er sich eine Handkreissäge von einem Beistelltisch mit medizinischen Werkzeugen und schaltete sie an. Das laute Surren drängte das gleichmäßige Geräusch der Körperteile auf dem Labortisch sofort in den Hintergrund. Augenblicklich öffnete der nackte Mann die Augen und blinzelt in das grelle Licht.
“Ich weiß nicht, Chef”, stöhnte er mit seiner tiefen Stimme.
Der Mann im roten Overall reagierte nicht.
“Chef?”
Immer noch keine Reaktion.
“David?”
David seufzte.
“Glaubst du wirklich, dass das nötig ist?” Davide macht die Handkreissäge aus und das Patschen war wieder zu hören.
“Hans”, sagte er mit einem weiteren tiefen Seufzer, als habe er diese Diskussion schon zu oft geführt. “Ein so komplexes System wie deins muss regelmäßig gewartet werden. Das pflegt sich nicht von alleine.”
“Ja, weiß ich, Chef.” Hans sprach langsam. “Aber ich fühle mich wohl, so wie ich bin - eigentlich.”
Neidisch blickte David auf Hans’ athletischen Körper. Dann schüttelte er den Kopf. ” Deine intellektuellen Fähigkeiten lassen aber noch einiges zu wünschen übrig. Ohne meine Hilfe wirst du da nicht weiterkommen. Im Gegenteil. Irgendwann wird dein Kopf so zugemüllt sein, dass bei dir überhaupt nichts mehr funktioniert.”
“Wenn du meinst.”
“Der Tag, an dem ich in deinen Kopf sehe und feststelle, dass sich dein System selbstständig weiterentwickelt hat, wird mein letzter Tag in diesem Labor sein. Aber das wird garantiert nie passieren. So, und jetzt entspanne dich und lass mich mal machen.” Er drückte auf den Knopf und das furchtbare Surren erfüllte wieder den Raum.
Hans seufzte und schloss die Augen. Sein Chef setzte die Säge an der linken Schläfe, direkt auf dem schwarzen Strich an. Das Surren wurde tiefer und lauter, als das Sägeblatt begann den Schädelknochen zu zerteilen.
Hans stöhnte missmutig.
“Halt still, verflucht.” Ärgerlich packte er Hans’ Kinn. “Wenn ich abrutsche, splittert womöglich der Knochen oder ich säge dir durchs Ohr und du weißt, wie lange es dauert, bis ein neues nachgewachsen ist.”
Hans grummelte missmutig vor sich hin, versuchte aber sich nicht mehr zu bewegen.
David sägte entlang des schwarzen Strichs rund um Hans’ Kopf, bis er wieder an der linken Schläfe ankam. Dann legte er die Säge auf den Beistelltisch zurück, fasste mit beiden Händen oberhalb des soeben gesägten Schlitzes, rüttelte und fluchte.
“Was’n los, Chef?”, Hans sah nach oben. “Geht’s nicht?”
“Halt still, oder ich verpasse dir nächstes mal wieder eine Vollnarkose.” Sichtlich unzufrieden setzte David sich eine Brille mit zwei kleinen Objektiven auf. “Ich war zu vorsichtig, beim Sägen. Anscheinend ist der Knochen an ein paar Stellen nicht ganz durchtrennt.” Er untersuchte den Schlitz durch die starke Lupe.
“Ah, ja”, er strich mit dem Finger über Hans’ Stirn, “hier, …”. Er suchte weiter und musste sich für den Hinterkopf auf den Boden knien, was ihm durch seine Leibesfülle einige Schwierigkeiten bereitete. “Und hier”, ächzte er und strich mit seinem Finger über eine Stelle hinter dem linken Ohr.
Mühsam zog er sich am OPTisch wieder hoch, setzte die Brille ab und suchte auf dem Beistelltisch nach einem Hammer und einem breiten Meißel.
“Och Chef, auch das noch”, Hans schmollte. “Der Krach mit der Kreissäge war schon genug.”
David ließ sich auf keine Diskussionen ein und setzte den Meißel in den Schlitz auf der Mitte der Stirn. Gezielt schlug er zu.
Knack!
Der Schädelknochen war durchtrennt und der Schlitz stand nun an dieser Stelle etwa einen Zentimeter weit offen.
“Na also”, murmelte er und legte Hammer und Meißel beiseite. Vorsichtig drückte er mit beiden Händen den Schlitz wieder zusammen, dann wieder auf, wieder zusammen und dann mit einem kräftigen Ruck wieder auf.
Knack!
Die zweite Stelle war auch durchtrennt und er hielt die Schädeldecke in seinen Händen. Hans Gehirn lag nun offen und es tropfte ein wenig klare Flüssigkeit von der Schnittkante.
“Pass aber diesmal auf, Chef. Nicht wieder auf den Käfig mit den Mäusen legen”, zeterte Hans. “Dieser Deckel gefällt mir sehr gut. Ich möchte nicht wieder ewig auf einen neuen warten müssen, nur weil irgendwelche Viecher den alten kaputt geknabbert haben.”
“Nie mehr ohne Vollnarkose”, schnaubte David und legte die Schädeldecke auf den Labortisch. “Ich habe die Nase voll von deinen Kommentaren. Ich habe alle IEs in ihre Käfige gesperrt. Beim letzten mal …”, David schüttelte den Kopf, “… das war einfach ein Versehen. Ich habe zwei Sekunden nicht aufgepasst, …”
“Ein Versehen, so, so”, maulte Hans. “Und weil der Chef zwei Sekunden nicht aufpasst, muss ich einen ganzen Monat lang Angst haben, dass ich mir da oben nichts eindrücke, weil da alles weich und wabbelig ist, ohne Deckel. Zum Glück hat mir deine Frau diesen Sturzhelm besorgt. Ich hätte sonst den ganzen Monat lang nicht geschlafen, vor lauter Angst.”
“OK, nun ist es aber genug.” David klang jetzt sauer. “Hier sind keine knabbernden Tiere. Die Schädeldecke ist sicher, und jetzt lass mich bitte weitermachen.” Er ging wieder zu der Regalwand und griff nach einem der Glasbehälter in der obersten Reihe. David musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um den großen Behälter mit dem Organ richtig fassen zu können. Mit einiger Mühe schaffte er es, ihn aufrecht herunterzubalancieren und schleppte ihn zum OPTisch, wo er ihn auf einer speziellen Ablage neben Hans’ Kopf absetzte. Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
“Also Chef. Sag doch vorher was. Ich komme da doch leichter dran. Wenn es dir aus den Händen rutscht …”
“Es ist gut, Hans”, David schnitt ihm das Wort ab. “Es hat ja geklappt. Ich habe halt vorher nicht daran gedacht, dass der Behälter so hoch steht.”
“Ei, ei, ei”, Hans versuchte den geöffneten Kopf zu schütteln, dabei tropft wieder etwas von der klaren Flüssigkeit heraus. “Chef, Chef, Chef. Du weißt aber noch, was du jetzt alles machen musst?”
“OK”, murmelte David zu sich selbst. “Das ist das Erste, was ich bei dir umprogrammieren werde.”
Aus einem Kühlfach, in der Wand neben dem Labortisch, holte er zwei Nierenschalen und stellt sie auf Hans Bauch, der heftig pustete, als er die eiskalten Schalen spürte.
“Hier”, kommandierte David. “Festhalten.”
Er nahm eine riesige Spritze vom Beistelltisch mit den medizinischen Werkzeugen. Sie war ungefähr zwanzig Zentimeter lang, hatte einen Durchmesser von mindestens sechs Zentimetern und war fast vollständig mit einer roten, durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Hans Augen wurden immer größer, als er sah wie viel Mühe David damit hatte ein wenig von der offensichtlich sehr zähen Flüssigkeit aus der Spritze zu drücken, um die richtige Menge zu erhalten.
“Äh, Chef?”, Hans hob vorsichtig den Finger. “Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, aber ich glaube das hast du das letzte Mal nicht benutzt.”
David blickte ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an, während er die Spritze noch in Augenhöhe hielt, um die Messskala genau sehen zu können.
“Ich bin jetzt auch wirklich still, ehrlich”, Hans Stimme klang ein wenig ängstlich.
Mit kaltem Blick senkte David die Spritze und injiziert ihren gesamten Inhalt auf einmal in den Glasbehälter mit dem Organ, woraufhin dieses heftig zu zucken begann. Hans atmete erleichtert auf, David lächelte verstohlen.
Er holte ein Bündel Nervenfasern aus der einen Nierenschale und legt das eine Ende in den Behälter, wo sie sich sofort mit dem Organ verbanden. Danach tränkte er einen Wattebausch mit der jetzt hellroten Flüssigkeit aus dem Glasbehälter und hielt das andere Ende der Fasern an Hans offenes Gehirn. Mit dem feuchten Wattebausch tupfte er die Nervenenden sorgfältig ab und wartete einen Moment. Hans’ Augen weiteten sich. Als David die Fasern losließ, waren sie fest mit Hans Gehirn verbunden.
“Äh, Chef?”
“Hans”, David klang resigniert. “Ruhe jetzt. Wenn ich mich nicht richtig konzentriere und einen Fehler mache, muss ich dich komplett neu initialisieren. Und was das bedeutet, weißt du ja.”
“Ja Chef, weiß ich”, wendete Hans vorsichtig ein. “Deshalb dachte ich, ich melde mich noch vorher um dich zu bitten …”
“Was denn jetzt noch?”, David wurde ungeduldig.
“Ich meine - ich habe hier nicht viel an”, er deutete auf seinen nackten Körper, “und es ist nicht gerade warm hier im Raum.”
“Jetzt komm endlich zur Sache”, knurrte David.
“Diese Nierenschalen auf meinem Bauch sind wirklich eiskalt.”
“Oh, … äh, … ja klar”, meinte David irritiert. “Entschuldigung.” Er hob die Schalen von Hans’ Bauch und stellte sie auf den Beistelltisch. Aus der zweiten Schale nahm er ein weiteres Bündel Nervenfasern und ließ auch sie eine Verbindung mit dem Organ herstellen. Schließlich griff er nach der mit einem Gel gefüllte Haube, die am Ende dieser Nervenfasern hing und setzte sie sich auf.
“Jetzt wollen wir doch mal sehen, wo wir unsere Problemchen haben”, meinte er lächelnd zu Hans. Er schloss die Augen und das Organ im Behälter begann in regelmäßigen Stößen zu pumpen. Hans’ Zehen bewegten sich, dann zuckten seine Knie. Die Oberschenkelmuskeln zogen sich zusammen und entspannten sich wieder. Seine Finger trommelten auf den OPTisch und über die Bauchdecke liefen Wellen vom Becken in Richtung Brustkorb. Plötzlich fing er an hysterisch zu lachen, dann flatterten seine Augen und er begann erbärmlich zu weinen. Genauso plötzlich war er wieder still und seine Augen bewegten sich schnell immer wieder von links nach rechts.
“Mhm”, David sprach mit geschlossenen Augen. “Ja, OK.”
“Und jetzt, … wie kommt denn das dahin?”, rief er überrascht. “Nein, das geht doch eigentlich gar nicht. Äh…”, er kratzte sich. “Oder vielleicht doch? - Versuchen wir doch mal das mit dem zu verbinden. Aua!” Hans’ Hand war zur Seite gezuckt und hatte ihm dabei in den Magen geschlagen. “Ich fürchte, ich muss hier ganz weit vorne anfangen.”
Er ging an die hintere Wand des Labors und legte seine Hand an die Wand, wo sie von einem grünlich leuchtenden Sechseck gescannt wurde. Daraufhin öffnete sich direkt darunter eine Tür zu einem weiteren Kühlfach, in dem mehrere Gefäße mit verschieden großen Gehirnen standen. Er nahm sich ein menschlich aussehendes heraus und trug es zurück zum OPTisch.
“Oh nein, Chef. Bitte nicht.” Angst erfüllte Hans Augen.
David sah ihn verdutzt an. “Was ist denn jetzt wieder los?”
“Erst redest du nur von Wartung, dann drohst du mit Umprogrammierung und jetzt willst du mir ein ganz neues Gehirn einbauen.” Er sprach ungewöhnlich hastig.
“Verlockende Vorstellung”, grinste David, dann schüttelte er aber den Kopf. “Keine Angst. Ganz so schlimm wird es nicht.”
“Aber …”
“In deinem Gehirn sind ein paar Regionen anscheinend ziemlich durcheinander geraten. Ich möchte sie nun mit deiner Grundkonfiguration vergleichen, die in diesem Gehirn hier, quasi als Backup, abgelegt ist.” Er schloss das Gehirn ebenfalls an das Organ an und setzt sich die Haube wieder auf.
Hans Gesichtszüge entspannten sich.
Die Wand hinter David schob sich lautlos zur Seite, Aurora trat ein und ging vorsichtig zum OPTisch. Im letzten Moment, bevor sich die riesige Tür hinter ihr wieder ganz geschlossen hatte, schlüpfte eine schwarz weiß gefleckte Katze herein. Sie sprang auf den Labortisch und begann mit einem Affenarm zu spielen, der in einer ovalen Schale mit einem violetten Gelee steckte. Geschickt wich sie der blind um sich schnappenden Hand aus, die dabei Hans Schädeldecke anstieß. Die Katze stutzte und näherte sich vorsichtig der wippenden Knochenplatte. Wieder patschte die Affenhand auf die Schädeldecke, wodurch diese heftig zu schaukeln begann. Der Katze schien das zu gefallen, denn sie half mit ihrer Pfote nach, um sie immer wilder tanzen zu lassen. Durch den Zusammenprall mit einer Schale, mit einer weißen, schleimigen Flüssigkeit, wurde der Tanz jäh gestoppt. Neugierig schlich die Katze um die Schale herum, schnüffelte und begann schließlich davon zu trinken.
Aurora stand neben David und legte ihre Hand auf seine Schulter, um auf sich aufmerksam zu machen. Er öffnete die Augen und nahm die Haube ab.
“Entschuldigung, dass ich störe David”, begann sie, “aber…”
“Oh nein!”, schrie dieser. “Das darf ja wohl nicht wahr sein.”
Er stürmte an seiner entsetzt zur Seite springenden Frau vorbei, auf den Labortisch mit der Katze zu. Diese schreckte auf, machte einen Buckel und fuhr wild fauchend die Krallen aus. David versuchte sie zu packen, doch sie wich geschickt aus. Bei dem Handgemenge kippte die Schale um und die Flüssigkeit lief über den Rand des Tisches auf den Boden. Alle Stellen am Tisch und am Boden, die von der Flüssigkeit benetzt wurden, begannen sofort zu dampfen und es bildeten sich sehr schnell größer werdende Löcher.
“Schnell, Wasser”, rief David, “ich versuche das Biest zu fangen.”
Seine Frau sah sich nach einem Eimer um.
Die Katze versuchte vom Tisch zu springen, rutschte dabei in der Flüssigkeit aus und klatschte auf den Boden. David griff nach ihr, doch die Katze war wieder schneller.
In einem weiten Bogen raste sie auf den Ausgang zu. Dabei rutschte sie immer wieder aus, da ihre Pfoten und ihr Fell ganz glitschig von der schleimigen Flüssigkeit waren. David versuchte keuchend hinter ihr herzukommen. Die Katze schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu bremsen, schlitterte auf dem Boden entlang und landete mit einem leisen Flapsch an der Tür.
Inzwischen hatte sich entlang dem Weg des Tiers eine dampfende Spur von Löchern gebildet. An der Stelle des Aufpralls fing auch die Tür an zu dampfen.
“Oh nein, oh nein, oh nein”, rief David und prallte ebenfalls gegen die Tür, fiel rückwärts um und blieb leicht benommen liegen.
David schüttelte sich. Die Katze versuchte sich unter dem Regal mit den Organen zu verstecken, aber die Spur mit den dampfenden Löchern verriet ihren Aufenthaltsort und David versuchte sich von der anderen Seite her anzuschleichen.
Hans hatte sich aufgesetzt und beobachtete das Chaos um sich herum mit Kopfschütteln. Dabei wickelten sich einige der Nervenfasern, die immer noch an sein Gehirn angeschlossen waren, um sein linkes Ohr.
Die Katze hatte Davids Absicht bemerkt, schoss wild fauchend unter dem Regal hervor und steuerte wieder auf den Labortisch genau gegenüber zu. David versuchte sie mit einem gewagten Hechtsprung zu erreichen, aber er berührte nur noch das Ende des Schwanzes mit den Fingerspitzen, als er hart auf dem Boden aufschlug. Durch den Schwung, den er hatte, rutschte er auf dem glitschigen Boden schräg durch den Raum und landete krachend in einem Regal mit leeren Flaschen und Behältern. Als er wieder auf den Beinen war, begann sich sein roter Overall überall, wo er mit der Flüssigkeit in Berührung gekommen war, aufzulösen.
“Schnell”, rief er Aurora wieder zu, “Wasser.”
Sie blickte auf einen inzwischen gefüllten Eimer, zuckte die Schultern und goss alles über David.
“Huah, kalt!”, schrie er und schüttelte sich. Doch die Ausbreitung der Löcher auf seinem Overall stoppte.
“Schnell, gieß Wasser überall hin wo sich Löcher bilden. Beeil dich!”
Auch in der Tür hatte sich inzwischen ein recht großes Loch gebildet. Die Katze sah ihre Chance und während David damit beschäftigt war sich die Augen zu wischen und Anweisungen zu geben, nahm sie Anlauf und sprang in die Freiheit.
David schrie wild herum. “Ein Mist, ein verfluchter”, er stampfte mit dem Fuß auf, wodurch er wieder auf dem feuchten Boden ausrutschte. “Zu Hause wäre so was nicht möglich.” Er schlug mit der Faust auf den Boden.
Seine Frau verteilte Wasser im ganzen Raum und stoppte damit die Ausbreitung der Löcher. Ganz neblig war es inzwischen und außerdem stank es bestialisch.
“Ach, Aurora”, David begann resigniert in den Überresten der Taschen seines Overalls zu kramen. Als er nur ein sehr aufgeweichtes, klebriges Stück Papier zu Tage förderte, wurde seine Miene noch enttäuschter. “Du sollst doch aufpassen, dass die IE002 nicht überall rein kommt. Jedes mal bricht Chaos aus.”
“Du wolltest die Katze doch schon längst deaktivieren”, sagte sie erbost. “Was kann ich dafür, dass du die Experimente mit deinen Intellektuellen Einheiten nicht ordentlich abschließt?”
Er hielt ihr das klebrige Papier entgegen. “Äh, du hast nicht zufällig etwas bei dir?”
Grunzend sah sie auf seinen Bauch und schüttelt den Kopf. Als sie aber Davids Dackelblick bemerkte, zuckt sie mit den Schultern, griff in die Tasche ihrer Jacke und reichte ihrem Mann ein Stück Schokolade.
“Danke, meine Liebe”, seufzte er erleichtert und biss hinein. Sofort hellte sich seine Miene wieder etwas auf.
Sie hielt sich die Nase zu und machte ein angewidertes Gesicht. “Was ist das hier für ein bestialischer Gestank?”
“Das ist eine neue Generation von unseren ehemaligen Selbstzerstörungs-Mikroben”, antwortete David, wischte sich über die mit Schokolade verschmierten Lippen und versuchte ächzend aufzustehen. “Unsere erste Generation konnte ja nur Metall zersetzen, wobei als Abfallprodukt Wärme und Energie entstand, … verflucht.” Er rutschte immer wieder mit dem Fuß auf dem glitschigen Boden aus und hockte erneut auf allen Vieren. Aurora schüttelte den Kopf und reichte ihm die Hand.
“Ah, danke, meine Liebe”, David griff danach und schaffte es endlich, sich aufzurichten.
“Es wird aber immer schwieriger genügend Metall zur Erzeugung der Energie, die ich für den Betrieb dieses Labors benötige, heranzuschaffen.”
“Äh, Chef”, Hans nestelte an den Nervenfasern herum, die sich um sein Ohr gewickelt hatten.
“Moment”, knurrte David in Hans’ Richtung. Er wendete sich wieder zu Aurora.
“Ich habe ein bisschen herumexperimentiert …”
“Was?”, rief Hans entsetzt. “Ich dachte, du weißt genau, was du tust. Ich dachte, du gehst immer streng wissenschaftlich …”
“Moment”, sagte David sehr scharf und kniff gefährlich die Augen zusammen. “Du kennst doch noch den Unterschied zwischen rekonfigurieren und neu initialisieren?”
Hans senkte grummelnd den Kopf. David wendete sich wieder an seine Frau.
“Ich habe also ein bisschen herum experimentiert”, er schielte zu Hans und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass keine Unterbrechung kam, “und diese Mikroben modifiziert.”
Hans holte tief Luft, aber David hob blitzschnell den Zeigefinger und sah Hans mit großen Augen drohend an. Hans atmete wieder aus und David nickte langsam.
“Jetzt können sie alles”, David sah Aurora stolz an, “außer organische Materialien zersetzen und in Energie umwandeln.”
“Oh, nein”, rief Aurora entsetzt, “und jetzt hat sie die Katze gefressen!”
“Na ja”, David winkte ab, “da sie zu hundert Prozent aus organischem Material besteht, dürfte ihr das nicht viel tun.”
Aurora war nicht beruhigt. “Und? Kommen die dann irgendwann von alleine wieder raus oder nisten die sich etwa bei dem armen Tier ein?” Aurora sah David scharf an.
“Hm”, David überlegte. “Nein, stimmt. Irgendwann kommen die Mikroben wieder raus, diese Überlegung ist absolut richtig”, dann lächelte er. “Aber ich habe natürlich eine Sicherung eingebaut. So wäre selbst mir die Sache zu gefährlich. Stell dir vor, einer der Behälter aus organischem Material hat ein Leck, das ich nicht gleich bemerke”, er schüttelte den Kopf. “Nicht auszudenken, was da alles passieren könnte.” Er blickte an Aurora vorbei. Seine Augen wurden immer größer. Vor seinem geistigen Auge schien sich eine Katastrophe abzuspielen. Aurora sah ihn an und schüttelte den Kopf.
“Und?”, fragte sie ungeduldig.
“Äh, was?”, David schreckte auf. “Ach ja. Also, sie sterben ab, sobald sie in Berührung mit Wasser kommen.”
“Na gut, aber warum muss das hier so bestialisch stinken?”
“Na”, David wirkte überrascht, “weil die Mikroben jetzt tot sind, das habe ich dir doch eben erklärt.” Er breitete die Arme aus. “Wenn du lange genug tot bist, fängst du auch an zu stinken. Mikroben sind mikroskopisch klein, bei denen geht das eben sehr viel schneller.”
“Na toll”, sie verdrehte die Augen zur Decke. “Dein Labor machst du aber jetzt selber sauber. Ich arbeite nicht in diesem Gestank.” Damit drehte sie sich um und wollte gehen.
“Äh, Aurora?”, David sah ihr verdutzt nach.
“Was denn noch?” Aurora stand in der halb aufgelösten Tür.
“Darf ich fragen, warum du mich gestört hast?” David hatte die Hände ineinander gelegt und machte ein übertrieben erwartungsvolles Gesicht.
“Ach ja”, Aurora kam zurück. “Lea hat angerufen.”
“Och nein”, Davids Hände rutschten auseinander und seine Arme baumelten kraftlos neben seinem fülligen Bauch. “Nicht schon wieder.”
“Leider doch”, seufzte Aurora.
“Sie soll doch die Finger lassen von diesen …, diesen …,”, er fand kein geeignetes Schimpfwort, “Menschen”, platzte es schließlich aus ihm heraus. “Ich weiß schon, warum ich denen so oft wie möglich aus dem Weg gehe. Es war ein Riesenfehler, ihr zu erlauben alleine zu leben und ihre eigene Identität zu entwickeln.”
“Nun komm, ist doch gut”, Aurora versuchte David zu beruhigen. “Lea ist jung, sie muss sich ausprobieren. Du bist schon mit dreiundsechzig Jahren deine eigenen Wege gegangen.”
“Das waren erstens”, David hob den Daumen, “andere Zeiten damals. Zweitens”, er hob den Zeigefinger dazu, “bin ich ein Mann und drittens”, er wollte den Mittelfinger hochklappen, schaffte es aber erst, als er mit der linken Hand nachhalf, “sind wir hier nicht zu Hause, sondern auf dieser blöden, blauen Murmel.”
“Na und, ist das vielleicht Leas Schuld?”
“Nun fang nicht wieder damit an”, er wand sich unbehaglich. “Wir haben dringendere Probleme.” Sein Gesicht hellte sich wieder auf, “und wer muss wieder kommen und sie lösen?”
“Schon gut”, Aurora nickte.
“Wo sind sie?”, David klang wieder ganz geschäftig.
“In ihrer Wohnung.”
“OK. Ich räume hier zusammen, was ich brauche und dann komme ich.”
“Äh, Chef?”, Hans’ Stimme drang aus dem Nebel im Labor. “Kann ich vielleicht meinen Deckel wieder haben, bevor du gehst?”
“Oh”, David erinnerte sich. “Natürlich. Äh, Aurora?”
Sie nickte. “Ist klar. Aber beeil dich. Ich weiß nicht, wie lange Lea diesen Mann in ihrer Wohnung halten kann.”
David berührte mit der Hand die Wand neben der Tür. Ein grünes Sechseck leuchtete auf und man hörte das Rauschen einer Lüftung. Der Nebel im Labor wurde nach unten abgesaugt und David konnte zum ersten Mal in Ruhe das Ausmaß der Schäden sehen.
“Ach du Scheiße”, seufzte er.
Hans sah ihn mit großen Augen an. “Ist was nicht in Ordnung? Ist sie wieder kaputt?”
“Bitte?”, David sah sich suchend um. “Keine Ahnung. Dazu müsste ich die Schädeldecke erst mal finden.”
Hans sprang auf und wollte beim Suchen helfen, aber David hob abwehrend die Hände.
“Bitte, bleib sitzen. Ihr IEs habt heute schon genug Chaos angerichtet.” Vor dem Labortisch war nichts außer Löchern und schleimiger Flüssigkeit zu sehen. Er runzelte die Stirn und ging zu den Trümmern des Regals, in das er hinein gerutscht war. Vorsichtig hob er Bruchstück für Bruchstück an und räumte es zur Seite. Als er die Seitenwand des Regals hochhob, rief er erfreut, “Ah”, und gleich darauf enttäuscht, “Oh.”
“Warum klingt dieses Oh irgendwie gar nicht gut?”, Hans Stimme war von einer dunklen Vorahnung erfüllt.
“Tja”, David lachte unsicher. “Ich fürchte, die Schädelplatte ist gesplittert, als das Regal draufgefallen ist.”
“Och nee, Chef”, Hans klang sauer. “Ich habe extra gefragt und du hast mir versprochen, dass diesmal nichts passiert.”
“Das stimmt schon, Hans”, David war es unangenehm. “Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass diese blöde Katze das Labor als Rennbahn benutzt.”
“Och Chef.”
“Was soll ich denn machen? Es ist eben passiert.”
“Na super”, meinte Hans genervt. “Und ich darf den Mist jetzt wieder ausbaden.” Er legte sich auf den OPTisch. “Komm, koppel mich von dem Ding da ab und wickele mir den Kopf ein, ich fange schon an Sternchen zu sehen. Ich habe den Sturzhelm vorsichtshalber noch aufgehoben.”
David zuckte die Schultern und macht sich an die Arbeit.
“Sehr schön”, David begutachtete zufrieden den Verband, als er fertig war. “Hätten wir uns in Indien niedergelassen, bräuchtest du nur noch einen roten Punkt auf der Stirn.”
“Spotte nur.” Hans war immer noch sauer.
Schnell hatte David eine Tasche mit verschiedenen Dingen gepackt, die er für Leas Mensch benötigt. Er eilte zur Tür und blieb plötzlich stehen. Nachdenklich blickte er sich um und ging dann zurück zum OPTisch.
“Hans, bring mir doch bitte das Aktivierungs-Interface rechts oben im Regal.”
Er stellte die Tasche ab und holte aus einem der Käfige im hinteren Teil des Labors einen kleinen, leblosen Hund, den er auf den Tisch in den Lichtkegel legte. Aus dem Kühlschrank holte er neue Nervenfasern und eine Flasche mit rotem Aktralin. Dem Hund setzte er eine kleine Haube auf, die er an das Organ anschloss. Dann schüttete er von dem Aktralin in den Behälter, das Organ begann zu pumpen und sofort begann der Hund zu zucken. Nach einer Weile setzte er sich auf und blinzelte David an. Dieser nickte und setzte ihm die Haube ab. Er nahm ihn auf den Arm und streichelte das benommen blinzelnde, kleine Tier.
“Hans, ich muss los”, David blickte sich im Labor um. “Bitte räume ein wenig auf, bis ich wieder da bin.”
Hans grummelte missmutig vor sich hin, David nahm die Tasche in die andere Hand und verließ das Labor mit dem Hund.