Читать книгу Einführung in die Ontologie - Uwe Meixner - Страница 7
ОглавлениеII. Kategorien – eine erste Annäherung
In diesem Kapitel wird gesagt, was unter einer ontologischen Kategorie im strengen und im weiteren Sinn zu verstehen ist.
1. Der Begriff der ontologischen Kategorie
Einen wesentlichen Aspekt der Grundstruktur des Seienden betreffen die ontologischen Kategorien. In dieser Einführung in die Ontologie wird die Behandlung der ontologischen Kategorien einen großen Raum einnehmen: welche Begriffe ontologische Kategorien sind, in welchen Beziehungen sie zueinander stehen, welche sicher erfüllt sind und bei welchen die Erfüllung eher zweifelhaft ist. Aber um eine erste Vorstellung davon zu vermitteln, was denn ontologische Kategorien sind, seien einige Beispiele für Begriffe angeführt, die im weiten Sinn ontologische Kategorien sind und als ontologische Kategorien im strengen Sinn jedenfalls zunächst in Frage kommen: Individuum, Eigenschaft, Sachverhalt, Ereignis.
Im weiteren Verlauf dieses Buches wird sich zeigen, dass es theoretische Vorteile hat, den Begriff der Eigenschaft nicht als ontologische Kategorie im unten beschriebenen strengen Sinn zu verwenden, und beim Begriff des Ereignisses erweist es sich sogar, dass eine solche Verwendung nicht sinnvoll wäre. Aber einstweilen brauchen wir darauf noch keine Rücksicht zu nehmen, und ich werde den Begriff der Eigenschaft (gelegentlich auch den des Ereignisses) bis auf weiteres (also vorübergehend) als eine Kategorie im strengen Sinn gelten lassen, wie Individuum und Sachverhalt.
Ontologische Kategorien als allgemeinste Einteilungsbegriffe
Aus den angeführten Beispielen ist ersichtlich: Ontologische Kategorien sind ganz allgemeine Einteilungsbegriffe für Seiendes überhaupt. Zu betonen ist: Es handelt sich bei ihnen um ganz allgemeine Einteilungsbegriffe. Ein Begriff wie Mensch hingegen, oder Tier oder Lebewesen, wäre viel zu speziell, um als ontologische Kategorie gelten zu können. Die Unterscheidungen, die die letztgenannten Begriffe ermöglichen, sind schon zu partikular, um Thema der Ontologie zu sein. Sie gehören woanders hin, nämlich in die Biologie, in der es nicht um die Grundstrukturen des Seienden geht, sondern darum, was in einem gewissen Teilbereich des Seienden, in einer speziellen Region von ihm, der Fall ist. Selbstverständlich ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Pflanze, z.B., ebenfalls eine Unterscheidung im Bereich des Seienden, aber doch schon eine relativ spezielle – zu speziell für die Ontologie.
Entität ist ein allumfassender ontologischer Begriff
Ontologische Kategorien könnte man auch als „ontologische Arten“ (in Analogie zu „biologische Arten“) bezeichnen, und manche von ihnen dann als „oberste Seinsarten“ – „oberste“ deshalb, weil sie die erste Großeinteilung des Begriffs von allem überhaupt bilden. Der Begriff von allem überhaupt ist der Begriff Entität (nach dem scholastischen Kunstwort „entitas“, das von „ens“ – „seiend“ – abgeleitet ist, wobei „ens“ als Partizip Präsens zu „esse“, das ursprünglich kein Partizip Präsens hatte, ebenfalls eine scholastische Neuprägung ist). Wir alle sind Entitäten. Zahlen sind aber auch Entitäten. Eigenschaften sind Entitäten – und was nicht sonst noch alles ebenfalls. Alles überhaupt ist eine Entität.
Obwohl der Begriff der Entität keine Unterscheidungen ermöglicht, ist es dennoch sehr nützlich, das Kunstwort „Entität“ zur Verfügung zu haben. Man verwendet es, um ganz allgemein über Seiendes – sei es wirklich, bloß möglich oder gar unmöglich – zu sprechen. Der Begriff der Entität ist jedoch klarerweise keine Kategorie, denn er ist kein Einteilungsbegriff, trägt er doch zu keinerlei Einteilung bei. (Weiteres zum Begriff Entität findet sich im nächsten Kapitel.)
Die obersten Seinsarten, die obersten ontologischen Kategorien, generieren die erste Großeinteilung des Begriffs der Entität, d.h.: sie bedingen die erste vollständige Aufteilung aller Entitäten in separate Großklassen. (Solche Großklassen werden wie die sie bestimmenden Begriffe, denen sie umkehrbar eindeutig zugeordnet sind, ebenfalls oft als „(ontologische) Kategorien“ bezeichnet; auch ich werde das hier gelegentlich tun, etwa wenn ich von den Entitäten „in einer (ontologischen) Kategorie“ spreche.)
Objekt ist eine oberste Kategorie
Wir werden jedoch auch ontologische Kategorien betrachten, die ihrerseits Großeinteilungen der obersten Seinsarten bedingen (wobei offen gelassen werden kann, ob jede der Einteilungsklassen ein Element hat oder nicht), oder gar Großeinteilungen bedingen, die noch tiefer in der Einteilungshierarchie angesiedelt sind. Beispielsweise gibt es ein gewisses sehr umfassendes ontologisches Gebiet, nämlich dasjenige, das unter die Kategorie Objekt (eine der obersten Seinsarten) fällt. Nun können nur Objekte Individuen sein, und manche Objekte sind tatsächlich Individuen; andere Objekte sind jedoch keine Individuen, sondern fallen unter eine andere Kategorie von Objekten.
Individuum ist eine niedrigere Kategorie
Bei dem Begriff Individuum haben wir es offensichtlich nicht mit einer obersten Seinsart zu tun, aber immerhin bedingt dieser Begriff zusammen mit anderen Begriffen eine Großeinteilung einer gewissen obersten Seinsart (nämlich der Kategorie Objekt), und das macht den Begriff Individuum zu einer ontologischen Kategorie: zu einer solchen zweiter Ordnung, während die obersten Seinsarten selbst ontologische Kategorien erster Ordnung sind.
Ontologische Kategorien im strengen und im weiten Sinn
Die Einteilungsbegriffe, die in der beschriebenen Weise als „Bausteine“ im vom Theoretiker gewählten hierarchischen Klassifikationssystem auf sehr allgemeinem Niveau Klassifikationen für den Gesamtbereich des Seienden induzieren, bilden die ontologischen Kategorien im strengen Sinn. Sie sind die ontologischen Kategorien, die das Kategoriensystem ausmachen. In einem weiteren Sinn kann jeder sehr allgemeine Einteilungsbegriff als „ontologische Kategorie“ bezeichnet werden, auch dann, wenn er nicht dem gewählten Klassifikationssystem oder gar überhaupt keinem erwogenen Klassifikationssystem angehört. Da in diesem Buch ausschließlich von ontologischen Kategorien die Rede ist, sage ich oft einfach „Kategorie(n)“ statt „ontologische Kategorie(n)“.
Ich lasse es offen, bis zu welcher Unterteilungsstufe hinab die Einteilungsbegriffe eines Klassifikationssystems für alles überhaupt ontologische Kategorien, ontologische Arten bleiben. An irgendeinem Punkt der Besonderung wird die Grenze erreicht, wo es mit den ontologischen Unterscheidungen ein Ende hat, wo man also die Grundstrukturen des Seienden verlässt, weil die Einteilungen zu fein werden, zu speziell. Die Grenze kann aber nicht scharf gezogen werden. Wo bewegt man sich noch im Rahmen der Allgemeinen Metaphysik, wo ist man schon zur Speziellen Metaphysik oder gar zu einer gewissen Einzelwissenschaft übergegangen? Das lässt sich nicht eindeutig ohne Willkür entscheiden. Der Grund hierfür ist dieser: Eine Formulierung wie „Grundstrukturen des Seienden“ ist durchaus vage. Wann kann man noch sagen, „das ist eine Grundunterscheidung, eine Grundstruktur“, und wann müsste man schon sagen, „das ist eher etwas Spezielles, nicht so Grundlegendes, nicht so Allgemeines“? Die Differenzierung ist sicherlich fließend – und verfließend. Doch gibt es andererseits auch ganz eindeutige Fälle von Begriffen, die als Kategorien in Frage kommen, sowie ganz eindeutige Fälle von Begriffen, die das nicht tun. Ich habe oben einige Beispiele angegeben.
Kategorien kennen keine Kontingenz
Auf eine allgemeine modale Eigentümlichkeit von Kategorien ist an dieser Stelle hinzuweisen: Alles, was unter eine Kategorie fällt, fällt mit begrifflicher Notwendigkeit unter diese, und alles, was nicht unter eine Kategorie fällt, fällt mit begrifflicher Notwendigkeit nicht unter diese. Wenn z. B. x ein Individuum ist, dann ist x begrifflich (oder logisch) notwendigerweise ein Individuum, und wenn x kein Individuum ist, dann ist x begrifflich notwendigerweise kein Individuum. In der Anwendung der ontologischen Kategorien gibt es keine Kontingenz (also keinen Fall von: es ist zwar so, aber es könnte auch anders sein). Aber die Abwesenheit von Kontingenz in der Anwendung der Kategorien richtet selbstverständlich nichts aus in der Beantwortung der manchmal überaus schwierigen Frage, ob gewisse Entitäten unter eine gewisse Kategorie K fallen oder aber unter eine andere. (Wir werden auf derartige Fragen stoßen; siehe Kap. X.) Es ist übrigens nicht so, dass alle ontologischen Begriffe Kontingenz ausschließen; gewisse nichtkategoriale ontologische Begriffe – siehe das nächste Kapitel – tun das offenbar nicht.
Ein wesentlicher Teilbereich der Ontologie ist die Lehre von den Kategorien, von den ontologischen Arten. Sie wird ein Hauptthema dieser Einführung sein. (Die erste systematische Abhandlung hierzu ist Aristoteles‘ Kategorienschrift, [2-1].) Aber eben nicht alle ontologischen Begriffe sind Kategorien, sondern es gibt auch kategorienübergreifende ontologische Begriffe; mit solchen Begriffen werde ich mich als Nächstes allgemein befassen. Der Inhalt der Ontologie ist wesentlich bestimmt durch das Zusammenspiel der Kategorien und der kategorienübergreifenden ontologischen Begriffe, wie an seinem Ort in diesem Buch mit einiger Detailliertheit ersichtlich werden wird.
2. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden ontologische Kategorien im weiten Sinn bestimmt als allgemeinste Einteilungsbegriffe. Ontologische Kategorien im strengen Sinn sind hingegen allgemeinste Einteilungsbegriffe, die einem Klassifikationssystem aller Entitäten (einer möglicherweise mehrstufigen Einteilung des Begriffs der Entität) angehören. Ontologische Kategorien treffen mit Notwendigkeit zu, wo sie zutreffen, und treffen mit Notwendigkeit nicht zu, wo sie nicht zutreffen.
Lektürehinweise
Um ein gut ausgearbeitetes mehrstufiges Klassifikationssystem vor Augen zu haben, werde etwa das zoologische Klassifikationssystem betrachtet, dessen Stufen oder Einteilungsebenen mit ihren üblichen Bezeichnungen in [2-2], S. 406, vollständig angegeben sind (samt einem Klassifikationsbeispiel). Um ein Gefühl für die Sache der kategorialen Klassifikation im weiteren ontologischen Kontext zu bekommen, sei verwiesen auf [2-1] und – in moderner Perspektive – auf [2-3].
Fragen und Übungen
Wählen Sie sich einen bestimmten Bereich (z. B. die Einwohner Ihrer Heimatstadt zu einem bestimmten Zeitpunkt) und geben Sie ein sinnvolles zweistufiges Klassifikationssystem für diesen Bereich an. Geben Sie für denselben Bereich auch ein mindestens zweistufiges nicht sinnvolles Klassifikationssystem an. Was genau ist der Grund dafür, dass das eine Klassifikationssystem sinnvoll ist und das andere nicht?