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3. Die gnadenlose Eisbarriere

Maru steuerte gemeinsam mit ihrem Sicherheitskollegen

Atara den schlanken Flitzer in Richtung der senkrechten Eisbarriere. Hinweg über zerklüftete, schroffe Felsen, in deren Gräben und Spalten sich nur vereinzelte Niedriglebensformen tummelten. Geschockt von diesem massiven Rückgang des Lebens so nahe der Eisbarriere, drosselte sie die Geschwindigkeit des Flitzers, um das Ausmaß der Zerstörung genauer betrachten zu können.

„Sieh dir das an, Atara!“, forderte sie ihren Kollegen auf. Atara, der neben ihr ebenfalls die gravierenden Auswirkungen der Eisbarriere registrierte, vermochte nicht zu urteilen, ob sich die Niedriglebensformen nur vor ihnen versteckten, oder ob der Rückgang des pulsierenden Lebens an den niedrigeren Temperaturen lag. Die Hysterie um die Barriere ging ihm viel zu weit. Es stimmte, es gab einige Berichte von eingeschlossenen Städten, die aber allesamt durch die Medien dramatisiert wurden. In den nächsten Stunden würde er sich ja selbst von den Ausmaßen der Barriere überzeugen können.

„Du nimmst das alles viel zu ernst, Maru. Wenn wir mit unserem Flitzer über dieses Gebiet hinweg sind, quillt das Leben wieder aus allen Ritzen dieser Felsen“, versuchte er Maru zu besänftigen.

„Meinst du?“, fragte sie skeptisch.

„Ich denke schon. Du wirst sehen, wenn wir unseren Auftrag erledigt haben und hier wieder entlangflitzen, wird das Leben in diesen Felsspalten zurückgekehrt sein“, versicherte er ihr. Sie glaubte Atara zwar nicht so recht, aber dennoch umschloss sie das Ruder entkrampfter und steuerte den Flitzer wieder schneller und entspannter ihrem Auftragsort entgegen.

So weit weg von den belebten Städten Maboriens hatte sie sich noch nie befunden. Immer wieder lagen unendlich weite Entfernungen zwischen den vereinzelten Siedlungen, die sie mit ihrem Flitzer zurücklegen mussten. Dieser Auftrag sollte sie bis zu der nördlichsten Siedlung Maboriens bringen, die bereits von den Bewohnern evakuiert wurde, da ihnen die Barriere bedrohlich nahe kam. Sie sollten sich davon überzeugen, dass wirklich niemand zurückgelassen wurde. Nachdem sie die letzte Siedlung, die sie von der nördlichsten Siedlung Maboriens trennte, hinter sich gelassen hatten und sich der spärlich bewohnten letzten nördlichsten Siedlung immer mehr näherten, musste auch Atara erkennen, dass das Leben hier rapide abnahm. Der Flitzer, der etwas größer war, als die Flitzer, in denen nur ein Maborier Platz fand, schoss unentwegt über sterbende Gegenden. Sie sollten sich davon überzeugen, dass auch wirklich niemand zurückgelassen wurde oder sich etwa Plünderer dort aufhielten. Unter ihnen wurden die ersten Wohneinheiten der Siedlung sichtbar, die nur spärlich von einigen Kristallen erhellt wurden. Maru griff zum Schalter, der die Scheinwerfer einschaltete, um das wenige Licht, dass die immer kraftloseren Leuchtkristalle abgaben, zu unterstützen. In diesem Mix aus natürlicher Kristallbeleuchtung und künstlicher Flitzerbestrahlung erkannte sie nun das gesamte Ausmaß, dass die voranschreitende Kälte dieser Umgebung antat. Flächenweise versiegte hier die natürliche Beleuchtung ihrer Welt. Sie schossen über leere Wohnsiedlungen hinweg, deren Korallenkonstrukte bereits ihre natürliche, runzlige Außenhaut eingebüßt hatten. Entsetzt betrachteten die beiden Sicherheitsmaborier die glatten, mit unzähligen Rissen versetzten, tieferen Strukturen der Korallenarme. Auch wenn sie, im Gegensatz zu den großen Metropolen Maboriens, hier nur ein oder höchstens zweistöckige Bauwerke tragen mussten, zeigten sich an einigen Stellen der freigelegten Knochenstruktur der Korallenarme sogar so starke Beschädigungen, dass einige von ihnen unter der Last der Gebäude brachen und ganze Wohnkomplexe mit sich rissen. Zwischen zerborstenen Korallengestängen lagen daher Trümmer auseinandergerissener Wohngebäude. Deren runde, aus kleinen zusammengefügten Muschelplatten bestehenden Außenwände, schimmerten daher nur vereinzelt im Licht der schwächer werdenden Kristallbeleuchtung. Zahlreiche von ihnen steckten tief im lockeren Sand, der sich in Streifen zwischen dem felsigen Untergrund schlängelte. Wie Inseln lugten schroffe, hochauftürmende Felsformationen aus diesem sandigen Boden, auf dessen festem Untergrund einst die Siedler hier ihre Behausungen errichteten. Mit samt an den Korallenarmen befestigten, zersplitterten Muschelplatten, versanken nun langsam komplette Gebäudereste im sandigen Morast und rissen an ihnen festhängende Gebäudereste mit sich. Es war noch gar nicht so lange her, dass hier Kinder gespielt hatten, die übereinander schwammen, um sich gegenseitig zu fangen. Oder sie schossen durch die Spielröhren, die mit kleinen Pumpen dafür sorgten, dass eine schwache Strömung in ihnen herrschte, damit die Kinder wie schnelle Niedriglebensformen durch sie hindurchsausen konnten. Einige wurden sogar mit einem höheren Druck versorgt, damit die größeren, mutigeren Kinder ebenfalls ihren Spaß hatten.

Nun spielte hier kein Kind mehr. Die Pumpen wurden schon vor einiger Zeit abgestellt und vom Stromnetz getrennt. Nachdem die Nachricht bekannt geworden war, dass das Fortschreiten der Barriere rapide zunahm, wurden die Siedlungen augenblicklich evakuiert. Sogar die sonst so üppige Fauna konnte hier nicht mehr gedeihen, da das Wasser hier schon merklich kühler wurde. Die üppige Pflanzenwelt, die zwischen den Gebäuden einst spross, wich nun einer trostlosen, regungslosen Sandwüste.

Nur schemenhaft tauchte aus dem mit grünen Algen verseuchten Wasser nun etwas auf, dass Atara und Maru entsetzt staunen ließ. Maru drosselte zaghaft die Geschwindigkeit des Flitzers, der sich einer spiegelartigen, nach allen Seiten hin ausstreckenden Wand näherte. Je näher sie dieser Erscheinung kamen und die Dichte der Algen die Sicht auf diese Erscheinung immer weniger behinderte, desto gewaltiger erhob sich diese Wand aus Eis vor ihnen in die Höhe. Da aber die begrenzte Sicht durch das Cockpitfenster dadurch immer weiter abnahm, mussten sich Maru und Atara vorbeugen, um die in die Höhe ragende Barriere in ihrem gesamten Ausmaß sehen zu können. „Sie reicht bis in den Schleier, Maru“, stellte Atara entsetzt fest. Geschockt von der doch offensichtlichen Gewaltigkeit der Barriere, die bis in das unendliche Oben reichte, wich jede noch so geartete Gelassenheit aus seinem Wesen, das er bis hierher an den Tag legte. Während sie sich diesem Spiegel immer weiter näherten, wurde dieser Spiegel mehr und mehr durchsichtig. Sie konnten riesige Farnengewächse am hinteren Grund ausmachen, die wie erstarrt nicht mehr im Strom der ständigen Strömungen tanzten. Jegliches Leben schien hinter dieser Eiswand wie erstarrt zu sein. Von der verlassenen Siedlung, deren Zentrum sie nun erreichten, steckte der nördlichste Bereich bereits vollständig in dieser Barriere. Eine Vakuumbahn, die wahrscheinlich aus den großen Metropolen Maboriens kam, verschwand in der Eiswand und setzte ihren Weg, bedingt durch die optische Krümmung des Eises, versetzt innerhalb der Barriere fort, um im entlegensten Bahnhofs Maboriens zu enden. Maru und Atara konnten ihre Augen von diesem so phänomenalen Schauspiel, das gleichzeitig so entsetzlich wirkte, nicht fortreißen. Daher riss Maru das Ruder nur zögerlich nach links, als sie die kaum sichtbaren Ausbuchtungen sah, die die Barriere begleiteten.

„Was ist Maru?“, fragte Atara, der wie aus einer Starre erwachte. Im gleichen Augenblick erkannte auch er, wieso sie so abrupt die Richtung änderte. Überall konnte er seltsame, beulenartige Aufwölbungen an der Barriere erkennen, die weit von der Barriere ins noch nicht gefrorene Wasser reichten. Da die Barriere fast völlig durchsichtig war, waren ihnen diese Ausbuchtungen erst nicht aufgefallen. Aber nun schienen sie die gesamte Fläche der äußeren Barriere zu bedecken. Ohne Atara zu antworten, versuchte Maru diesen Ausbuchtungen auszuweichen. Mit äußerster Kraft umschloss sie das Ruder und drückte es bis zur äußersten linken Seite. Der Flitzer vollzog eine scharfe Linkskurve, die ihn trotzdem immer näher an diese Ausbuchtungen heranführte. Die Maschinen im Innern heulten derweil immer lauter auf, so sehr, dass Maru glaubte, dass sie jeden Moment zerbersten würden. Entsetzt sah sie wieder zur Barriere, auf der inzwischen das Spiegelbild des Flitzers deutlich zu erkennen war. Dem Spiegelbild immer näher kommend betrachtete sie, nun noch entsetzter, sich selbst neben Atara sitzend und immer detailgetreuer in ihrem Flitzer über eine glatte Fläche, die sich zwischen diesen Ausbuchtungen ausbreitete, hinweg huschend. Aber bevor sie ihr eigenes Spiegelbild endlich dazu bewegte, den Flitzer noch weiter von der Barriere zu entfernen, endete die glatte Fläche und ging wieder zu gewaltigen Ausbuchtungen über, durch deren Furchen sie versuchte, ihren Flitzer hindurch zu steuern, um doch noch ausreichend Abstand zu ihr zu gewinnen. Dennoch streifte sie einen Teil der Ausbuchtungen, die inzwischen zu langgezogenen, spitzen Ausläufern mutierten. Nur kurz vernahm sie das dumpfe, knirschende Geräusch, das von außen zu ihnen drang, ihnen aber einen gehörigen Schrecken einjagte. Trotz dieses Geräusches konnte Maru nun den Flitzer von der Barriere wegsteuern und somit einen ausreichenden Abstand zu ihr gewinnen, um erschöpft das Geschehen resümieren zu können. Mit der nötigen Eile, aber dennoch bedächtig, steuerte sie den Flitzer von der Barriere weg und setzte ihn sanft auf einen breiten, ausgespülten Weg, der sich zwischen einigen Wohnkomplexen befand. Erschöpft, aber dennoch froh. glimpflich diesen Zusammenstoß überstanden zu haben, betrachteten sie nun genauer die Eisbarriere, die sich majestätisch inmitten des Weges vor ihnen in die Höhe erhob. Die von ihnen noch vor kurzem so bewunderten Erscheinungen rückten nun augenblicklich in den Hintergrund.

Fassungslos über diese Gewalt starrten sie aus ihrem Cockpitfenster, hinter dem die Eisbarriere wie ein Mahnmal empor prangte. Nun konnten sie deutlich beobachten, wie an mehreren Stellen der Barriere aus diesen Ausbuchtungen langgezogene, spitze, sperrartige Nadeln entstanden. Diese Nadeln wuchsen regelrecht aus den Ausbuchtungen, die erst mäßig abgerundet waren und schließlich zu langen und scharfkantigen Schwertern wurden. Wie Sperrspitzen ragten sie nun aus der Barriere heraus. Wenn Atara und Maru länger und konzentrierter einen Bereich davon beobachteten, konnten sie regelrecht mitverfolgen, wie sich diese Ausbuchtungen veränderten. An Massigkeit zulegten, schließlich aber wieder zum Stillstand kamen. Dafür wuchsen an anderen Stellen der Eisbarriere neue Ausbuchtungen, die erst klein, schließlich aber schnell an Größe zulegten. So schritt das Eis der Barriere immer weiter voran, um ihre Welt zu verschlucken. Die Unregelmäßigkeiten, die nun deutlich sichtbar wurden, verzerrte die sich dahinter befindliche restliche Siedlung zu einer geisterhaften Stadt.

„Was ist passiert, Maru?“, fragte Atara, als sie hörten, wie die Motoren des Flitzers verstummten.

„Ich weiß nicht“, antwortete Maru, die vergeblich versuchte, die Motoren wieder zu starten. Als nur ein leises Klicken zu hören war, während sie den Startknopf drückte, sah sie verzweifelt Atara an.

„Ich bekomme ihn nicht wieder zum Starten“, versuchte sie unnötigerweise ihrem Kollegen zu erklären.

„Während wir eine der Spitzen gestreift haben, wurde wahrscheinlich unser Antrieb beschädigt“, stellte Atara fest, der nun doch besorgter wirkte.

In der Kabine breitete sich eine beängstigende Totenstille aus, der sich Maru und Atara nur schwer widersetzen konnten. Sie lehnten sich erschöpft in ihren Sitznischen zurück und überlegten, wie sie nun weiter verfahren sollten. Atara wusste nicht, was beschädigt wurde. Aber er war zuversichtlich, dass er die Lage meistern würde. Er würde sich und Maru aus dieser Lage retten.

„Keine Panik, ich werde ihn wieder zum Starten bringen“.

„Du weißt doch gar nicht, was beschädigt ist“, antwortete sie ihm resigniert. Wenn ihnen hier etwas zustoßen würde, wäre es alleine ihre Schuld. Denn sie war nicht aufmerksam genug, so dass sie mit diesen verdammten Sperrspitzen zusammengestoßen waren. Wie hatte sie sich auch so sehr von dieser Eisbarriere ablenken lassen können, überlegte sie. Aber nachdem sie ihren Kopf hob und erneut zu der Barriere sah, musste sie wieder deren Ausmaße staunend bewundern. Sie wusste, dass jeder andere Flitzerpilot im Angesicht dieser gewaltigen Barriere ebenso gehandelt hätte. Aber dennoch trug nur sie die alleinige Verantwortung für dieses Desaster. Da hatte sie recht, fand A-tara. Er wusste tatsächlich nicht, was beschädigt war. Aber er musste sie beruhigen. Daher tat er so, als habe er alles im Griff. Was aber nicht der Wahrheit entsprach. Sollten irgendwelche Aggregate am Flitzer defekt sein, würde er sie kaum reparieren können. Dafür war er nicht ausgebildet.

„Ich sehe nach und begutachte den Schaden“, sagte er zu Maru, die ihn voller Entgeisterung ansah. Auch wenn sie hoffte, dass der Schaden gering ausfiel, glaubte sie nicht, dass Atara ihn beheben konnte. Mehr als um den Schaden des Flitzers sorgte sie sich um die Temperaturen, die draußen herrschen mussten. Auch wenn sie mit Atara schon manche bedrohliche Situation hatte meistern können, machte sie sich deshalb umso mehr Sorgen.

„Sei aber vorsichtig. Bleib nicht so lange. Es ist hier für uns zu kalt.“

Entschlossen schwamm Atara aus seiner Nische heraus und zog sich einen wärmenden Außenanzug an, den er sich über seinen schuppenengen Overall überstreifte. So gegen die Kälte geschützt schwamm er an Maru vorbei, die ihn respektvoll, aber dennoch skeptisch ansah. Von sich und seinem Können völlig überzeugt, erreichte er die Ausgangsluke und öffnete sie dennoch verhalten. Mit nur einen kurzen Schlag seiner Flossenbeine tauchte er augenblicklich in das kalte Außenwasser ein, dessen Kälte, trotz des Anzuges, sofort die dicken Schichten des Anzuges durchdrang. Er spürte sofort diese eisige Kälte, die unaufhörlich durch seinen Körper kroch und seine Bewegungen augenblicklich verlangsamten. Das würde er nicht lange durchhalten. Da war er sich ganz sicher. Atara war froh, seinen Schutzhelm aufgesetzt zu haben. Müsste er dieses kalte Wasser pur einatmen, würden seine Kiemen bestimmt augenblicklich den Dienst verweigern. So sog er das angewärmte Atemwasser ein, das wohltuend seine Kiemen durchspülte. Da aber der Vorrat für nur wenige Minuten reichte, verlor er keine unnötige Zeit, die, wie er wusste, schneller verstreichen würde, als ihm lieb war.

Mit kräftigen Flossenbewegungen schwamm er an der Außenhaut des Flitzers entlang, bis seine Augen am hinteren Bereich des Flitzers eine aufgerissene Wunde erspähten. Je näher er der Stelle kam, desto mehr zweifelte er an seinem Vorhaben. Erst wenige Meter vor dem Riss, der etwa vierzig Zentimeter lang sein musste, manifestierten sich diese Zweifel zu erbitterten Wahrheiten.

Atara drehte sich zu der Barriere um. Von hier draußen sah es noch viel gewaltiger aus, fand er. Jetzt konnte er mehrere hundert Meter in das Eis hineinsehen. So glasklar präsentierten sich die Stellen zwischen den Ausbuchtungen und den Spitzen, die wie Sperrspitzen auf ihn zeigten. Zwischendurch immer wieder glatte Bereiche, die lang genug glatt blieben, um ungehindert in die erstarrte Welt der Eisbarriere schauen zu können. In ihr tummelten sich unzählige Niedriglebensformen, die zwischen den zerborstenen Gebäuden reglos im Eis hingen oder zwischen erstarrten Farnengewächsen lungerten. Ihm wurde plötzlich unwohl. Ohne weiter zu zögern, wandte er sich dem Schaden an seinem Flitzer zu.

„Kannst du was erkennen?“, hörte er Maru über Funk in seinem Helm. Er begutachtete den Schaden ausgiebig und bekam im Angesicht des Wirrwarrs, das hinter der Vakuumverkleidung sichtbar wurde, sofort ein mulmiges Gefühl. Ihm war sofort klar, dass er diesen Schaden nicht hier reparieren konnte und somit hier gestrandet war. Wie würde er das Maru erklären können? Er wusste, dass sie eigentlich eine taffe Sicherheitsbeauftragte war. Aber in solch einer Situation würde sie bestimmt durchdrehen. Trotzdem musste er ihr die Wahrheit sagen.

„Es sieht nicht gut aus. Mehrere Vakuumkabel sind gebrochen. Dies können wir nur im Dock reparieren lassen. Gib einen Notruf ab!“

„Dann müssen wir hier so lange ausharren, bis wir abgeholt werden?“ Eigentlich stellte solch eine Situation keine große Hürde für Maru dar. Sie hatte schon des Öfteren schlimmere Situationen meistern müssen. Aber hier packte sie die bloße Angst. Wenn sie daran dachte wie sie bei ihrem letzten Auftrag, gerade so in letzter Sekunde, die Maborier aus ihren Wohnungen retten konnte und sie und Atara hinterher freudig zusammensaßen, wurde ihr jetzt ganz anders zu mute. Hier gab es sobald kein freudiges Ende, vermutete sie.

„Ja, das müssen wir. Wir haben keine andere Wahl“, hörte sie Atara aus dem Lautsprecher sagen.

Die Unruhe, die sie ergriff, ließ sie ihren Blick wieder der Eisbarriere zuwenden, an der ihr der ausgespülte Weg wieder ins Bewusstsein rückte. Denn, als sie diesen Weg vor einigen Minuten betrachtet und die angrenzenden zerborstenen Korallenarme begutachtet hatte, in deren Konstrukt die Gebäude bereits halb in die Barriere eingetaucht waren, hatten sich trotzdem immer noch drei Gebäude außerhalb der Barriere befunden. Nun zählte sie aber nur noch zwei Gebäude, die sich außerhalb der Barriere befanden. Das Dritte, dass nur halb in ihr steckte, war nun von der Barriere vollends verschlungen worden. Sie beugte sich weiter nach vorne, um das Gesehene besser fokussieren zu können. Sie konnte es nicht fassen, was sie da gerade beobachtet hatte. Ihr war sehr bewusst, dass die Barriere sich ausbreitete, jedes Kind wusste das inzwischen. Dass das aber so schnell geschah, ahnte sie nicht. Nachdem was sie da sah, schossen ihr die gerade gesehenen eingeschlossenen Tiere ins Bewusstsein zurück. Sie gab sofort den Notruf ab. Hastig huschten ihre Flossenfinger über die Bedienelemente des Notsignalgebers. Das Signal umfasste alle relevanten Informationen: Ort Uhrzeit, wie viele Personen sowie eine kurze Beschreibung der Lage.

„Atara, wir haben ein Problem. Egal wie, aber du musst den Flitzer sofort reparieren. Schnell beeil dich!“ schrie sie voller Angst. Atara, der mit beiden Flossenhänden im Gewirr der zerborstenen Vakuumkabel herumhantierte, drehte sich zur Eisbarriere um.

„Was meinst du Maru?“

„Sieh genau auf die Gebäude. Sie werden unheimlich schnell verschluckt.“ Er blickte von dem Wirrwarr der Vakuumkabel auf und richtete seinen Blick, wie Maru es ihm geraten hatte, der Eisbarriere zu. Auch er betrachtete das Geschehen, das vor der Barriere seinen Lauf nahm. Konnte aber keinen Unterschied erkennen.

„Was meinst du, Maru?“, fragte er deshalb.

„Die Barriere hat bereits das dritte Gebäude verschluckt“, erklärte sie ihm entsetzt. Sowieso von seinem nutzlosen Eintauchen ins Vakuumkabelwirrwarr überzeugt, richtete er seinen flachen Kopf der Barriere entgegen, um Marus Rat zu folgen. Da er nicht über solch ein fotografisches Gedächtnis verfügte, über das aber Maru verfügte, wusste er nicht mehr so recht, wie viele von den Gebäuden nun wirklich bereits in der Eisbarriere steckten. Aber eines wusste er mit absoluter Gewissheit. Eines von ihnen steckte nur halb in der Barriere. Da nun sämtliche Gebäude vollkommen in der Eisbarriere steckten, zweifelte er Marus Beobachtung nicht an. Da er den komplizierten, zerborstenen Vakuumkabeln doch nichts entgegenzusetzen hatte, entschloss er sich, sofort zurück ins Cockpit zu schwimmen, um dem drohenden Einfrieren zu entgehen. Noch während Atara zurückschwamm und mit den Widrigkeiten des kalten Wassers kämpfte, informierte er sich ständig bei Maru über die Lage.

„Wie weit ist die Barriere noch von uns entfernt Maru?“, fragte er unentwegt Maru, die zitternd vor Angst die heranschreitende Barriere ängstlich beobachtete. Aber was ihr noch mehr Angst einjagte, waren Ataras quälende Schwimmbewegungen, deren Geräusche aus dem Cockpitlautsprecher drangen.

„Schnell, beeile dich doch Atara!“ Immer wieder musste Maru ihren Kollegen antreiben. Die Abstände zwischen den rasselnden Schwimmbewegungen seiner schlanken Schwimmarme, die an dem Außenanzug rieben, nahmen merklich zu. Mit Schrecken lauschte sie diesen merklich leiser werdenden Geräuschen hinterher.

„Es geht nicht schneller, es ist hier draußen so kalt. Meine Schwimmarme sind wie Blei. Sogar in meine Flossenbeine dringt die Kälte“, erklärte er Maru. Auch wenn es erst wenige Minuten zurücklag, dass er aus dem Flitzer geschwommen war, konnte er sich nicht daran erinnern, dass ihn die Kälte so dermaßen ergriffen hatte. Aber nun durchdrang sie seinen gesamten Körper.

„Du darfst nicht an die Kälte denken“, versuchte ihn Atara dazu zu bewegen, seinen Weg fortzusetzen, „ignoriere die Schmerzen deiner Glieder.“ Mit letzter Kraft erreichte er dennoch die Einstiegsluke und schwamm zurück in seinen Flitzer. Er spürte sofort die angenehme Wärme, die noch im Innern des Flitzers herrschte.

Während er zu Maru schwamm, nahm er den Helm vom Kopf. Aber seinen Außenanzug ließ er sicherheitshalber angezogen. Er sah zu Maru, die erleichtert darüber, dass sie nicht allein im Flitzer ausharren musste, ihn ebenso ratlos betrachtete, wie er sie. Atara sah konzentriert nach draußen, wo die Barriere immer näher zu kommen drohte.

„Welche Alternativen haben wir?“

„Raus können wir auf keinen Fall. Das musste ich ja am eigenen Leib spüren“, antwortete Atara resigniert. Er musste noch nie eine solche Kälte spüren. Bis in die tiefsten Regionen seines Körpers konnte sie vordringen. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben.

„Außerdem würde uns die Kälte sowieso zu langsam machen. Die Barriere würde uns so oder so einholen. Die Beste Chance haben wir, wenn wir hier drin bleiben und die Heizung auf volle Leistung stellen, so könnten wir einige Stunden in der Barriere überleben“, stellte er resigniert fest.

Entsetzt wandte sich Maru von ihrem Kollegen ab und betrachtete erneut die Barriere, die unaufhaltsam auf sie zuwuchs.

„Wir werden lebendig eingefroren sein. Auch wenn Hilfe eintrifft und wir noch am Leben sind, können sie uns nur noch zusehen, wie wir sterben. Es gibt keine Möglichkeit, uns dann zu befreien.“

Voller Mutlosigkeit senkte sie ihren Kopf und ließ die Ereignisse auf sich zukommen. Atara wusste, dass sie Recht hatte. Er schwamm lautlos neben ihr in seine Sitznische und sah ebenso resigniert nach draußen, wie es Maru tat. Draußen bewegte sich die Eisbarriere immer weiter auf den schlanken Flitzer zu. Zwischen den Sperrspitzen und den Ausbuchtungen kristallisierte das Wasser ständig zu neuem, alles vereinnahmendem Eis. In dieser Weise formierten sich die Ausbuchtungen zu glatten Flächen und die Sperrspitzen wurden immer stumpfer und schrumpften dann schließlich zu halbrunden Auswüchsen und verschwanden letztendlich in der voranschreitenden Barriere. Währenddessen formierten sich an den noch glasklaren, glatten Stellen der Eisbarriere neue Ausbuchtungen und Sperrspitzen. Dies geschah in einem stetigen Wechsel. So schritt diese gigantische Wand aus Eis immer näher in die bewohnte Welt dieser Lebewesen.

„Hörst du dieses Geräusch Atara?“, fragte Maru lustlos und voller Gleichgültigkeit ihren Kollegen. Sie hatte inzwischen jegliche Hoffnung auf Rettung verloren und lauschte deshalb resigniert in die Stille, die sich über dem Flitzer ausbreitete. Diese Stille durchbrach inzwischen ein immer lauter werdendes Knistern, dass sich in der Kabine ausbreitete. Atara hob seinen Kopf und sah durch das Cockpitfenster.

„Es ist das zu Eis erstarrende Wasser Maru, sonst nichts.“

„Es ist das Geräusch unseres Todes, Atara!“

Atara drehte sein Gesicht vom Cockpitfenster weg. Er wusste, dass Maru damit recht hatte. Sie würden hier und heute sterben. Er würde bald wieder diese schreckliche Kälte spüren, wie sie in seinen Körper kroch und seine Glieder erstarren ließ. Er würde nichts dagegen tun können. Währenddessen erreichten die ersten bullaugenartigen Eiswülste und Sperrspitzen den Flitzer. Mit eisiger Hand griff das Eis nach dem Flitzer, um ihn in sein kaltes Grab zu ziehen. Das Knistern wurde immer lauter. Voller Entsetzen hielt sich Maru die Ohren zu. Aber das schützte sie nicht vor diesem Schrecken. Mit den knisternden Geräuschen kamen neue grauenvolle Geschehnisse auf sie zu. Sie sahen, wie sich einzelne kleine Kristalle in der Nähe der Barriere bildeten. Sie schwebten immer zahlreicher werdend im Wasser umher und verbanden sich schließlich zu größeren Eisklumpen, die wiederum immer größer wurden und sich mit den Auswüchsen der Barriere verbanden.

„Ich kann das nicht mehr hören!“ Ihr Kreischen zerrte Atara an seinem Willen, die Fassung nicht zu verlieren.

„Wir können nichts dagegen tun, Maru. Es tut mir leid, aber höre mit dem Schreien auf!“

„Ich will nicht sterben. Nicht hier in dieser Einsamkeit, dieser Kälte, nicht so, eingefroren zu werden, starr wie diese Lebewesen dort hinter dieser verfluchten Barriere.“

Das Schreien in ihrer Stimme wich immer mehr einem

resignierten Weinen, dass Atara nicht in sein Bewusstsein eindringen lassen wollte.

„Nein, ich will so nicht sterben“, wiederholte Maru ihren sehnlichsten Wunsch.

Sie sank in ihrer Nische zusammen und brach in bitteres Weinen aus. Atara konnte nichts Anderes tun, als sie sanft in die Arme zu nehmen.

Das Knacken und Knirschen wurde unterdessen immer lauter. Die Seitenruder wurden als erstes vom Eis umschlossen. Wie ein Totentuch schmiegte sich das Eis um diese. Mit seinen eisigen Krallen hatte die Barriere nun den Flitzer in seiner Gewalt und würde ihn nie wieder freigeben. Die beiden Insassen umklammerten sich immer fester, je lauter und näher das Krachen und Knistern kam. Nachdem das Seitenruder vollständig umschlungen war und der Rumpf des Flitzers erfasst worden war, krochen die Auswüchse der Ausbuchtungen und Sperrspitzen an den rechten Rand des Cockpitfensters. Maru mag gar nicht hinsehen wollen, aber dieses faszinierende Bild ließ sie einfach nicht wegsehen. Immer wieder versuchte sie, ihren Blick abzuwenden, aber es gelang ihr nicht. Da gab es einen gewaltigen Ruck.

Das war das Seitenruder. Das Eis hatte es zerdrückt. Die Vakuumkammern der elektronischen Geräte konnten den Druck nicht mehr standhalten.

Ataras rechte Flossenhand drehte einen Schalter, an dem das Wort Heizung stand. Er war jetzt bis zum Anschlag aufgedreht.

„Mir ist kalt, Atara!“

„Ja, ich weiß Maru. Es wird noch kälter werden.“

Sie schmiegte sich in ihren Außenanzug. Sie hoffte, dadurch länger ihre Wärme halten zu können. An der Cockpitscheibe kroch das Eis immer weiter nach links. Es waren nicht nur diese, wie Bullaugen und Sperrspitzen aussehenden Auswüchse, die aus der Eisbarriere austraten. Zu unendlich vielen Formen kristallisierten sich Auswüchse aus der vorderen Front der Barriere. Jetzt wurde das Cockpitfenster vollkommen vom Eis eingeschlossen. Die Formen verschwanden. Dafür trat dieses vollkommen durchsichtige Eis hervor. Die beiden Besatzungsmitglieder konnten nun völlig ungehindert in die Barriere hineinsehen. Das Gebäude, das Maru noch vor kurzem verschwinden sah, wurde nun so deutlich sichtbar, wie unzählige Lebewesen, Gebäude der evakuierten Bewohner und riesige Farnengewächse, die besonders in dieser Gegend zu meterhohen Gebilden heranwuchsen. Alles Leben, das hier eins herrschte, war erstarrt.

Immer weiter auf die andere Seite des Flitzers rückte das Kratzen und Knistern. Das Eis umschloss nun das gesamte Schiff. Maru und Atara schmiegten sich zitternd aneinander. Sie konnten kaum atmen. Ihr kleiner Vorrat an beheizbarem Atemwasser war längst aufgebraucht. Mit einem Mal war es totenstill im Schiff. Sie waren nun eins mit der Eisbarriere. Es wurde immer kälter in dem kleinen Schiff. Auch in der Kabine bildeten sich unzählige Eiskristalle, die sich zu immer größeren Klumpen formierten. Zum zweiten Mal musste Atara miterleben, wie die Kälte in seinen Körper kroch und ihn und seine Kollegin immer apathischer werden ließ. Den dumpfen Knall, der entstand, als dass Eis das kleine Schiff zerdrückte, haben die beiden gar nicht mehr gehört. Die sinkende Temperatur hatte sie vorher ohnmächtig werden lassen.

Als man von ihnen nach mehreren Stunden nichts mehr hörte, wurde eine zweite Mannschaft an die betreffende Stelle geschickt. Die sollten nachsehen, was den beiden zugestoßen war. Nachdem diese an der Stelle eintrafen, an der die beiden Sicherheitsleute ihren Auftrag abarbeiten sollten, war der Schrecken groß. Der Flitzer von Maru und Atara befand sich inzwischen schon viele Meter im Eis. Und damit kam jede Hilfe zu spät. Man funkte diese neuen Erkenntnisse sofort an die Basis.

Europa - Tragödie eines Mondes

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