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PAUL1

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Keine Frage, Paul fühlt sich pudelwohl: Das blaue Sofa ist weich und im Gegensatz zu seinem alten fleckenfrei, und er muss beim Bingewatching nicht mehr an der besten Stelle dringend pinkeln gehen.

Wozu auch die unangenehmen Dinge des Lebens im digitalen Tod simulieren?

Nach dem Staffelfinale von »Doktor Sonderbär übt Vergeltung« sitzt Paul etwas ratlos da. Unentschlossen navigiert er durch die Menüs seines Videosystems. Er verharrt kurz bei der Aufzeichnung seiner Beerdigung, aber die sieht er sich lieber ein andermal an. Ah, in ein paar Minuten beginnt die Übertragung eines Fußballspiels. Wuppertal gegen Rot-Weiss Essen. Eine Art Derby, Randale garantiert, auch wenn es um nichts geht. Ist Amateurliga. Für höhere Klassen ist das Abo zu teuer. Da muss Paul sich mit Aufzeichnungen begnügen.

Pauls Blick fällt auf die Küchenzeile. Zeit für einen Imbiss!

Er erhebt sich, freut sich, dass im E-Tod weder Gliedmaßen einschlafen noch Muskeln durch langes Herumfläzen ermüden, und läuft auf Socken zum Kühlschrank. Paul schnappt sich eine Flasche Erdbeerjoghurt und nippt genüsslich. Er wirft einen Blick auf das Label. Detailliert bis hin zu den Nährwertangaben und der Unbedenklichkeitserklärung für digitale Geschmacksstoffe. Künstliches Aroma, natürlich – echte Erdbeeren kann man hier kaum erwarten. »Du schmeckst gar nicht übel«, murmelt Paul.

Er nimmt noch einen Schluck, dann stellt er den Joghurt wieder in den Kühlschrank. Bis zum nächsten Mal wird sich die Flasche aufgefüllt haben. Paul grinst. Probleme mit Plastikmüll gibt es hier unten nicht.

»Unten«? Hat er das wirklich gerade gedacht?

Paul tritt ans Panoramafenster. Gerade geht die Sonne auf. Das tut sie immer auf diesem Server, die ewige Morgenstimmung kennt Paul aus der Werbung. Sanftes, goldenes Licht flutet die Straßen der Stadt. Sieht ein bisschen aus wie SimCity, aber wirkt echt total echt.

Pauls Wohnung liegt in einem Haus an einem Hügel, wie alle anderen auch. Die Aussicht ist phänomenal. Er stellt sich vor, dass in den anderen Häusern auch gerade Menschen an ihren Fenstern stehen und die Aussicht genießen. Sicher wird Paul hier neue Freunde finden. Vielleicht sogar …

Es klingelt.

Irritiert dreht Paul sich um. Er erwartet keinen Besuch. Er kennt niemanden hier … oder doch?

»Herein«, sagt Paul. Es wird schon kein Räuber oder Staubsaugervertreter sein.

Die Wohnungstür klappt auf, und eine Frau tritt ein. Paul hat sie noch nie zuvor gesehen. Schminke, Kleidung und Oberweite lassen allerdings keine Zweifel an den Absichten der Besucherin aufkommen.

»Hallo, ich bin Emma.« Eine tiefe Stimme, ein Hauch von Duft. Dunkle, gelockte Haare, silberne Armreife, exotisch, eindeutig.

»Ich …« Paul lächelt verlegen. »Ich habe eine Freundin.«

Emma nähert sich, hinter ihr schließt sich die Wohnungstür automatisch. »Glaubst du, sie wird uns hier überraschen?«

»Wohl kaum«, sagt Paul. »Sie lebt noch.«

»Dann musst du ja ganz einsam sein«, flüstert Emma.

Paul hebt abwehrend die Hände. Das geht ihm dann doch zu schnell. »Ehrlich«, sagt er, »da muss ein Missverständnis vorliegen.«

»Wir können uns auch einfach nur unterhalten«, sagt Emma mit normaler Stimme. »Ich bin ein Multifunktions-Bot.«

»Oh«, staunt Paul. »Du bist … gar nicht echt?«

»So echt wie das Joghurt auf deinem T-Shirt, Süßer.«

Erleichtert zeigt Paul auf das Sofa. Mit Joghurt sprechen, das traut er sich gerade noch zu. »Sollen wir uns setzen?«

»Natürlich«, sagt Emma. »Soll ich dir die Füße massieren? Das entspannt!«

»Nein!«, ruft Paul. »Das kitzelt!«

Emma lächelt den Einwand fort. »Du bist süß.« Sie zeigt zum Tisch. »Das Handbuch hast du vollständig gelesen?«

»Natürlich«, lügt Paul.

»Dann weißt du, dass das Anfänger-Tutorial nur an den ersten drei Tagen zur Verfügung steht.«

»Welches Anfänger-Tutorial?«

Emma lacht kurz und hell. »Du bist wirklich süß. Ich bin das Anfänger-Tutorial.«

»Ach so«, brummt Paul. »Und ich dachte schon, wir könnten vielleicht Freunde werden.«

»Sweetheart«, sagt Emma, »such dir dafür lieber echte Menschen. Bots sind als Freunde in etwa so hilfreich wie Erdbeerjoghurt.«

Paul schaut sich betreten das Teppichmuster an. Es erinnert ihn an etwas, aber er kommt einfach nicht drauf.

Dann spürt er Emmas Hand auf seinem Knie. Er sieht sie an, findet Mitgefühl in ihrem Lächeln, ganz ohne Spott oder Überheblichkeit. »Es gibt Stammtische, Sportvereine und Selbsthilfegruppen«, sagt sie ruhig. »Such dir was aus und geh durch diese Tür hinaus in die Welt. Keine Sorge, sie ist tausendmal lebendiger als ein Friedhof. Aber den ersten Schritt musst du selbst tun, niemand nimmt ihn dir ab.«

»Verstehe ich«, murmelt Paul. »Früher habe ich gerne gekickt. Hat Spaß gemacht mit den Jungs.«

Emma nickt. »Das ist doch ein Anfang.« Dann hält sie ihm ein Tablet hin, dessen Bildschirm ein fröhliches Emoji zeigt. »Bitte bewerte dieses Tutorial!«

»Aber es gibt nur eine Option!«

»Oh, das muss ein Fehler sein«, sagt Emma und lächelt unverbindlich. »Aber wolltest du wirklich …?«

»Nein, nein!«, versichert Paul und tippt auf das Emoji.

»Danke«, sagt Emma. »Und wenn du mich in den nächsten Tagen nochmal brauchst …«

»Dann rufe ich an?«

»Nein«, versetzt Emma, »du musst dich nur einsam fühlen. Tschüssi!«

Damit lässt sie ihn stehen und geht.

Paul starrt die geschlossene Tür noch lange an. Er hat den dringenden Verdacht, dass ihm der Server seine Traumfrau geschickt hat. Maßgeschneidert gewissermaßen, schließlich kennt das System alle seine Vorlieben.

Und was hat er mit ihr gemacht? Nur geredet.

Das hier ist der E-Tod, wieso sollte jemand mit der perfekten Frau nur plaudern, statt ins Bett zu gehen?

Paul hat das unbestimmte Gefühl, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Aber diesen Gedanken wischt er fort. Er sucht im Handbuch nach Links zu Freizeit-Fußballmannschaften und findet einen gewissen FC Südfriedhof.

Im Handumdrehen hat er ein Probetraining vereinbart. Paul geht hinunter auf die Straße und wartet auf den Bus. Eigentlich könnten E-Tote ja ohne Zeitverlust reisen, so ähnlich wie Avatare in einem Rollenspiel. Aber auf e-tot.de ist das ein Premium-Feature: Der Bus ist kostenlos, die U-Bahn immerhin für zwei Fahrten pro Woche, aber für jeden Tür-zu-Tür-Eiltransport verlangen sie zwei Coins neunzig.

Zum Glück hat Paul jede Menge Zeit.

Der Bus ist rot und doppelstöckig. Über die Außenseite flimmert Reklame für die neue Netflix-Serie mit Arnold Schwarzenegger. Unten sitzt eine Art Kegelclub und trinkt Eierlikör um die Wette. Paul sucht sich einen Platz auf dem Aussichtsdeck, das bis auf einen auf der Rückbank pennenden Trottel leer ist.

Paul genießt die Tour durch die sommerliche Stadt und kann sich nicht sattsehen: Apartments, Parks, Shops und Spielhallen folgen in buntem Wechsel, während der Bus sich dem Viertel namens Südfriedhof nähert.

Als er am Sportplatz eintrifft, nimmt Paul sofort ein Fußballer mit Bart und Glatze in Empfang. »Leo!«, ruft er.

»Nein, Paul«, sagt Paul.

»Witzig«, sagt Leo. »Du kommst genau richtig.«

»Was heißt das?« Verwirrt sieht Paul sich um. Am Spielfeldrand machen sich einige Fußballer warm, und ungefähr die Hälfte trägt nicht die schwarzbraunen Trikots des FC Südfriedhof, sondern blau-weiße.

»Schnell, zieh dich um, gleich ist Anstoß und ohne dich wären wir nur neun!«

»Aber …« Paul zögert, schaut sich den Gegner an. Hauptsächlich ältere Herren, viele davon mit beträchtlichem Übergewicht. Die schnaufen jetzt schon, als hätten sie 90 Minuten in den Knochen.

»Wo ist die Kabi…«

»Keine Zeit!«, drängt Leo und drückt ihm einen Satz Spielkleidung in die Hand. »Mach schon, dir guckt schon keiner den schwarzen Balken weg. Kannst du links hinten spielen?«

»Äh«, macht Paul und schält sich aus seinen Klamotten. »Ich hoffe es«, gibt er zurück.

Kaum steckt Paul im Friedhofsbraun seines Teams, beginnt das Spiel.

Die Zeit vergeht wie im Flug, aber der Gegner ist stärker als erwartet. Kurz vor Schluss steht es 0 : 0 und der Torwart wirft den Ball zu Paul. »Alles nach vorne!«, ruft Lasse, der Kapitän. Paul schlägt die Pille mit aller Kraft Richtung gegnerischer Strafraum. Der hochgewachsene Südfriedhof-Mittelstürmer streckt sich, erwischt den Ball und schießt.

Das Kunstleder fliegt knapp am Tor vorbei.

»Der hätte doch drin sein müssen!«, schreit Kevin. »Scheiß Simu!«

Kurz darauf ertönt der Schlusspfiff.

Während Kevin zum Schiri rennt und anfängt, ihn wüst zu beschimpfen, klopft Leo Paul auf die Schulter. »Gar nicht schlecht!«

»Danke«, bringt Paul hervor und stöhnt.

»Warst du früher ein bekannter Profi? Paul … Pogba vielleicht?«

Paul lacht, dann hält er sich die Seite. Der Server ist da gnadenlos: Kein Training, ergo Seitenstiche. »Nochmal danke«, sagt er. »Paul Stein. Der Pogba lebt meines Wissens noch. Hab ihn letztens als Experten bei irgendeinem Europapokalspiel gesehen.«

Hinter Paul gibt es Geschrei, er dreht sich um und sieht, dass mehrere Kameraden Kevin davon abhalten müssen, dem Schiri eine runterzuhauen.

»Schlechter Verlierer«, kommentiert Leo. »Jeder will gewinnen. Aber er nimmt das Spiel einfach zu ernst. Wir spielen in der elften E-Dead-Liga, nicht um die Weltmeisterschaft.«

»E-Sport für Tote«, nickt Paul. »Es fühlt sich echt an, mitsamt Pech in der Nachspielzeit.«

»Es ist so echt wie dein Durst.« Leo grinst. »Gehen wir nach dem Duschen noch was trinken?«

Paul lacht. »Klarer Fall!«

Sie kehren schräg gegenüber in die Fußball-Kneipe ein. Die Einrichtung ist pixelig, das Bier billig. Auf einem Bildschirm läuft irgendein Spiel der thailändischen zweiten Liga. Die Sportsfreunde vom FC Südfriedhof setzen auf das Team mit den schöneren Trikots: lila und gelb gestreift.

Inzwischen hat sich sogar Kevin beruhigt. »Hinterher ist ihm das immer total peinlich«, sagt Leo. »Dass er das Tor nicht getroffen hat – und dass er so ein mieser Verlierer ist.«

»Hat trotzdem Spaß gemacht«, entgegnet Paul entspannt. »Wäre gern der Neue in eurem Team. Wenn ihr mich wollt, obwohl ich kein Pogba bin.«

»Klar. Du warst nicht schlecht.«

Paul verzieht das Gesicht. »War mal besser«, meint er.

»Der Ball fliegt anders in simulierter Luft«, behauptet Leo.

»Das erklärt natürlich alles«, grinst Paul. »Oder es liegt an den pixeligen Schuhen.«

»Gute Ausreden erfinden zu können, zeichnet den echten Profi aus«, versetzt Leo und hebt das Glas. »Prost!«

»Prost.«

Beim dritten Bier erzählt Leo, dass er ein 10.000-Jahre-Abo hat.

»Woher hast du die Kohle?«, staunt Paul.

Leo nimmt einen weiteren Schluck. »Ich war pleite«, sagt er dann. »Plötzlich bot mir ein reicher Russe viel Geld für meine Organe. Anscheinend habe ich eine seltene Blutgruppe oder so. Hatte

Paul umklammert das Glas, als wäre es sein Leben. »Du hast dich … verkauft? Für … eine Ewigkeit im E-Tod?«

»Jepp«, macht Leo. »Ich hatte echt Glück.«


Tutorial für E-Tod-Newbies: Telefonieren

Dein Abo umfasst selbstverständlich eine Flatrate für Anrufe in die gesamte EU. Beachte die Sonderregelungen für Großbritannien und Nordirland. Du kannst ebenfalls angerufen werden, aber da an E-Tote leider keine SIM-Karten ausgegeben werden können, verfügst du nur über eine virtuelle Festnetznummer. Wir empfehlen die Kommunikation über Sprach- oder Videochat. Mit unserer Immer-nah-App kannst du eine permanente Verbindung mit einem Smart-Home- oder Cloud-Lautsprechersystem bei deinen Hinterbliebenen erleben. Der Preis in den ersten drei Monaten beträgt nur 4,99 Coins, und nur heute schenken wir dir ein Startguthaben von 19,99 Coins!

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