Читать книгу Jongleur der Macht - Uwe Schultz - Страница 9

1. Großer Auftritt eines Unbekannten

Оглавление

Neuer Schauplatz des Machtkampfes zwischen Habsburg-Spanien und Frankreich war zwei Jahrzehnte später Norditalien – es ging um die mantuanische Erbfolge. Vincenzo II. Gonzaga, Herzog von Mantua, war im Dezember 1627 kinderlos gestorben. In seinem Testament hatte er sein Herzogtum einem Verwandten jener Nebenlinie vermacht, die seit Langem in Frank reich lebte – Karl I. Gonzaga, Herzog de Nevers.

Kaiser Ferdi nand II., der mit Eleonora Gonzaga, der Schwester des letzten Herzogs, verheiratet war, versuchte, das Herzogtum als erledigtes Reichslehen einzuziehen und danach an Ferrante II. Gonzaga zu geben, der der jüngeren Linie der Gonzaga-Guastalla angehörte und auf der Seite Spaniens stand. Auch Spanien machte seinen Machtanspruch geltend und forderte das Erbe für eine Nichte des Verstorbenen, die zudem Enkelin des Spanien zugeneigten Herzogs Karl Emanuel von Savoyen war. Karl Emanuel von Savoyen, der ein Militärbündnis mit Frankreich und dessen Verbündetem Venedig abgeschlossen hatte, wurde alsbald zum zwielichtigen Verräter gegenüber Frankreich, wollte er doch sein begrenztes Herrschaftsgebiet vergrößern und besetzte deshalb das Herzog tum Mantua. Spanien, das schon Herr des Herzogtums Mailand war, ließ ihn gewähren und wollte sich nur die Festung Casale sichern, deren zentrale Lage sie zum Sperrriegel in Norditalien machte. Das Kriegstheater baute sich in kleinen Schritten auf. Dem Herzog de Nevers gelang es, mit französischen Freiwilligen die Stadt Mantua zu erobern. Auch die Festung von Casale wurde zu einer französischen Enklave, die ihrerseits von Spanien belagert wurde. Noch war Kaiser Ferdinand II. in die wechselvollen militärischen Konflikte des Dreißigjährigen Krieges verstrickt, und Kardinal Richelieu, der 1624 in Frankreich zum dominierenden Ersten Minister aufgestiegen war, kämpfte vor La Rochelle die widerständigen Hugenotten nieder, um zunächst die innenpolitische und konfessionelle Einheit Frankreichs für König Ludwig XIII. zu sichern, bevor sich beide der außenpolitischen Offensive zuwenden konnten.

Die heraufziehende Gefahr einer weiteren Konfrontation der beiden europäischen Großmächte beunruhigte den Papst Urban VIII., der vor allem den Frieden erhalten und die fremden Mächte von Italien fernhalten wollte. Er schickte als außerordentlichen Nuntius seinen Vertrauten Giovanni Francesco Sacchetti nach Mailand, der Giulio Mazarini als Hauptmann des päpstlichen Friedenskorps an seiner Seite hatte. Dieser, erst 26 Jahre alt, war weder Geistlicher noch Soldat, sondern Jurist in diplomatischer Mission.

Nach dem Fall von La Rochelle war Kardinal Richelieu nicht länger gewillt, den französischen Herzog de Nevers zum militärischen Opfer von Savoyen und Spanien werden zu lassen. Im Februar 1629 überquerten, trotz widriger Winterverhältnisse, die französischen Truppen den Pass Montgenèvre und griffen die Stadt Susa an, die zum Herrschaftsgebiet des Herzogs von Savoyen gehörte. In dem Vertrag von Susa einigten sich Frankreich und Savoyen darauf, dass französische Truppen savoyisches Gebiet durchqueren durften – sie konnten somit ungehindert in die Po-Ebene eindringen. Nun sah sich Spanien in seiner Ehre herausgefordert und schickte seinen größten Heerführer und Belagerungstaktiker Antonio Spinola nach Mailand, dem 1625 die Eroberung von Breda gelungen war und der nun mit den „Tercios“, den gefürchteten spanischen Infanteristen, vor Casale erschien. Er sollte die Festung erobern, die trotz wiederholter spanischer Angriffe noch immer in französischer Hand war – verteidigt von Jean de Saint-Bonnet de Toiras.

Der Papst, um Neutralität bemüht, obgleich eher Frankreich zugeneigt, das in Italien als Befreier von Spanien begrüßt wurde, ließ den jungen Hauptmann Mazarini die Friedenschancen in dem sich aufbauenden Konfrontationsfeld erkunden. Es fand gleichsam ein Wettlauf zwischen den langsam sich aufeinander zu bewegenden Truppen und den schnellen Ritten des päpstlichen Emissärs statt. Mazarini suchte in permanentem Wechsel den Kontakt zu den drei Hauptakteuren der Heereskontingente – dem spanischen Feldherrn Spinola, dem Herzog Karl Emanuel von Savoyen und dem Marschall Créqui, der die in Norditalien vordringenden französischen Truppen befehligte. Um die französischen Kriegsziele genauer zu erkunden und möglichst zu beeinflussen, zögerte Mazarini nicht, im Eiltempo über die winterlichen Alpen nach Lyon zu reiten, um den persönlichen Kontakt mit Kardinal Richelieu zu suchen, der den militärischen Oberbefehl übernommen hatte. Im Rückblick ist diese erste Begegnung der Beginn einer langen, intensiven Kooperation beider mit dem Ziel, Frankreich zur dominierenden Macht in Europa aufsteigen zu lassen.

Der Konflikt zwischen den Kriegsparteien spitzte sich zu. Am 4. September 1630 gelang es, in Rivalta einen vierzigtägigen Waffenstillstand auszuhandeln. Am 26. September starb Spinola, der, als Genuese Italiener wie Mazarini, von dem jungen Römer in eine fast freundschaftliche Beziehung gelockt worden war, die zur Verzögerung der Kriegsentscheidung führte, wie ihm in Madrid vorgeworfen wurde – er hätte vor dem Fall von La Rochelle, solange der Kardinal Richelieu dort festgehalten war, angreifen sollen. Aus verletztem Stolz soll er plötzlich gestorben sein.


Papst Urban VIII. (1623–1644), der gestrenge Dienstherr des jungen Mazarin, in dessen Pontifikat 1633 die Verurteilung Galileis durch die Inquisition fiel.

Aber am 15. Oktober war der Waffenstillstand abgelaufen, und am 26. Oktober kam es zur dramatischen Zuspitzung. Die französischen Truppen unter dem Marschall Schomberg standen zum Angriff bereit, doch Mazarini ritt mit einem neuen Kompromissvorschlag des kaiserlichen Generals Rambaldo Collalto zu ihm: Ein Waffenstillstand sei noch möglich, wenn der Vorschlag zum Frieden von den Franzosen gemacht werde. Dem französischen Marschall skizzierte er einen völlig offenen Schlachtausgang, da die spanisch-habsburgischen Truppen sich inzwischen in Verschanzungen eingegraben hätten – die Folge könne ein langer mörderischer Stellungskrieg mit hohen Verlusten auf französischer Seite sein. Währenddessen aber setzten sich die französischen Truppen bereits in Marsch, und der französische Offizier Toiras auf der Festung Casale signalisierte mit einem Kanonenschuss seine Bereitschaft zum Ausbruchsversuch. Die spanischen Kanonen begannen zu feuern, und die spanisch-habsburgischen Soldaten standen gefechtsbereit in Erwartung des französischen Angriffs. Am Nachmittag um vier Uhr hielt Schomberg eine patriotische Aufputschrede vor seinen Soldaten. Dann knieten die Soldaten zum Gebet nieder, bevor sie sich in die Schlacht stürzen würden.

In diesem hochdramatischen Augenblick tauchte in wildem Galopp aus den spanischen Linien ein einzelner Reiter auf und rief lauthals, seinen Hut schwenkend, mit letzter Lungenkraft nur das Wort „Frieden“ – „Pace! Pace!“ sowie auch „La paix! La paix!“. Den militärisch waghalsigen und zugleich theatralisch grandiosen Auftritt hat der französische Marschall La Force geschildert: „Die ganze Reiterei hatte den Degen schon in der Hand, da erschien der besagte Mazarini, aus den Reihen der Feinde auf uns zukommend, und schrie ‚Halt!‘.“1

Auch Mazarini hat acht Jahre später, als er seinen Name bereits in „Mazarin“ französisiert hatte – was ab sofort hier auch geschehen soll –, seinerseits die entscheidenden Minuten, als er die Schlacht noch verhindern konnte, in einem Brief geschildert:

„Ich kann Ihnen keinen detaillierten Bericht über das schicken, was bei Casale an jenem Tag geschah, als ich die Schlacht zwischen den beiden Armeen verhinderte. Ich werde Ihnen in aller Kürze sagen, dass, als ich die spanischen Reihen verließ und im Galopp auf den Marschall von Schomberg zuritt, der an diesem Tag kommandierte, einige Musketenschüsse auf mich abgefeuert wurden … Ich schwenkte als Zeichen, um auf mich aufmerksam zu machen, meinen Hut und rief ihnen zu, sofort den Angriff zu stoppen, denn ich brächte die Konditionen, die zum Frieden führen würden. Sie taten es, und ich gelangte vor den Marschall und unterbreitete ihm meine Mission. Ich erlangte seine Zustimmung und kehrte zu dem Marquis von Santa Croce (dem spanischen General) zurück, damit er seinerseits seinen Soldaten befehle, nicht länger mit den Schanzarbeiten an ihren Verschanzungen fortzufahren, die noch nicht vollendet waren. Als ich erhalten hatte, was ich wollte, ritt ich ein zweites Mal zum Marschall von Schomberg. Als alles geregelt war, schlug ich vor, dass sich zwanzig der wichtigsten Offiziere aus jedem Lager zu einer Stelle, die gleich weit von beiden Armeen entfernt wäre, begeben sollten: Ich erläuterte ihnen die Konditionen des Friedens, die von den jeweiligen Generalen ratifiziert seien, es habe nur an Zeit und Gelegenheit gefehlt, um sie schriftlich niederzuschreiben. So geschah es, und ich sprach vor ihnen ungefähr eine Viertelstunde. Alle stimmten dem zu, was ich sagte, und begannen, sich zu umarmen, so vollständig, dass man den Franzosen nicht von dem Spanier unterscheiden konnte …“2

Mögen die Einzelheiten dieser Szene, die Mazarin gleichermaßen zum Regisseur wie zum Hauptdarsteller hatte, vielleicht nicht ihre volle historische Richtigkeit haben, das Resultat eines in letzter Minute geretteten Friedens zwischen Habsburg-Spanien und Frankreich war eine grandiose diplomatische Leistung, erbracht mit hohem persönlichem Risiko. Über die Konditionen dieses Friedens wurde man sich in groben Zügen schnell einig: Spanier und Franzosen hatten die Stadt Casale zu verlassen. Der von Frankreich unterstützte Herzog de Nevers sollte mit dem Herzogtum Mantua belehnt werden. Der neue Herzog musste garantieren, dass in Casale auf der Festung eine französische Garnison errichtet werde. Die genaue Festlegung der Details in einem Vertragswerk sollte einem Kongress vorbehalten bleiben, wie es dann auch geschah, aber schon der Frieden, den der junge Hauptmann des Vatikans gestiftet hatte, wies deutlich mehr Vorteile für Frankreich als für Spanien auf.

Während der Zuspitzung des Konflikts zwischen den beiden dominierenden Mächten Europas war die Konfrontation vor und um Casale zu einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit geworden, und als die Furcht vor einem erneuten Krieg sich in die Überraschung eines sogar stabilen Friedens verwandelte, war das europäische Interesse auf diesen Friedensstifter gerichtet. Wer war er, wie vermochte ein junger, unbekannter Hauptmann des Papstes das große Kriegstheater zum Stillstand zu bringen, welcher hohen Herkunft war er, über welche außergewöhnlichen Talente verfügte er, würde er Einfluss auf die politischen Abläufe in Europa nehmen?

Doch bald war nur zu erfahren, dass er ein noch unbeschriebenes Blatt war – wohlgestaltet, klug, wendig, nicht adlig, nicht reich, aber ausgestattet mit der vitalen Energie eines zu allem entschlossenen Aufsteigers. Seine Familiengeschichte ist kurz, obwohl sie später gründlich erkundet und vielfältig ausgeschmückt wurde, nicht zuletzt von einem seiner ersten Biographen namens Abbé Elpidio Benedetti, der in den letzten Lebensjahren des Kardinals Mazarin sein Vertrauter war. Ein langes Halbdunkel liegt über der Herkunft, die später sogar bis ins 12. Jahrhundert aufgehellt werden konnte – wenngleich Zweifel bleiben. Seine Vorfahren lebten zunächst in Genua, waren sogar von niederem Adel, verließen aber im 16. Jahrhundert den Norden Italiens, um auf Sizilien, das seinerzeit als Region für schnellen Reichtum eine große Faszination ausübte, das Glück zu suchen.

Mit der Mentalität eines Abenteurers, der auf seinen geringen Adel verzichtete, zog es den jungen Hieronimo Mazarini auf die Insel im Süden Italiens, wo er in Palermo Handwerker oder Händler wurde – Genaueres ist nicht überliefert. Er hatte zwei Söhne: Giulio, 1544 geboren, trat in den Jesuitenorden ein und stieg zu einem gefeierten Prediger auf, dessen theologische Rhetorik ihm Auftritte in ganz Italien erlaubte und der erst 1622 starb, und dessen Bruder Pietro, mehr als zwanzig Jahre jünger und wohl aus einer zweiten Ehe des Vaters hervorgegangen. Er hat im Wesentlichen das Verdienst, der Vater des später berühmt gewordenen anderen Giulio zu sein. Inwieweit sizilianisches Blut in den Adern des Vaters floss, ist schwer abzuschätzen, was die Verächter seines Sohnes nicht hinderte, diesen als „Briganten aus Sizilien“3 zu bezeichnen – schon damals stand die Insel in dem Ruf, dass überdurchschnittlich viele Kriminelle auf ihr zu finden seien.

Gelegentlich ist der Name von dem Ort Mazara auf Sizilien abgeleitet worden, und der Herzog von Saint-Simon hat hochmütig diese angeblich topographische Herkunft des Familiennamens bespöttelt:

„Nie hat man weiter zurückgehen können als bis zum Vater der berüchtigten Eminenz; auch weiß man nicht, wo sie geboren worden ist … Man weiß nur, dass die Familie aus Sizilien stammt. Es sollen Bauern aus dem Mazara-Tal gewesen sein, die den Namen Mazarini angenommen haben, wie es auch in Frankreich Leute gibt, die sich Champagne oder Bourgogne nennen.“4

Die Unterstellung, man habe nicht gewusst, wo Giulio Mazarini geboren wurde, ist erwiesenermaßen falsch, auch wenn der spätere Kardinal eifrig bemüht war, den Ort seiner Geburt zu verheimlichen und gegen einen berühmten Ortsnamen auszutauschen – gegen Rom. Zwar war Pietro Mazarini nach Rom gezogen, um dort den sozialen Aufstieg zu versuchen, aber das erste Kind, das aus seiner Ehe mit Hortensia Buffalini hervorging, kam wegen der Hitze in den Sommermonaten nicht in Rom zur Welt, sondern der frischen Luft wegen am Fuciner See in den Abruzzen, wo der Bruder der Mutter Abt in der Abtei Pescina war. Die dortige Region stand unter spanischer Herrschaft, sodass er als spanischer Untertan geboren wurde.

Später hat er mit Nachdruck darauf bestanden, ein Römer zu sein, sei er doch in Rom getauft worden. Zusätzlich ließ er in den Jahren 1646 bis 1650 im vornehmen Stadtteil Trevi die Kirche Santi Vincenzo e Anastasio errichten, an deren Giebelfront sein Name in großen Lettern prangt – in ähnlich strengen Buchstaben wie an dem Frontispiz des Institut de France in Paris. Schließlich wurde der mächtige Gebäudekomplex, in dem auch die von seinem Vorgänger Richelieu gegründete Académie française ihren Sitz hat, posthum aus Mitteln seines immensen Reichtums errichtet, und in dessen Vorhalle unter der vergoldeten Barockkuppel steht auch noch heute sein Sarg, über dem die von Antoine Coysevox gestaltete Statue des mächtigen Kardinals würdevoll ins Weite blickt. Eine weitere hochsymbolische Linie zieht sich von dem Anfang seines Lebens zum Ende seines Lebenswerks, war er doch am 14. Juli 1602 geboren, und ebenfalls an einem 14. Juli, doch fast zwei Jahrhunderte später, fand im Jahre 1789 die absolute Monarchie Frankreichs ihren Untergang – mit der Erstürmung der Bastille.

Zurück zu seiner Familie. Der Vater war in die Dienste des Hauses Colonna getreten, eines hochrangigen Adelsgeschlechts, das mit Stolz darauf bestand, dass seine Abstammung bis auf Julius Cäsar zurückreiche. Das Geschlecht der Colonna war der Kurie besonders verbunden, waren aus ihm doch nicht weniger als fünf Päpste hervorgegangen. Noch heute ist der Name mit der Piazza Colonna und dem Palazzo Colonna – beides an der Hauptachse Via del Corso im Zentrum Roms gelegen – überaus präsent. Unklar ist, in welcher Stellung Pietro Mazarini für den Fürsten Filippo Colonna, der zugleich Konnetabel des Königreichs Neapel war, tätig wurde – waren es niedere Haustätigkeiten oder höhere administrative Aufgaben?


Galleria im Palazzo Colonna in Rom, Gemälde von Giovanni Paolo Pannini (1691/2-1765).

Gewiss aber ist, dass er sich in seiner Stellung wenig geachtet und schlecht bezahlt fühlte. Einen Gratisausgleich erhielt er nur dadurch, dass ihm die Gunst gewährt wurde, eines der Patenkinder des Fürsten namens Hortensia Buffalini heiraten zu dürfen. Mochte der Fürst auch generös zahlreiche Kinder aus den Familien seiner Bediensteten übers Taufbecken gehalten haben, meist persönlich nicht anwesend und nur mit seinem Namenszug die Patenschaft gewährend – Hortensia Buffalini stellte eine Bereicherung für Pietro Mazarini dar. Sie war sogar von Adel, zwar nicht vermögend, aber von besonderer Schönheit und zudem die Tochter einer gebildeten Römerin, die mit Gedichten auf sich aufmerksam gemacht hatte und deren Bruder Baron Paolo als Gründer der „Akademie der Humoristen“ geachtet wurde. Pietro und Hortensia führten ein glückliches Familienleben, aus dem außer Giulio noch ein weiterer Sohn Michele sowie vier Töchter namens Laura Margareta, Anna-Maria, Cleria und Hieronima hervorgingen.

Die Vorliebe der Eltern für ihren ältesten Sohn wurde gerechtfertigt durch dessen besondere geistige Gaben – im Alter von fünf Jahren begleitete er seine fromme Mutter in die Kirche Sant’Onofrio und konnte danach die Predigt wortgetreu wiederholen. Ob es nur eine mechanische Gedächtnisleistung war oder gar ein erfassendes Verständnis, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, ob nicht bereits seine ersten Lebensjahre zur Legendenbildung verleitet haben.

Mit sieben Jahren trat er ins römische Kolleg der Jesuiten ein, das in unmittelbarer Nähe des Palazzo Colonna lag – hier dürfte der Einfluss seines Onkels Giulio wirksam gewesen sein, dem er auch seinen Vornamen verdankte. Die Jesuiten, die ein theologisch-pädagogisches Offensivprogramm gegen die sich in Europa ausbreitende Glaubenserneuerung von Luther und Calvin entwickelt hatten, offerierten auch Musik und Theater in ihrem weit gefächerten Bildungsprogramm. Den Höhepunkt bildeten für den jungen Mazarin die Festlichkeiten zur Kanonisierung des Ordensgründers Ignatius von Loyola und des Paters Franz Xaver, der für seine Missionsarbeit in Indien zum Heiligen erhoben wurde – sie dauerten drei Tage vom 22. bis zum 24. Mai 1622. Der für die Rolle des Ignatius vorgesehene Schüler fiel aus, Giulio Mazarin übernahm unvorbereitet den zentralen Part und gestaltete aus dem Stegreif die Figur – es wurde ein glanzvoller Auftritt. Die Kunst, in eine andere Identität zu schlüpfen, mittels Kostümen und Kulissen eine Scheinwelt zu errichten und mit musikalischen Finessen in verführerische Emotionen zu verlocken – Mazarin sollte lebenslang von den Maskeraden und Täuschungen des opulenten Barocktheaters fasziniert sein.

In jener Zeit zeigte der Orden eine große Offenheit für die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. So unterstützten die Jesuiten im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts noch Galilei und sein heliozentrisches Weltbild, etwa anlässlich der Veröffentlichung von dessen „Sidereus nuncius“, bevor es 1616 zur Verurteilung des Astronomen durch das Heilige Officium kam und seine Himmelsforschungen auf den Index gesetzt wurden. Ähnlich verlief die Entwicklung in Frankreich, wo der 1596 geborene Descartes auf das von Heinrich IV. initiierte Jesuitenkolleg von La Flèche geschickt wurde, dort zu ersten Kenntnissen von Galileis Kosmossystem gelangte, aber nicht dessen Schicksal der kirchlichen Verurteilung erleiden wollte, weshalb er 1632 seine Schrift „Traité de l’homme“ mit denselben astronomischen Erkenntnissen nicht veröffentlichte und in die calvinistischen Niederlande auswich.

Wie nah der junge Mazarin der gefährlichen Materie des heliozentrischen Weltbildes kam, verrät die These seines Doktorats – ihr Thema war der Komet. Im großen Saal des Jesuitenkollegs brillierte er bei der Verteidigung seiner These, offenbar ohne Anstoß zu erregen. Ob es ihm gelang, die Kometen so durch den Weltraum rasen zu lassen, dass sie die Himmelsschalen des ptolemäischen Systems nicht zertrümmerten, oder ob er wagte, die mechanisch autonomen Gravitätsgesetze des Kopernikus zu verteidigen, ist nicht überliefert. Dabei dürfte seine früh entwickelte geistige Geschmeidigkeit zur Anwendung gekommen sein. Derselben bediente er sich auch, als die Jesuiten des Kollegs, die „von seinem brillanten Geist, seinen vielfältigen Fähigkeiten und seinen eleganten Manieren begeistert“5 waren, mit großem Nachdruck bemüht waren, ihn für ihren Orden zu gewinnen. Diese Versuche erhöhten nur seinen Widerstand – er wollte, wie er es lebenslang tat, sich möglichst alle Optionen offenhalten.

Nach dem glanzvollen Abschluss seiner Schuljahre im Collegium romanum stand ihm die Welt offen, ohne dass er selbst ein bestimmtes Tätigkeitsfeld anstrebte. Das Studium der Rechte, zu dem ihn der Vater zu überreden verstand – es war wohl auch damals oft die Wahl aus einer Verlegenheit, wenn über den konkreten Berufsweg noch nicht entschieden war –, fesselte kaum seine geistigen und vitalen Kräfte. Er schrieb sich in der berühmten Universität „Sapientia“ ein, an der juristische Berühmtheiten wie Cosimo Fideli glänzten, aber nun verlockte ihn die flirrende Vielfalt des sehr weltlichen Lebens. Er stürzte sich in Bälle und den Karneval, stieg zum Gesellschaftslöwen auf und verfiel dem Glücksspiel bis zu jener Spielsucht, die ihn Schmuck und sogar seine kostbar drapierte Kleidung verpfänden ließ. Seine Zukunft war offen und unklar.

Um dem ziellosen Treiben seines Sohnes in der Fülle der römischen Versuchungen ein Ende zu bereiten, sprach der Vater mit seinem Herrn Filippo Colonna. Die beiden fanden eine Lösung, denn der spanische Konnetabel wollte seinen zweitältesten Sohn Girolamo nach Spanien schicken – er sollte an der berühmten Universität Alcalá studieren und am Hof von Madrid die Anfänge der Diplomatie erlernen, was vor allem einschloss, sich am spanischen Hof, an dem sein Vater eine bedeutende Rolle spielte, einführen zu lassen. Die beiden Männer – der junge Colonna war zwei Jahre älter – hatten gemeinsam studiert und waren durch den täglichen Umgang im Palazzo Colonna freundschaftlich miteinander vertraut. So lag es nahe, dass Mazarin nicht als „cameriere“ (Kellner), sondern als „camerata“ (Kamerad) von Girolamo Colonna auf die Reise ging.

Diese Reise nach Spanien führte den zwanzigjährigen Mazarin in das Machtzentrum Spaniens, wo er erste Einblicke in den politischen und diplomatischen Mechanismus dieser Monarchie gewinnen konnte, die im Zusammenspiel mit dem Kaiser in Wien und der Kurie in Rom die „Monarchia universalis“ anstrebte – gemeinsame Basis war der Katholizismus mit seinem universalistischen Glaubensanspruch. Eher beiläufig, denn es soll in nur drei Monaten geschehen sein, erlernte er die Sprache des Landes, die ihm sowohl im späteren diplomatischen Umgang mit dem Gegner Frankreichs von Nutzen sein sollte wie auch den Zugang zum Vertrauen Annas von Österreich erleichterte. Zudem hatte er in Spanien die Gelegenheit, sich erstmals mit Machiavellis Werk „Il principe“ vertraut zu machen, denn dieses Handbuch des religions- und skrupelfreien Gebrauchs der politischen Macht war in Rom von der Inquisition verboten worden. Natürlich versäumte er nicht, seine Leidenschaft für das Theater auszuleben, waren doch die zeitgenössischen Dramatiker Lope de Vega, Tirso de Molina und Alarcón y Mendoza auf den Bühnen von Madrid überaus präsent.

Aber er wurde auch das glückliche Opfer eines Theatercoups, den sein Freund Girolamo listig inszenierte. Neben der Spielleidenschaft, der sich Mazarin ebenfalls in Spanien hingab, erlag er einer Liebesleidenschaft, die seinem Karriereaufstieg vor dessen Beginn ein abruptes Ende bereitet hätte. Seine grenzenlose Zuneigung fiel auf die Tochter eines würdigen Notars namens Nodaro, der den jungen Römer gern zu seinem Schwiegersohn gemacht hätte – er wäre in den staubigen Pandekten der dortigen Kanzlei zu einem der biederen Honoratioren verkümmert. Girolamo, der diese Gefahr erkannt hatte, brachte eine amüsante Doppelstrategie zur Anwendung. Er lobte die Schönheit der Angebeteten in den höchsten Tönen und gab vor, die Verheiratung zu befürworten. Gleichzeitig aber beauftragte er den Verliebten, ein geheimes Dokument von hohem politischem Informationswert persönlich zum Fürsten Colonna nach Rom zu bringen – es sei zugleich eine günstige Gelegenheit, die väterliche Genehmigung für die Eheschließung einzuholen.

Mazarin ging in die Falle, denn das Geheimdokument enthielt nichts anderes als die Aufforderung, den Heiratssüchtigen um jeden Preis an der Rückkehr nach Spanien zu hindern. Es dürfte einer der sehr seltenen Fälle gewesen sein, in dem Mazarin die Rolle des Geprellten spielen und sich fügen musste. Übrigens ist über einen tragischen Liebeskummer seinerseits nichts be kannt. Ein zusätzliches Motiv des Freundes Colonna, Mazarin zur Rückkehr nach Rom zu veranlassen, könnte gewesen sein, dass sich die Situation von dessen Familie inzwischen desaströs gestaltet hatte. Sein Vater wurde, ohne dass heute die näheren Umstände bekannt sind, des Totschlags angeklagt und flüchtete aus Rom. Er dürfte, da sein gesellschaftlicher Aufstieg ausblieb, Enttäuschung bei seiner Frau ausgelöst haben, die aus besseren Verhältnissen stammte und die eigenen Lebensumstände als beengt und demütigend empfand, zumal die Kinderzahl den sozialen Druck erhöhte. Die Ehe zerbrach für einige Jahre. Durch den Einfluss, den zwei Schwäger Buffalini und die Familie Colonna ausübten, ließ sich die Strafverfolgung und Verurteilung Pietro Mazarinis abwenden. Der heimkehrende Sohn war nun gezwungen, bereits in jungen Jahren die Rolle des pater familias zu übernehmen – eine Position, die wohl ebenfalls dazu beitrug, keinesfalls Priester werden zu wollen. Denn er war, nachdem sein Bruder Michele in den Orden der Dominikaner eingetreten war, das einzige männliche Familienmitglied, das die Fortexistenz des Namens Mazarini hätte sichern können.

Über seinem weiteren Lebensweg liegen zumindest drei Jahre Dunkelheit, die sich erst aufhellt, als er 1625 in den Dienst des Papstes trat. Die Tiara trug seit 1623 Urban VIII. aus dem Florentiner Geschlecht der Barberini, dessen Regierungszeit fast bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges andauerte – bis 1644. Er war ein selbstherrlicher Kirchenfürst, der bereits 1623 den endlich fertiggestellten Peters dom einweihte und in Rom fast ein ganzes Stadtviertel zerstörte, um für den klotzigen Barockbau des Palazzo Barberini Platz zu schaffen. Die Römer spotteten und seufzten: „Quod non fecerunt barbari, fecerunt Barberini“ („Was die Barbaren nicht schafften, schafften die Barberini“). Sogar als dichtender Papst fand Urban VIII. Anerkennung wie auch als Förderer der Wissenschaften, was ihn aber 1632 nicht hinderte, Galilei unter Androhung der Folter zum Widerruf des kopernikanischen Weltsystems zu zwingen. Vor allem aber protegierte er seine beiden Neffen Francesco und Antonio bis zur öffentlichen Schamlosigkeit.

Der junge Mazarin gelangte nicht ohne die Unterstützung des einflussreichen Geschlechts der Colonna – schließlich lagen die jeweiligen Palazzi nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt – in die Administration der Kurie. Um seinem Ehrgeiz und seiner politischen Neugier Genüge zu tun, trat er als Hauptmann in das päpstliche Heer ein, das den Frieden im Veltlin sichern sollte.

Der 1626 geschlossene Vertrag von Monzon sah die Neutralisierung des Gebiets der Drei Bünde vor, das nacheinander von den habsburgisch-spanischen und von den französischen Truppen besetzt worden war. Frankreich war bestrebt, den spanischen Truppen den Verbindungsweg über die Alpen nach den Spanischen Niederlanden zu blockieren. Um die militärische Konfrontation zwischen den beiden europäischen Großmächten und damit einen generellen Krieg zwischen ihnen in Norditalien zu verhindern, war die päpstliche Diplomatie um die Neutralität der Region bemüht, was mit dem Vertrag gelang. Die Kurie wurde selbst Garant des Vertrags und musste sich verpflichten, die Neutralität mit eigenen Truppen zu sichern, deren militärische Bedeutung eher symbolischer Natur war.

Vier Jahre später kam es zur geschilderten Schrecksekunde der militärischen Konfrontation vor Casale – sie rückte den jungen Hauptmann des Papstes ins Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit. Doch Papst Urban VIII., den Mazarin während der Krise um Mantua und Casale mit täglichen Berichten über die politisch-diplomatische Entwicklung informiert hatte, verweigerte seinem jungen Diplomaten jede Gunst und jeden weiteren Aufstieg, wohl auch, weil dieser sich trotz wiederholter Aufforderung nicht bereit zeigte, Priester zu werden.

Vertraut mit der Machtbalance zwischen Spanien und Frankreich, die sich, wie er wohl bemerkte, bald zugunsten jenes Landes neigen würde, mit dessen Erstem Minister er im Jahr 1630 dreimal zusammengetroffen war, sah er seine persönliche Zukunft nicht länger in Rom und auch nicht in Madrid. Schließlich hatte schon ein Astrologe aus Parma dem jungen Mazarin im Alter von 24 Jahren die Schicksalsprognose in Gestalt einer Frage gestellt: „Warum er sich so große Mühe mache, den Spaniern zu dienen, anstatt alle seine Vorteile und seine Größe auf der Seite Frankreichs zu erreichen.“6

Jongleur der Macht

Подняться наверх