Читать книгу Europa - Tragödie eines Mondes - Uwe Roth - Страница 6
ОглавлениеProlog
Große, lange Lastengleiter schwebten über der Baustelle, in der seit einiger Zeit Xiron und sein Team an der Errichtung neuer, modernster Wohneinheiten arbeiteten. Diese Lastengleiter schwebten mit ihrer schweren Last lautlos über der großen Baustelle. Nur das leise Summen der straffen Taue drang in die empfindlichen Ohren des Maboriers. Die stetige, leichte Strömung ließ die Taue in einem gleichmäßigen Rhythmus schwingen. Ganz leicht wippte die große Dachkonstruktion, die an vier Tauen unter dem Lastengleiter hing, in der stetigen Strömung dieser Unterwasserwelt hin und her. Jeden Augenblick würde die Crew des Lastengleiters damit beginnen, die große Muschelplatte herabzulassen, um sie passgenau auf die Unterkonstruktion der neuen Wohneinheit zu setzen. Im selben Augenblick drehten sich auch schon die mächtigen Umlenkrollen, die unterhalb des Lastengleiters zur Hälfte herauslugten und die Taue aus dem Innern des Lastengleiters entließen. Somit erhöhte sich nun langsam die Länge der Taue. Diese Verlängerung der Taue bewirkte eine Veränderung der Eigenschwingung, wie eine Gitarrensaite, die man entspannt.
So vibrierten nun die Taue in einer niedrigeren Frequenz als zuvor. Die dicken Taue durchschnitten das Wasser mit einem immer dumpferen und lauter werdenden Vibrieren, dass Xiron deutlich hören konnte. Für ihn der Hinweis, dass sich nun die Last nicht nur herabsenkte, sondern auch noch gegen die Strömung drehte. Ihm war bewusst, dass dieser Moment die volle Konzentration des Lastenpersonals verlangte. Schon die kleinste Unachtsamkeit würde die große Muschelplatte unkontrolliert in der leichten Strömung, die über der Stadt herrschte, pendeln lassen.
Die vier Taue, die an jeder Seite der ovalen Muschelplatte angebracht waren, beulten sich merklich in Richtung der Strömung aus. Während die Platte sich senkte, schoss das Wasser durch die vorbereiteten Öffnungen, die es den Bewohnern später ermöglichen sollten, aus ihrer Wohnung ins Freie zu schwimmen.
So senkte sich das neue Dach der neu errichteten Wohneinheit immer mehr seinem Endpunkt entgegen. Jeden Augenblick würde sie sich auf die Wände legen, die ebenfalls aus großen Muschelplatten bestanden. Dieses Dach sollte den Abschluss der nun schon fünfstöckigen Wohneinheit bilden. Die vorherigen Etagen konnte Xiron mit seinem Team problemlos auf die darunter befindlichen Wände aufsetzen. Ohne jegliche Probleme fügte sich eine Etage auf die nächste. Er war äußerst zufrieden mit sich und vor allem mit seinen Arbeitern, die die entscheidenden Arbeitsschritte ausführten.
„Ihr müsst noch etwas weiter nach links“, rief er seinen Mitarbeitern über Funk zu, die versuchten, die Platte in Empfang zu nehmen, um sie anschließend in die vorbereiteten Verankerungen zu versenken.
Mit kräftigen Flossenbewegungen stemmten sie sich gegen die schwere Platte, die sich nur langsam nach links bewegte. Unentwegt sogen sie dabei Atemwasser in ihre Kiemen ein, um ihren mit dicken Muskeln bepackten Körpern genug Energie zur Verfügung zu stellen, damit sie den enormen Anstrengungen gewachsen waren. Ihre Schuppen schimmerten durch diese immerwährenden Pumpbewegungen in einem glänzenden, pulsierenden Blau. Mit größter Anstrengung versuchten sie, gegen die große Last anzukämpfen. Deren Trägheit erforderte es von Xirons Team, die letzten Kraftreserven zu aktivieren, um diese große letzte Platte zu ihrem letzten Ruheplatz zu manövrieren.
Nur langsam driftete die Muschelplatte in die richtige Position. Xiron ergriff erneut sein Funkgerät, um seinen Leuten mitzuteilen, dass sich die Platte immer mehr seiner Endposition zubewegte. Genau in diesem Moment sah er, wie die große Platte, ohne Vorwarnung, plötzlich anfing unkontrolliert zu schwanken. Nur leicht, aber dennoch ausreichend, um seinen Leuten noch mehr körperliche Kraft abzuverlangen, schwebte sie somit immer weiter über den Verankerungsbereich hinweg. Genau vor solchen unvorhersehbaren Ereignissen fürchtete sich Xiron. Denn schon die kleinste Welle könnte das gesamte Vorhaben scheitern lassen. Daher hoffte Xiron, dass es sich nur um eine schwache Welle handelte, die sich schnell über die Baustelle hinweg bewegen würde.
Wahrscheinlich gab es schon wieder mal eines von diesen Kernbeben, die in unbestimmten Abständen in Maborien auftraten. Irgendwo am Ende ihrer Welt erzeugte solch ein Kernbeben diese Welle, die daraufhin unaufhörlich durch Maborien kroch und sich schließlich, immer schwächer werdend, am anderen Ende von Maborien auflöste. Es konnten viele Zyklen vergehen, ehe solch eine Welle in sich zusammenbrach. Seine Erfahrung als Bauleiter riet ihm in einem solchen Fall dazu, sofort jegliche Weiterarbeit einzustellen. Erst wenn die Welle vorübergezogen war, würde er seinen Leuten die Weiterarbeit erlauben.
Er sah zu dem Lastengleiter hinauf, den er völlig aus den Augen verloren hatte. Eigentlich brauchte er auch während dieses Abschnittes der Absenkung nicht auf den Lastengleiter achten, da dieser seine korrekte Position schon längst eingenommen hatte. Der Crew des Lastengleiters oblag es nun, ihn in Position zu halten, damit seine Crew die Deckenplatte ordnungsgemäß verankern konnte. Aber, wie Xiron mit Schrecken erkennen musste, diese starke Strömung drängte offensichtlich den Lastengleiter ebenfalls von seiner Position weg.
Ehe er seinen Leuten den Befehl geben konnte, für diesen Augenblick die Arbeit ruhen zu lassen, stellte er sein Funkgerät auf die Frequenz des Lastengleiterpersonals.
„Hey, was macht ihr denn da? Habt ihr die Strömung nicht bemerkt?“, rief er erschrocken über Funk dem Kapitän des Lastengleiters zu. Er schaute fassungslos dem Schauspiel zu, dass nun an Intensität zu nahm. Entsetzt sah er, wie der Lastengleiter immer mehr seine Position verließ. Aber offensichtlich bemerkte der Kapitän die Welle bereits, denn er sah, wie kleine Steuerungsdüsen am Lastengleiter aktiviert wurden, um den Lastengleiter wieder in Position zu bringen.
„Wir haben sie bemerkt und versuchen unser Bestes!“, ertönte es genervt aus Xirons Funkgerät.
Der Kapitän des Lastengleiters, mit dem Xiron nicht das erste Mal zusammenarbeitete, war ein fähiger Maborier. Das konnte Xiron schon oft auf ähnlichen Baustellen beobachten. Er war sich sicher, dass der Kapitän in diesem Moment alle Flossenhände zu tun hatte, um gegen diese starke Strömung anzukämpfen. Die Welle, die den Lastengleiter in seinen Griff nahm, schien eine größere Welle als sonst zu sein. Xiron konnte die unzähligen herumschwimmenden, niederen Lebensformen erkennen, die sich mit der Welle mitbewegten. In einem langgezogenen Strom, der sich deutlich von dem umgebenen Bereich unterschied, zog dieses Band aus mitgerissenem Leben über seine Baustelle hinweg.
Solch eine heftige Welle hatte er in seiner langen Tätigkeit als Bauleiter noch nie gesehen. Sie übertraf alles, was er bis dahin gesehen hatte. Das Erschreckende war aber, dass diese Welle offensichtlich nicht die letzte war, die auf den Lastengleiter zu raste.
In der Ferne überquerte eine Vakuumbahn die Stadt, die in diesem Moment von einer unsichtbaren, mächtigen Flossenhand ergriffen und mitgerissen wurde. Xiron sah, wie sich die Röhre der Vakuumbahn, die in einer geraden Linie verlief, in seine Richtung ausbeulte und schließlich unter dem enormen Druck der heranrollenden Superwelle nachgab und auseinanderriss.
Die beiden zerberstenden Röhrenenden wurden mit der Strömung in Xirons Richtung gebogen und sogen augenblicklich Unmengen Wasser in die Medium freien Röhrenenden ein. Aus dem rechten, zerfransten Röhrenende schoss wenige Sekunden nach dieser Katastrophe eine Vakuumbahn ins offene Terrain, die aber durch das einströmende Wasser in ihrem Sturz gebremst wurde. Nachdem die Bahn dennoch einen weiten Bogen über die Stadt zeichnete, stürzte die Bahn schließlich in die Wohneinheiten Darimars.
In einem flachen Winkel durchschnitt die Bahn erst die Dächer mehrerer Wohneinheiten, um letztendlich, die aus massiven Muschelplatten bestehenden Wände der Wohneinheiten zu durchbohren. Die ersten Waggons der Bahn behielten ihren nach vorn gerichteten Sturz noch bei. Während die Bahn weiter nach vorn schoss, neigten sich aber die hinteren Waggons zur Seite und mähten so komplette Wohneinheitenzeilen nieder. Ein Waggon raste so unglücklich gegen die Kante eines Daches einer Wohneinheit, dass der Waggon der Länge nach in der Mitte zerteilt wurde. Xiron erkannte unzählige Passagiere, die zerstückelt aus dem Waggon geschleudert wurden und nun im Wasser mit den Trümmerteilen herumschwebten.
Nur langsam begriff Xiron, dass diese gewaltige Welle auch auf seine Baustelle zuraste. Sein Blick trennte sich daraufhin augenblicklich von dem schrecklichen Ereignis, dass unaufhaltsam auch seiner Baustelle bevorstand. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Lastengleiter zu, der immer noch die große Muschelplatte am Haken hielt. Die Steuerdüsen stellten bereits ihre Arbeit ein, da die kleine Welle vorübergezogen war. Ehe er das Funkgerät erneut zu seinem Mund führen konnte, um die Crew des Lastengleiters zu warnen, geschah schon das Unglaubliche. Ganz langsam, aber mit einer unsagbaren Endgültigkeit entkrampfte sich seine Flossenhand, die mittlerweile sein Funkgerät fest umschlossen hielt und entließ dieses nun ins Lebenswasser. Dessen noch leichte Strömung trug das sanft taumelnde Funkgerät von Xiron fort. Vor dem herannahenden Schrecken weiteten sich seine großen, runden Augen und schienen so seinen gesamten flachen Kopf auszufüllen. Sie registrierten die vielen, kaum sichtbaren, winzigen Lebewesen, die so derb fortbewegt wurden, dass für Xiron keine Chance mehr bestand, irgendetwas zu unternehmen.
Ihm war bewusst, dass der Kapitän des Lastengleiters den Widrigkeiten der Welle voll und ganz ausgeliefert war. Der Lastengleiter wurde ebenso wie die kleinen Lebewesen so derb mitgerissen, dass sich die Taue zum Bersten spannten. Der Lastengleiter drehte sich daraufhin um 90 Grad in die Welle und wurde augenblicklich mitgerissen. Der Kapitän des Lastengleiters aktivierte im selben Augenblick erneut die Steuerdüsen, um sich gegen die Welle zu stemmen. Erst langsam, aber immer mehr mit der Eigengeschwindigkeit der Welle, entfernte sich der Lastengleiter dennoch von der Baustelle weg. Die Muscheldecke setzte sich ebenfalls in Bewegung. Seine Mitarbeiter wurden ebenso von der Strömung durchs Wasser gewirbelt wie die unzähligen Arbeitsutensilien seiner Crew. Wäre die Platte nach oben mitgerissen wurden, wäre vielleicht nicht zu viel Schaden entstanden. Da aber der Lastengleiter eher nach unten gerissen wurde, während die Strömung ihn mitriss, senkte sich die große Platte hinab. So bewegte sie sich immer weiter in die schon fertiggestellten Wohneinheiten und riss unzählige Etagen dieser nieder. Wie eine riesige Flossenhand, die eine Spielzeugstadt niedermähte. Immer wieder wurde diese Zerstörungsfahrt durch die mächtigen, hochragenden Korallenarme gebremst, in deren Konstrukt die einzelnen Wohneinheiten hingen. Unter ohrenbetäubendem Krachen brach ein Korallenarm nach dem nächsten und riss Teile der Wohneinheiten, die in diesem Konstrukt verankert waren, mit sich. So hinterließ die Deckenplatte eine Schneise der Zerstörung. Erst als bereits unzählige Wohneinheitenzeilen von der Deckenplatte niedergemäht wurden, wirkte die Deckenplatte wie ein Anker, der sich in den so entstandenen Trümmern der Korallenverästelungen festkeilte.
So wurde nach einigen Dutzend Metern diese Zerstörungsfahrt beendet und der Lastengleiter stürzte ebenfalls in die Wohneinheiten. Aus dem Funkgerät ertönten die verzweifelten Rufe des Lastengleiterkapitäns. Trotz dessen, dass das Funkgerät schon einige Meter von Xiron fortgetrieben wurde, konnte er nun die zu entsetzten Schmerzensschreien werdenden Flüche des Kapitäns hören. Das Medium Wasser war eben ein guter Schallleiter.
Die Flüche des Kapitäns ebbten aber schnell ab. Dies war nicht nur dem Umstand geschuldet, dass der Kapitän nun nicht mehr in der Lage war, Schmerzensschreie über den Äther zu senden, sondern vor allem deshalb, weil sich das Funkgerät immer schneller von Xiron fortbewegte.
Die Welle erreichte nun auch seinen Schwebepunkt, den er in den letzten Minuten innehielt. Das dumpfe Donnern der zerberstenden Trümmerteile, dass Xiron darauf vernahm, ebbte aber schnell ab. Hier schien das Wasser die auseinander berstenden Trümmerteile in ihrem Schallgetöse abzudämpfen. Deshalb konnten sich seine Ohren nur bedingt in Richtung des zerstörerischen Donnerns ausrichten. Langsam schmiegten sie sich daraufhin wieder an seinen flachen Kopf an.
Aber nur wenige Sekunden später spürte Xiron, wie sich seine Ohren von einem noch gewaltigeren Donnern wiederaufrichteten. Noch die Katastrophe in den Nervenbahnen als Schallquelle gespeichert, bewegten sie sich als allererstes in Richtung dieser zerstörerischen Katastrophe. Aber Xiron spürte schnell, wie seine Ohren nicht dies als Quelle des erneuten Donnerns ausmachten. Unentwegt versuchten sie sich in die Richtung zu bewegen, von der das Donnern wirklich zu kommen schien. Aber egal wie sehr sich Xiron anstrengte, seine Ohren konnten die Quelle nicht lokalisieren. Das grollende Donnern schien von überall her zu kommen. Es war ein gewaltiges Grollen. So etwas hatte Xiron noch nie gehört. Erst vermutete er, dass es sich um ein weiteres, noch mächtigeres Kernbeben handeln könnte. Aber diese Kernbeben erwiesen sich nie als so gewaltig. Und schon gar nicht in Begleitung eines solchen unheimlichen Grollens. Langsam löste sich Xiron aus seiner Lethargie, die ihn wie angewurzelt hier verharren ließ.
Er sah zu seinen Mitarbeitern, die er aber nicht mehr lokalisieren konnte. Überall, rings um ihn herum, breitete sich das Chaos aus. Wenn er nicht auch sterben wollte, wie wahrscheinlich in diesem Moment seine Crew, dann müsste er endlich damit beginnen, sich in Sicherheit zu bringen. Mit dieser Erkenntnis wandte er sich von dieser Katastrophe ab und begann damit, sich von diesem Ort des Schreckens zu entfernen. Langsam, aber immer kräftiger, schlug er seine Flossenbeine auf und ab. Um schneller vorwärts zu kommen, breitete er auch noch seine Flossenarme aus, um mit kräftigen Flossenarmbewegungen seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Er wusste nicht, wohin er flüchten sollte. Ihm war klar, dass er ebenso keine Chance haben würde, sich zu retten, wie seine Crew. Mit Schrecken sah er immer wieder nach hinten, zu der gewaltigen Welle, die unaufhaltsam auch auf ihn zuraste. Er versuchte seine Schwimmbewegungen zu erhöhen. Aber umso schneller er seine Extremitäten bewegte, umso unkoordinierter wurden diese. Deshalb versuchte er, sich mit größter Anstrengung auf seine Extremitäten zu konzentrieren.
Noch während er versuchte, seine Schwimmbewegungen wieder in Einklang zu bringen, erreichte ihn die gewaltige zweite Welle und zog ihn mit sich. Egal wie sehr er seine Extremitäten durchs Wasser zog, er wurde erbarmungslos dorthin mitgerissen, wohin die Welle unterwegs war. Ihre Baustelle befand sich am Rand der Stadt Darimar. Hier hatte er schon unzählige Wohneinheiten errichtet, über die er nun brutal hinweggeschleudert wurde. In diesem Moment wünschte er sich, dass die Welle in die entgegengesetzte Richtung über die Stadt hinwegfegen würde. Dann müsste er nicht befürchten, in irgendeine der Wohneinheiten geschleudert zu werden. So aber wurden er und unzählige andere Arbeiter und Bewohner dieser Stadt, die schon ihre neuen Wohneinheiten bezogen hatten, in Richtung der Altstadt mitgerissen. Nur wenige Meter über den Dächern der Altstadt von Darimar schoss er hinweg. Immer wieder stieß er mit Trümmerteilen oder anderen Maboriern zusammen, die sich ebenfalls in diesem Strudel des Grauens befanden. Egal wie sehr er sich auch anstrengte, durch Flossenbewegungen diesen Zusammenstößen zu entgehen, es half nichts. Die Welle spülte ihn erbarmungslos durch zerberstende Korallenkonstrukte, mit deren dicken Verstrebungen er immer wieder zusammenstieß. Entsetzt musste er dabei mitansehen, wie diese, mit samt Teilen der von ihm errichteten Muschelwänden, aus ihrem festen Gebäudeverbund gerissen wurden. Langsam ergriff ihn ein immer größer werdendes Schwindelgefühl, das durch seine taumelnden Bewegungen verursacht wurde. Das Trümmerteil, dass ihn dann schließlich endgültig weiter nach unten stieß, kam so urplötzlich auf ihn zu, dass er sich nicht dagegen wehren konnte. Der Schlag, den er dadurch erhielt, trug noch mehr zu einer beginnenden Ohnmacht bei. Daher bekam er nicht mit, wie er nun doch nach unten gerissen und zwischen zwei Dachkonstruktionen festgekeilt wurde. Im Unterbewusstsein bekam er nur noch mit, wie urplötzlich das Grollen aufhörte und sich eine unheimliche Stille über die Stadt legte. Die Welle schien außerdem in sich zusammen zu fallen. Ehe er vollends in die Ohnmacht glitt, bekam Xiron nur dunkel mit, wie die anderen mitgerissenen Maborier und die unzähligen Trümmerteile plötzlich über den schönen, kunstvoll gestalteten Dächern der Altstadt zum Stehen kamen und langsam auf die Stadt hinabsanken.
Als Xiron wieder aus seiner Ohnmacht erwachte, konnte er nicht sagen, wieviel Zeit vergangen war. Aber es musste eine lange Zeit vergangen sein, denn um ihn herum schien wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Mit Entsetzen sah er sich um. In seiner unmittelbaren Umgebung, die er einsehen konnte, trieben mehrere Maborier leblos herum. Trümmerteile lagen auf den Dächern der Wohneinheiten, vermengt mit unzähligen, zerborstenen Korallengestängen, deren bucklige Oberfläche unzählige Risse aufwiesen. Trotz der extremen Festigkeit der Muschelmauern wurden zahlreiche dieser Wohneinheiten von den Trümmerteilen eingerissen. Überall wo er hinsah, sah er nur Zerstörung und Verwüstung. Und dazwischen trieben immer wieder leblose, nicht mehr metallisch glänzende, sondern all ihrer Farbe beraubter Leiber herum. Er versuchte, sich zu orientieren und drehte deshalb seinen schmalen, gelenkigen Körper. Dabei durchschoss ihm ein so heftiger Schmerz, dass er sofort in der Bewegung innehielt. Dieser heftige, stechende Schmerz schien von seinen Flossenbeinen zu kommen. Erst jetzt erinnerte er sich daran, dass er während dieser Katastrophe eingeklemmt wurde. Langsam versuchte er, nach unten zu seinen eingeklemmten Flossenbeinen zu greifen, die aber zwischen den zertrümmerten Muscheldächern unerreichbar waren. Egal wie heftig er seinen schlanken Körper hin und her bewegte. Seine Flossenbeine blieben eingeklemmt. Er verzog seinen schmalen, langen Mund zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Zwischen den schweren Muschelplatten quoll etwas von seinem blauen Blut hervor. Xiron nahm an, dass die Verletzung nicht schwerwiegend war. Wenn er aber keine Hilfe erhalten würde, könnte diese kleine Wunde seinen Tod bedeuten. Denn ohne eine schnelle Versorgung seiner Wunde, würde sich sein blaues Blut unweigerlich ins Lebenswasser ergießen. Weiter weg, in der Ferne, konnte er den zerschmetterten Lastengleiter erkennen, der mehrere Wohneinheiten unter sich begraben hatte. Er fragte sich, ob der Kapitän oder dessen Mannschaft diese Katastrophe unverletzt überstanden hatte. Aber er ging, nachdem er die enormen Schäden am Lastengleiter sehen konnte, davon aus, dass wohl niemand überlebt hatte. Noch weiter entfernt lag die Muscheldecke, die ebenfalls ein Bild der Verwüstung hinterließ.
Erst zögerlich, schließlich aber immer klarer, bemerkte er die seltsamen schwarzen Klumpen, die sich auf den Trümmerteilen befanden. Ehe er über die Herkunft dieser Klumpen spekulieren konnte, fielen einige von ihnen von oben an ihm vorbei und legten sich sanft auf die sich vor ihm befindlichen Trümmerteile. Xiron kam das so seltsam vor, dass er verwundert seinen Blick nach oben richtete. Er sah, wie sich ein stetiger Strom von diesem seltsamen Material seinen Weg hinab von dem unendlichen Oben suchte und sich auf den Trümmerteilen niederlegte. Erst nur wenige, schließlich aber immer zahlreicher werdend, bedeckten sie die Trümmerteile. Das Grauen um ihn herum wurde langsam von diesen schwarzen Klumpen bedeckt.
Soweit es sein begrenzter Blick erlaubte, sah er, wie dieses seltsame Phänomen die Stadt in Beschlag nahm. Langsam richtete er seinen Blick nun wieder nach oben, in das unergründliche Oben. Dort, wo sich in unendlicher Ferne der Schleier oder das Oben befinden musste. So weit wie er nach oben blicken konnte, sah er, wie aus der Dunkelheit des Schleiers diese schwarzen Klumpen ihren Weg hinab in die Stadt suchten. Unaufhörlich fielen unzählige von diesen Klumpen an ihm vorbei. Er konnte kleinere, nur wenige Zentimeter große Brocken ausmachen. Aber auch große Brocken, von mehreren 20 bis 40 Zentimetern, fielen auf die Stadt.
„Was ist das?“, sagte er nur so zu sich selbst und versuchte, seinen lädierten Körper so zu drehen, dass er über die Trümmerteile hinweg schauen konnte. So sehr er auch seinen schlanken Hals in die Höhe reckte, die unzähligen Trümmerteile versperrten ihm dennoch den Blick. Trotz der Schmerzen die er dabei erlitt, zwang er dennoch seinen Körper dazu, ihn immer weiter nach oben zu recken. Als er nun doch über den Rand einiger der Trümmer schauen konnte, sah er, wie über der gesamten Stadt diese schwarzen, seltsamen Brocken aus dem Schleier herabfielen. Es war ein fantastischer Anblick, stellte er fest, wenn er nur nicht so grauenvolle Folgen hätte. Aber diese Folgen konnten Xiron und die wenigen übrigen Überlebenden nicht lange genießen. Der Befall war so intensiv, dass er und die Übrigen, die ebenfalls dieses Schauspiel verwundert mitverfolgten, vollends von dem schwarzen Material begraben wurden. Langsam, aber erbarmungslos, wurden sie so in ein schwarzes Grab eingebettet, dass der Beginn einer noch viel größeren Katastrophe werden sollte. Unentwegt legte sich nun ein schwarzer, schleimiger Film auf Darimar. Über mehrere Zyklen hinweg regnete es diese schwarzen Klumpen und machte von nun an diese einst so schöne Stadt unbewohnbar.